Joachim Gauck und die Liebe zur Freiheit – Rede zur Auszeichnung mit dem Politikaward 2025

Joachim Gauck hat wie kaum ein anderer die Freiheitsgeschichte Deutschlands geprägt – als Kirchenmann, Aufklärer der Stasi-Vergangenheit und Bundespräsident mit Haltung. Ralf Fücks würdigt sein Lebenswerk mit einer persönlichen und politischen Rückschau auf einen „Menschenfischer und Welterklärer, der Orientierung in stürmischer Zeit gibt.“
t
Ralf Fücks
Laudatio auf den Preisträger Joachim Gauck
Lieber Jochen,
Dein Lebenswerk zu würdigen – und das in gut 10 Minuten – ist eine Ehre und zugleich eine Herausforderung mit erheblicher Fallhöhe. Ich beschränke mich notgedrungen auf einige biographische und politische Schlaglichter. Eine Triggerwarnung vorab: Es wird eher ernst als locker-flockig.
Man kann die Person Gauck und ihre enorme öffentliche Wirkung wohl nur verstehen, wenn man sie als die Summe der Prägungen liest, die Du vor und nach dem Fall der Mauer erworben hast: Deine Liebe zur Freiheit und die Abneigung gegen autoritäre Beglückungssysteme, Deine Wertschätzung für den Rechtsstaat, Deine feine Antenne für die Bedrohungen der Demokratie und Deinen Sinn für eine aktive Bürgergesellschaft.
All das sitzt bei Dir tiefer als bei vielen, die allenfalls vom Hörensagen wissen, was es bedeutet, in einem Unrechtsstaat zu leben und wieviel Rückgrat es braucht, sich nicht mit ihm gemein zu machen. Man spricht anders über die Freiheit, wenn man sich aus der Unfreiheit befreit hat.
Schon als Kirchenmann in Rostock hielt Jochen Gauck kritischen Abstand zum Regime. Die Stasi hatte ihn im Visier – wie schon den Vater, einen Kapitän zur See, der im Sommer 1951 spurlos verschwand. Die Familie erfuhr erst zwei Jahre später, dass er von einem sowjetischen Militärgericht zu zweimal 25 Jahren Straflager wegen „Spionage und antisowjetischer Hetze“ verurteilt worden war. Er kehrte zurück, als Konrad Adenauer bei seinem Moskau-Besuch im Herbst 1955 die Freilassung der verbliebenen deutschen Kriegsgefangenen erreichte.
Als sich 1989 die historische Chance auf Veränderung bot, griff Jochen mit beiden Händen zu. Er fasste den Geist dieser Tage in die Worte: „Wir sagen unserer Angst Auf Wiedersehen“ – man hört den Prediger, der die Dinge in plastische Wortbilder kleiden kann. Eine seltene und kostbare Fähigkeit in der Politik.
Die Freiheit von Furcht – das ist wohl die Quintessenz der Freiheit. Und zugleich macht Freiheit vielen Angst. Sie ist Glück und Risiko zugleich, Chance auf Selbstbestimmung und Last der Verantwortung für eigene Irrtümer und Fehlentscheidungen. Freiheit ist anstrengend, Freiheit braucht Mut. Sie ist Ermächtigung und Verpflichtung, sein Leben selbstverantwortlich zu gestalten. In Deinen Worten: „Freiheit für Erwachsene heißt Verantwortung.“
Als die versteinerten Verhältnisse des „Realen Sozialismus“ ins Tanzen gerieten, war Jochen Gauck mittenmang. Im März 1990 wurde er Mitglied der ersten frei gewählten Volkskammer. Es folgte die Berufung zum „Sonderbeauftragten für die personenbezogenen Unterlagen des ehemaligen Staatssicherheitsdiensts der DDR“ – eine Funktion, die er auch nach der Wiedervereinigung beibehielt.
