Joachim Gauck und die Liebe zur Freiheit – Rede zur Auszeichnung mit dem Politi­k­award 2025

Foto: Sebastian Höhn

Joachim Gauck hat wie kaum ein anderer die Freiheits­ge­schichte Deutsch­lands geprägt – als Kirchenmann, Aufklärer der Stasi-Vergan­genheit und Bundes­prä­sident mit Haltung. Ralf Fücks würdigt sein Lebenswerk mit einer persön­lichen und politi­schen Rückschau auf einen „Menschen­fi­scher und Welterklärer, der Orien­tierung in stürmi­scher Zeit gibt.“

t

Ralf Fücks

Laudatio auf den Preis­träger Joachim Gauck

Lieber Jochen,

Dein Lebenswerk zu würdigen – und das in gut 10 Minuten – ist eine Ehre und zugleich eine Heraus­for­derung mit erheb­licher Fallhöhe. Ich beschränke mich notge­drungen auf einige biogra­phische und politische Schlag­lichter. Eine Trigger­warnung vorab: Es wird eher ernst als locker-flockig.

Man kann die Person Gauck und ihre enorme öffent­liche Wirkung wohl nur verstehen, wenn man sie als die Summe der Prägungen liest, die Du vor und nach dem Fall der Mauer erworben hast: Deine Liebe zur Freiheit und die Abneigung gegen autoritäre Beglü­ckungs­systeme, Deine Wertschätzung für den Rechts­staat, Deine feine Antenne für die Bedro­hungen der Demokratie und Deinen Sinn für eine aktive Bürgergesellschaft.

All das sitzt bei Dir tiefer als bei vielen, die allen­falls vom Hören­sagen wissen, was es bedeutet, in einem Unrechts­staat zu leben und wieviel Rückgrat es braucht, sich nicht mit ihm gemein zu machen. Man spricht anders über die Freiheit, wenn man sich aus der Unfreiheit befreit hat.

Schon als Kirchenmann in Rostock hielt Jochen Gauck kriti­schen Abstand zum Regime. Die Stasi hatte ihn im Visier – wie schon den Vater, einen Kapitän zur See, der im Sommer 1951 spurlos verschwand. Die Familie erfuhr erst zwei Jahre später, dass er von einem sowje­ti­schen Militär­ge­richt zu zweimal 25 Jahren Straf­lager wegen „Spionage und antiso­wje­ti­scher Hetze“ verur­teilt worden war. Er kehrte zurück, als Konrad Adenauer bei seinem Moskau-Besuch im Herbst 1955 die Freilassung der verblie­benen deutschen Kriegs­ge­fan­genen erreichte.

Als sich 1989 die histo­rische Chance auf Verän­derung bot, griff Jochen mit beiden Händen zu. Er fasste den Geist dieser Tage in die Worte: „Wir sagen unserer Angst Auf Wieder­sehen“ – man hört den Prediger, der die Dinge in plastische Wortbilder kleiden kann. Eine seltene und kostbare Fähigkeit in der Politik.

Die Freiheit von Furcht – das ist wohl die Quint­essenz der Freiheit. Und zugleich macht Freiheit vielen Angst. Sie ist Glück und Risiko zugleich, Chance auf Selbst­be­stimmung und Last der Verant­wortung für eigene Irrtümer und Fehlent­schei­dungen. Freiheit ist anstrengend, Freiheit braucht Mut. Sie ist Ermäch­tigung und Verpflichtung, sein Leben selbst­ver­ant­wortlich zu gestalten. In Deinen Worten: „Freiheit für Erwachsene heißt Verantwortung.“

Als die verstei­nerten Verhält­nisse des „Realen Sozia­lismus“ ins Tanzen gerieten, war Jochen Gauck mittenmang. Im März 1990 wurde er Mitglied der ersten frei gewählten Volks­kammer. Es folgte die Berufung zum „Sonder­be­auf­tragten für die perso­nen­be­zo­genen Unter­lagen des ehema­ligen Staats­si­cher­heits­diensts der DDR“ – eine Funktion, die er auch nach der Wieder­ver­ei­nigung beibehielt.

