Israels Protest­be­wegung: Müde und desillusioniert

Foto: Imago

Die israe­lische Protest­be­wegung ist erschöpft, während die Regierung Netanyahu in Windeseile den liberalen Staat zu einem illibe­ralen System umzubauen versucht. Wie kann es weiter­gehen? fragt unser Kolumnist Richard C. Schneider.

Fürs Erste haben sie es geschafft: Die Koali­tionäre rund um Premier Benjamin Netanyahu verab­schie­deten am Donnerstag ein Gesetz, das die Zusam­men­setzung eines Komitees grund­legend ändert. Es ist nicht irgendein Komitee, um das es geht, sondern es ist das Gremium, das Richter auswählt, bestimmt und einsetzt. Mit dem neuen Gesetz wird in diesem grund­sätzlich anders zusam­men­ge­setzten Komitee zukünftig die Politik das Sagen haben, mit anderen Worten: Die Wahl der Richter wird nicht mehr unabhängig sein, die Regierung würde quasi entscheiden, wer Recht sprechen darf. Recht, wie sich die ultra­rechte Koalition Netan­yahus das vorstellt. Damit ist ein Kernstück der Justiz­reform durch­ge­wunken worden, die 2023 begonnen und dann durch den Massen­protest der Israelis und dem Massaker der Hamas am 7. Oktober gestoppt wurde.

Erschöpfung durch Terror, Trauma, Krieg und Kämpfe

In den letzten Tagen hat es massive Proteste gegen das Gesetz gegeben. Zehntau­sende, an einem Tag sogar wieder rund 200 000 Israelis sind auf die Straße gegangen. Doch die Wucht ihres Protestes ist nicht mehr die gleiche wie noch 2023. Nach zwei Jahren sind die Menschen müde, depri­miert. Erst der Kampf gegen ein autori­täres System und für die Demokratie, dann der Schock und das Trauma vom 7. Oktober, dann der fast anderthalb Jahre andau­ernde Krieg in Gaza, im Libanon, mit dem Iran, den Houthis, die Soldaten, die fielen oder schwer verwundet wurden, schließlich die Wirtschaft, die unter der Last des Krieges ächzt, der Waffen­still­stand und die Freude, aber auch der Schock über den Zustand der Geiseln, die zurück­kamen, das Entsetzen, dass die Regierung die Kämpfe wieder aufnahm, obwohl noch immer mindestes 24 lebende Geiseln in den Tunnels der Hamas in Gaza vor sich hinve­ge­tieren – all das und noch viel, viel mehr hat die Israelis mürbe gemacht. Da half es auch nicht, dass die Opposition bei der Abstimmung zum Justiz­ko­mitee-Gesetz aus Protest die Knesset verlassen hatte.

Vorbild Ungarn?

Immer mehr Politiker solida­ri­sieren sich auf der Straße mit den Bürgern, Yair Lapid, Benny Gantz, es sollen noch mehr werden. Nur – was nutzt das alles noch? Ist es nicht so, dass Netanyahu mit seiner stabilen Mehrheit nun alles durch­bringen kann, was er im Land verändern will? Eine Verän­derung nach dem Vorbild Ungarn? Sogar das Budget hat die Koalition diese Woche verab­schiedet. Es sieht unvor­stellbare Summen für die Religi­ons­schulen der Ultra­or­tho­doxen vor, Gelder, die anderswo dringender benötigt werden. Doch das ist nicht von Interesse, Haupt­sache, die Koalition bleibt bestehen.

Und nun? Was nun? Immer mehr Intel­lek­tuelle, Politiker und ehemalige Richter warnen vor einem Bürger­krieg. Gewalt liegt in der Luft. David Amsalem von der Likud-Partei, seit Jahren bekannt für seine aggressive und reaktionäre Rhetorik, forderte am Mittwoch geradezu einen Bürger­krieg heraus, es müsse sein, um die «Linke zu vernichten», wie er es formu­lierte. So weit ist es im Staat des Volkes gekommen, das noch vor rund 80 Jahren beinahe vernichtet worden wäre. Will man sich nun gegen­seitig vernichten? Es wirkt so, auch wenn Netanyahu versi­chert, es werde keinen Bürger­krieg geben.

Inmitten zahlreicher Proteste fehlt es an Zusammenhalt

Die Protest­be­wegung scheint im Augen­blick zahnlos zu sein. Aus mehreren Gründen. 2023 war allen Organi­sa­tionen, die die Demons­tra­tionen vorbe­rei­teten und durch­führten, klar, wogegen sie kämpfen: Gegen die geplante Justiz­reform von Benjamin Netanyahu und seinem Justiz­mi­nister Yariv Levin. Das ist heute anders. Die einen protes­tieren gegen die Wieder­auf­nahme der Justiz­reform, die anderen für die Freilassung der Geiseln, die dritten für eine sofortige Beendigung des Krieges. All das sind keine wider­sprüch­lichen Ziele, sie gehören inhaltlich zusammen, aber da jeder den Fokus auf ein anderes Thema legt, fehlt die Wucht des Gemein­samen. Eine Demo ist vor diesem und jenem Gebäude, eine andere in einer Straße zehn Minuten entfernt und so weiter.