Er führte dieses Amt so souverän, dass alle Welt von der „Gauck-Behörde“ sprach. Das Interesse war riesig. Allein in den ersten 100 Tagen Deiner Amtszeit wurden 420.000 Anträge auf persönliche Akteneinsicht gestellt. Die Offenlegung der Stasi-Akten eröffnete die Chance, über die eigene Biografie hinaus die Mechanismen der SED-Diktatur aufzuarbeiten.
Der Mythos der antifaschistischen Republik verdeckte, dass auch im Osten ein großer Teil der Aufbaugeneration in das NS-Regime verstrickt war. Die DDR präsentierte sich als Gegenmodell und baute doch auf der autoritären Grundstruktur auf. Die auf halbem Weg steckgebliebene Aufarbeitung dieser doppelten Diktaturgeschichte ist der Boden, auf dem die neue DDR-Nostalgie ebenso blühen kann wie die Wiederkehr völkisch-nationalistischer Tendenzen. Sie finden sich beileibe nicht nur in Ostdeutschland, aber dort noch ungehemmter als im Westen.
Als Jochen Gauck die Stasi-Unterlagenbehörde verließ, war er eine feste Größe in der deutschen Öffentlichkeit, sprachmächtig und meinungsfreudig. Er lernte schnell auf der Klaviatur der Demokratie zu spielen, bewahrte seine politische Unabhängigkeit und war doch anschlussfähig an alle demokratischen Parteien.
So war es keine Überraschung, dass SPD und Grüne Dich nach dem Rücktritt Horst Köhlers als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten aufs Schild hoben. Überraschend war eher, dass die Union einen Gegenkandidaten aufstellte. Als dann auch Christian Wulff seinen vorzeitigen Rücktritt einreichte, führte kein Weg mehr an Dir vorbei. Am 18. März 2012 wurdest Du mit großer Mehrheit gewählt. Die Republik hatte ihren ersten Präsidenten ostdeutscher Herkunft – mehr noch: ihr erstes wahrhaft gesamtdeutsches Staatsoberhaupt.
Lieber Jochen, Du hast die Spielräume für politische Interventionen, die das Amt des Präsidenten lässt, bis zum Rand genutzt. Das löste nicht immer ungeteilte Freude aus. Ich will zwei Beispiele hervorheben, die Deinen Mut zu unbequemen Wahrheiten illustrieren.
Das erste steht für Deinen geschärften Sinn für die Bedrohung der Freiheit durch autoritäre Mächte. Im August 2014 reagierte Gauck mit deutlichen Worten auf die militärische Intervention Russlands in der Ukraine und die Annexion der Krim: „Der Widerstand Russlands gegen eine Annäherung der Ukraine an die Europäische Union hat uns mit Denkmustern konfrontiert, die wir für längst überwunden hielten. Was wir heute erleben, ist altes Denken in Macht- und Einflusssphären – bis hin zur Destabilisierung fremder Staaten und zur Annexion fremder Territorien.“
In seiner Rede zum Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen am 1. September legte er nach: Russland habe die Partnerschaft mit dem Westen faktisch aufgekündigt. Und er fügte hinzu: „Die Geschichte lehrt uns, dass territoriale Zugeständnisse den Appetit von Aggressoren oft nur vergrößern.“ Wie wahr, und wie aktuell!
Schon bei der Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz am 31. Januar 2014 forderte Jochen Gauck nichts weniger als eine Neuausrichtung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Wir müssten „bereit sein, mehr zu tun für jene Sicherheit, die uns über Jahrzehnte von anderen gewährt wurde“. Das war im Kern eine vorweggenommene Zeitenwende-Rede. Sie wurde viel diskutiert, aber es brauchte erst den großen Knall vom Februar 2022, bis sie endlich in unserer Politik ankam. Man möchte es zumindest hoffen. Das ist nicht nur eine Frage des Geldes, das wir in unsere Sicherheit investieren. Es geht um einen tiefgreifenden Mentalitätswandel.