Er führte dieses Amt so souverän, dass alle Welt von der „Gauck-Behörde“ sprach. Das Interesse war riesig. Allein in den ersten 100 Tagen Deiner Amtszeit wurden 420.000 Anträge auf persön­liche Akten­ein­sicht gestellt. Die Offen­legung der Stasi-Akten eröffnete die Chance, über die eigene Biografie hinaus die Mecha­nismen der SED-Diktatur aufzuarbeiten.

Der Mythos der antifa­schis­ti­schen Republik verdeckte, dass auch im Osten ein großer Teil der Aufbau­ge­neration in das NS-Regime verstrickt war. Die DDR präsen­tierte sich als Gegen­modell und baute doch auf der autori­tären Grund­struktur auf. Die auf halbem Weg steck­ge­bliebene Aufar­beitung dieser doppelten Dikta­tur­ge­schichte ist der Boden, auf dem die neue DDR-Nostalgie ebenso blühen kann wie die Wiederkehr völkisch-natio­na­lis­ti­scher Tendenzen. Sie finden sich beileibe nicht nur in Ostdeutschland, aber dort noch ungehemmter als im Westen.

Als Jochen Gauck die Stasi-Unter­la­gen­be­hörde verließ, war er eine feste Größe in der deutschen Öffent­lichkeit, sprach­mächtig und meinungs­freudig. Er lernte schnell auf der Klaviatur der Demokratie zu spielen, bewahrte seine politische Unabhän­gigkeit und war doch anschluss­fähig an alle demokra­ti­schen Parteien.

So war es keine Überra­schung, dass SPD und Grüne Dich nach dem Rücktritt Horst Köhlers als Kandidat für das Amt des Bundes­prä­si­denten aufs Schild hoben. Überra­schend war eher, dass die Union einen Gegen­kan­di­daten aufstellte. Als dann auch Christian Wulff seinen vorzei­tigen Rücktritt einreichte, führte kein Weg mehr an Dir vorbei. Am 18. März 2012 wurdest Du mit großer Mehrheit gewählt. Die Republik hatte ihren ersten Präsi­denten ostdeut­scher Herkunft – mehr noch: ihr erstes wahrhaft gesamt­deut­sches Staatsoberhaupt.

Lieber Jochen, Du hast die Spiel­räume für politische Inter­ven­tionen, die das Amt des Präsi­denten lässt, bis zum Rand genutzt. Das löste nicht immer ungeteilte Freude aus. Ich will zwei Beispiele hervor­heben, die Deinen Mut zu unbequemen Wahrheiten illustrieren.

Das erste steht für Deinen geschärften Sinn für die Bedrohung der Freiheit durch autoritäre Mächte. Im August 2014 reagierte Gauck mit deutlichen Worten auf die militä­rische Inter­vention Russlands in der Ukraine und die Annexion der Krim: „Der Wider­stand Russlands gegen eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union hat uns mit Denkmustern konfron­tiert, die wir für längst überwunden hielten. Was wir heute erleben, ist altes Denken in Macht- und Einfluss­sphären – bis hin zur Desta­bi­li­sierung fremder Staaten und zur Annexion fremder Terri­torien.

In seiner Rede zum Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen am 1. September legte er nach: Russland habe die Partner­schaft mit dem Westen faktisch aufge­kündigt. Und er fügte hinzu: „Die Geschichte lehrt uns, dass terri­to­riale Zugeständ­nisse den Appetit von Aggres­soren oft nur vergrößern.“ Wie wahr, und wie aktuell!

Schon bei der Eröffnung der Münchner Sicher­heits­kon­ferenz am 31. Januar 2014 forderte Jochen Gauck nichts weniger als eine Neuaus­richtung der deutschen Außen- und Sicher­heits­po­litik. Wir müssten „bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die uns über Jahrzehnte von anderen gewährt wurde“. Das war im Kern eine vorweg­ge­nommene Zeiten­wende-Rede. Sie wurde viel disku­tiert, aber es brauchte erst den großen Knall vom Februar 2022, bis sie endlich in unserer Politik ankam. Man möchte es zumindest hoffen. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, das wir in unsere Sicherheit inves­tieren. Es geht um einen tiefgrei­fenden Mentalitätswandel.