Hinzu kommt: Die Regierung hat sich längst daran gewöhnt. 200 000 Menschen auf der Straße? So what? Wen inter­es­siert das? Das Schlimmste, was diese letzt­endlich braven Israelis machen, sind vielleicht ein paar Reifen anzünden und den Ayalon, die Stadt­au­tobahn von Tel Aviv, besetzen. Nun ja.

Braucht es die Eskalation?

Immer häufiger wird nun öffentlich darüber geredet, dass der Protest „eskalieren“ muss. Nur wie? Was bedeutet Eskalation. Die einen sagen, es muss innerhalb der gesetz­lichen Möglich­keiten bleiben, legal also und friedlich. Es wird über Streiks nachge­dacht, auch über einen General­streik, doch dazu müsste die Gewerk­schaft Histadrut endlich mitmachen. Deren Chef, Arnon Bar-David, ist selbst ein Likud-Mann. Zwar hat er in den letzten Tagen gedroht, dass er nicht zulassen werde, dass diese Regierung die liberale Demokratie des Staates zerstört, aber mehr kam da noch nicht. Die Diskus­sionen zumindest sind schon weiter. Die Rede ist von wochen­langen Streiks, Millionen von Menschen auf der Straße und so weiter. Doch erst muss der Beweis erbracht werden, dass die Protest­be­we­gungen in der Lage sind, solche Initia­tiven überhaupt anzuschieben.

Am 10. April beginnt das jüdische Pessachfest, kurz danach Ostern. Ferienzeit also, während der Zehntau­sende jüdische und christ­liche Touristen ins Land strömen. Es besteht die Möglichkeit, dass ein erster Warnstreik ausge­rufen wird, dass man den inter­na­tio­nalen Flughafen komplett bestreikt. Das wäre in der Tat eine Katastrophe, auch für die gesamte Touris­mus­branche, die seit Kriegs­beginn sowieso in der Krise ist. Nur: Wird das die Regierung umstimmen?

Manche Israelis denken inzwi­schen an disruptive Maßnahmen. Opposi­ti­ons­führer Yair Lapid hat eine Verwei­gerung der Steuer­zah­lungen angeregt, andere wollen Banken lahmlegen und vieles mehr. Sollte zu solchen Methoden gegriffen werden, wäre das für den Staat tatsächlich ein Problem. Die Wahrschein­lichkeit, dass die Polizei hart durch­greifen würde, ist groß. Sie steht unter der Führung des rechts­extremen Natio­nalen Sicher­heits­mi­nisters, Itamar Ben Gvir, und ist in den letzten Monaten gegen fried­liche Demons­tranten immer gewalt­tä­tiger vorgegangen.

Droht nun ein Bürgerkrieg?

Die Gefahr, dass ein Ereignis mögli­cher­weise per Zufall aus dem Ruder laufen könnte, ist groß. Das könnte eine Ketten­re­aktion hervor­rufen, die weder Regierung noch deren Gegner mögli­cher­weise kontrol­lieren könnten. Dann wäre es wirklich so weit, Israel befände sich im Bürger­krieg, der auf Hebräisch: „Bruder­krieg“ heißt. Was sicher zu sein scheint: Die Regierung ist zum Äußersten bereit. Ihr scheint es, wie schon 2023, egal zu sein, dass sie die Gesell­schaft erneut spaltet. Journa­listen, Politiker und andere werfen Netanyahu vor, diese erneute Spaltung würde wieder den Feinden Israels in die Hände spielen.

Die israe­lische Tages­zeitung Haaretz forderte Präsident Isaac Herzog auf, sich zu weigern das Gesetz zur Neuor­ga­ni­sation des Justiz­ko­mitees zu unter­schreiben. Das ist ihm per defini­tionem seines Amtes nicht wirklich möglich, doch die Zeitung führt an, dass andere Präsi­denten, darunter Isaac Herzogs Vater Chaim Herzog, auch schon zu unkon­ven­tio­nellen Maßnahmen gegriffen hatten, wenn sie sahen, dass der Staat kompro­mit­tiert war. Doch kann man sich auf den aktuellen Präsi­denten verlassen? Wohl eher nicht. Ein Mann des ewigen Ausgleichs, ein Mann, der sich noch nie getraut hat, klare Kante zu zeigen, der Konfron­ta­tionen scheut, ein solcher Mann sollte jetzt auf einmal über sich hinauswachsen?

Ausgang offen

Und so wird der Protest entweder irgendwie weiter­gehen, eskalieren, im aller­schreck­lichsten Fall sogar blutig werden. Oder aber einschlafen, weil die Israelis desil­lu­sio­niert sind. Und Netanyahu mögli­cher­weise den längeren Atem hat. Doch wer Israelis kennt, kann sich darauf verlassen, dass sie auch jetzt noch nicht aufgeben werden. Der innen­po­li­tische Zwist geht in seine nächste Runde

 

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.