Noch 2015, ein Jahr nach dem ersten russischen Überfall auf die Ukraine, wurden die Nordstream 2‑Verträge unterschrieben. Es galt weiterhin das Mantra, dass es Sicherheit in Europa nur mit – nicht gegen – Russland geben könne. Die Bewaffnung der Ukraine war tabu. Der Verteidigungsetat wurde auf Sparflamme gefahren, als herrsche bereits ewiger Frieden. Gleichzeitig haben wir die russische Aufrüstung in erheblichem Maße mitfinanziert. Wenn einst die Geschichte der russischen Aggression gegen die Ukraine geschrieben wird, wird die sicherheitspolitische Realitätsflucht Deutschlands ein eigenes Kapitel bilden. Wir haben etwas gutzumachen – nicht nur gegenüber der Ukraine. In diesem Krieg geht es um unsere Sicherheit und um die Zukunft Europas.
Das zweite Beispiel fällt in die Zeit der großen Flucht, die seit dem Sommer 2015 mehr als eine Million Menschen nach Deutschland führte. Es waren Tage einer fast märchenhaften „Willkommenskultur“ in Deutschland. Das Land schien über sich hinauszuwachsen. Wer über den Tag hinausblickte, konnte allerdings die Probleme nicht übersehen, die mit der Aufnahme von so vielen Menschen mit so unterschiedlicher kultureller, politischer und religiöser Prägung in so kurzer Zeit einhergehen. Schon bald zeichnete sich eine scharfe Polarisierung entlang der Flüchtlingsfrage ab.
In dieser Situation ergriff der Bundespräsident im September 2015 das Wort. Er dankte zunächst den vielen freiwilligen Helferinnen und Helfern. Dann kamen die Sätze, die an den Nerv gingen: „Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit. Doch unsere Möglichkeiten sind endlich.“ Um die die Fähigkeit zur Aufnahme von Flüchtlingen zu bewahren, müssten „Staaten und ein Staatenverbund wie die Europäische Union ihre äußeren Grenzen schützen.“
Auch in dieser Lage erwies sich Jochen Gauck als der humanistische Realist, der er ist. Statt bloßer moralischer Appelle forderte er politisches Handeln, das Mitgefühl und politische Ratio zur Deckung bringt. Wer das humanitäre Flüchtlingsrecht verteidigen will, darf es nicht gegen Steuerung und Kontrolle ausspielen. Und wer die Einwanderungsgesellschaft bewahren will, muss auch die für alle verbindlichen Regeln und Normen unseres Zusammenlebens verteidigen. Dazu gehört auch das Recht von Mädchen auf Fußball und alles andere, was bisher eine Männerdomäne war.
Neben allem anderen ist Jochen Gauck auch ein produktiver Autor. Sein jüngstes Buch reflektiert die Erschütterungen, denen die liberale Ordnung ausgesetzt ist. Er wirft die Frage auf: „Wäre unsere Gesellschaft bereit, die liberale Demokratie mit Entschlossenheit zu verteidigen?“. Die Zweifel kommen nicht ungefähr. Wir haben uns allzu lang in der Sicherheit gewiegt, dass die Freiheit gesichert ist, ohne dass wir viel dafür tun müssen. Heute stellt sich die Verteidigung der offenen Gesellschaft nach innen und außen wieder in voller Schärfe. Wir haben einen Anspruch, gut regiert zu werden, aber die Verteidigung der liberalen Demokratie können wir nicht an die Politik delegieren – hier sind wir alle gefordert.
Lieber Jochen, welch ein bewegtes Leben! Du bist mit Deinen 85 Jahren immer noch ein Freigeist, ein Menschenfischer und Welterklärer, der Orientierung in stürmischer Zeit gibt. Und Du hast gezeigt, dass eine Politik der demokratischen Mitte weder kleinmütig noch langweilig sein muss. Danke dafür – und herzliche Gratulation zur heutigen Auszeichnung!
Die Rede wurde zuerst bei Politik & Kommunikation veröfentlicht.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.