Noch 2015, ein Jahr nach dem ersten russi­schen Überfall auf die Ukraine, wurden die Nordstream 2‑Verträge unter­schrieben. Es galt weiterhin das Mantra, dass es Sicherheit in Europa nur mit – nicht gegen – Russland geben könne. Die Bewaffnung der Ukraine war tabu. Der Vertei­di­gungsetat wurde auf Sparflamme gefahren, als herrsche bereits ewiger Frieden. Gleich­zeitig haben wir die russische Aufrüstung in erheb­lichem Maße mitfi­nan­ziert. Wenn einst die Geschichte der russi­schen Aggression gegen die Ukraine geschrieben wird, wird die sicher­heits­po­li­tische Reali­täts­flucht Deutsch­lands ein eigenes Kapitel bilden. Wir haben etwas gutzu­machen – nicht nur gegenüber der Ukraine. In diesem Krieg geht es um unsere Sicherheit und um die Zukunft Europas.

Das zweite Beispiel fällt in die Zeit der großen Flucht, die seit dem Sommer 2015 mehr als eine Million Menschen nach Deutschland führte. Es waren Tage einer fast märchen­haften „Willkom­mens­kultur“ in Deutschland. Das Land schien über sich hinaus­zu­wachsen. Wer über den Tag hinaus­blickte, konnte aller­dings die Probleme nicht übersehen, die mit der Aufnahme von so vielen Menschen mit so unter­schied­licher kultu­reller, politi­scher und religiöser Prägung in so kurzer Zeit einher­gehen. Schon bald zeichnete sich eine scharfe Polari­sierung entlang der Flücht­lings­frage ab.

In dieser Situation ergriff der Bundes­prä­sident im September 2015 das Wort. Er dankte zunächst den vielen freiwil­ligen Helfe­rinnen und Helfern. Dann kamen die Sätze, die an den Nerv gingen: „Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglich­keiten sind endlich.“ Um die die Fähigkeit zur Aufnahme von Flücht­lingen zu bewahren, müssten „Staaten und ein Staaten­verbund wie die Europäische Union ihre äußeren Grenzen schützen.“

Auch in dieser Lage erwies sich Jochen Gauck als der humanis­tische Realist, der er ist. Statt bloßer morali­scher Appelle forderte er politi­sches Handeln, das Mitgefühl und politische Ratio zur Deckung bringt. Wer das humanitäre Flücht­lings­recht vertei­digen will, darf es nicht gegen Steuerung und Kontrolle ausspielen. Und wer die Einwan­de­rungs­ge­sell­schaft bewahren will, muss auch die für alle verbind­lichen Regeln und Normen unseres Zusam­men­lebens vertei­digen. Dazu gehört auch das Recht von Mädchen auf Fußball und alles andere, was bisher eine Männer­domäne war.

Neben allem anderen ist Jochen Gauck auch ein produk­tiver Autor. Sein jüngstes Buch reflek­tiert die Erschüt­te­rungen, denen die liberale Ordnung ausge­setzt ist. Er wirft die Frage auf: „Wäre unsere Gesell­schaft bereit, die liberale Demokratie mit Entschlos­senheit zu vertei­digen?“. Die Zweifel kommen nicht ungefähr. Wir haben uns allzu lang in der Sicherheit gewiegt, dass die Freiheit gesichert ist, ohne dass wir viel dafür tun müssen. Heute stellt sich die Vertei­digung der offenen Gesell­schaft nach innen und außen wieder in voller Schärfe. Wir haben einen Anspruch, gut regiert zu werden, aber die Vertei­digung der liberalen Demokratie können wir nicht an die Politik delegieren – hier sind wir alle gefordert.

Lieber Jochen, welch ein bewegtes Leben! Du bist mit Deinen 85 Jahren immer noch ein Freigeist, ein Menschen­fi­scher und Welterklärer, der Orien­tierung in stürmi­scher Zeit gibt. Und Du hast gezeigt, dass eine Politik der demokra­ti­schen Mitte weder klein­mütig noch langweilig sein muss. Danke dafür – und herzliche Gratu­lation zur heutigen Auszeichnung!

 

Die Rede wurde zuerst bei Politik & Kommu­ni­kation veröfentlicht.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.