Europa muss sich den neuen Realitäten im Nahen Osten stellen
Die politische Lage im Nahen Osten ist in Bewegung. Die jüngsten Friedensabkommen Israels mit arabischen Staaten sind Ausdruck einer strategischen Umgruppierung. Die neue Konfliktachse verläuft gegenüber dem Iran und seinen expansiven Ambitionen. Die EU wurde von der Entwicklung überrollt. Sie muss ihre Nahost-Politik dringend neu ausrichten. Wir brauchen einen Dialog über kreative und realistische Konzepte für eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts. Die althergebrachten Vorstellungen einer 2‑Staaten-Lösung sind überholt.
Der erste historische Flug von Tel Aviv nach Abu Dhabi fand bereits Ende August statt. Er überflog erstmals auch saudi-arabisches Gebiet – mit Genehmigung der Saudis. An Bord war eine Delegation aus israelischen und amerikanischen Diplomaten und Journalisten. Im diplomatischen Gepäck Kooperationsvereinbarungen über Wirtschaft, Tourismus und den Flugverkehr. Weitere über Sicherheitskooperation und andere Themen sollen folgen.
Mit dem Abkommen zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), sowie nun auch Bahrein ist ein diplomatischer Coup gelungen, der eines endgültig klar macht: die politischen Verhältnisse im Nahen Osten sind dabei sich grundlegend zu verschieben. Galt es seit Oslo als unverrückbares Paradigma, dass der israelisch-palästinensische „Kernkonflikt“ zunächst zu lösen sei, bevor an eine Normalisierung der Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten zu denken sei, so wurde dieses Paradigma nun kurzerhand vom Kopf auf die Füße gestellt. Und es scheinen diejenigen recht zu behalten, die, wie Netanjahu, schon seit Jahrzehnten verkünden, es ginge auch andersherum. Scharen von Diplomaten in Brüssel, Berlin, London und Paris müssen sich die Haare gerauft haben angesichts der rasanten Entwicklungen. Hatte man doch seit Oslo verzweifelt versucht, für Kompromisse seitens der Israelis im Gegenzug ein solches Statement von den arabischen Staaten zu bekommen. Auch die saudi-arabische Friedensinitiative von 2002 hatte postuliert: Normalisierung nur gegen einen palästinensischen Staat. Und nun bekommt Netanjahu eine solche Zusage durch die VAE – und inzwischen auch von Bahrain – quasi für Nichts. Man habe damit die Annexionsabsichten Netanjahus erfolgreich gestoppt, verkündet die Sprecherin des Außenministeriums der VAE. Von einem Ende der Besatzung keine Rede. Ein billiger Preis für Israels Rechte. Denn man stand mit dem Annexionsvorhaben von vielen Seiten in der Kritik: angefangen vom Koalitionspartner, die Siedler, erst recht international. Offensichtlich gab es auch kein grünes Licht seitens der Trump-Regierung.
Nun wollen weitere Staaten folgen, wie etwa Oman und der Sudan. Selbst Saudi-Arabien, der mächtigste Staat des sunnitischen Lagers signalisiert Unterstützung für diesen Weg. Offiziell hält man zwar noch an der alten Formel fest, tatsächlich hat man aber bereits die generellen Überflugrechte für zukünftige Flüge zwischen der VAE und Israel erteilt – ein klares Signal in Richtung Normalisierung.
Ein Strategisches Bündnis gegen den Iran
Schon bei der Präsentation des sogenannten Trump-Plans im Frühjahr zeichnete sich diese neue Interessenlage der wichtigsten Staaten der Golf-Region ab. Nicht nur, dass Saudi-Arabien als einziger Staat den Plan vorher kannte. Bahrain, Oman und die VAE nahmen sogar an der Präsentation im Weißen Haus teil. Schon da hätte man bei der EU erkennen können, dass es bei dem viel gescholtenen Trump-Plan nicht nur um die Präsentation einer möglichen Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts ging, sondern darum, ein großes strategisches Bündnis gegen den Iran mit den sunnitisch-arabischen Ländern der Region und Israel zu schmieden.
Normalisierung ohne die Palästinenser
Die Prioritäten dieser Länder hatten sich bereits in den letzten Jahren durch die Entwicklungen im Nahen Osten zunehmend verändert – der sunnitisch-schiitische Konflikt prägt seit dem Irak-Krieg die Beziehungen der Region. Seitdem das schiitische Regime in Teheran seine Hegemonie im Nahen Osten ausbaut, etwa in Syrien, im Libanon, im Jemen, und das Nuklearprogramm der Mullahs anscheinend nicht aufzuhalten ist, wollen die sunnitisch-arabischen Staaten Gegenbündnisse schmieden. Mit Trump, einem erklärten Gegner des Iran-Deals, hatte man da nun wieder einen Bündnis-Partner im Weißen Haus. Und auch mit Israel hat man an der Stelle die gleichen Interessen. Abgesehen davon, dass man hofft, von engeren Beziehungen mit Israel auch ökonomisch profitieren zu können. In dieser Interessenlage ist der nicht enden wollende israelisch-palästinensische Konflikt für die arabischen Staaten zur Last geworden. Es zeichnet sich stattdessen eine Normalisierung der Beziehungen ab, die mehr oder weniger an den Palästinensern vorbeigeht. Kein Wunder, dass diese das Abkommen scharf ablehnen und von einem „Verrat an der palästinensischen Sache“ sprechen.
Die EU ist nur noch Zaungast
Aber nicht nur für die Palästinenser kam das Abkommen überraschend. Auch die Europäische Union scheint bei diesen Entwicklungen offenbar nur Zaungast. Sehr verhalten fällt daher auch ihre Reaktion auf den Coup aus, der als ein Meisterstück der Diplomatie bezeichnet werden muss – Trump hin oder her. Die EU mahnt, dass nun Israel wieder an den Verhandlungstisch mit den Palästinensern zurückkehren müsse. Warum, fragt man sich, sollte Israel dies in einer solch komfortablen Situation tun? Es wird deutlich, dass die regionalen Verschiebungen nicht nur eine Tragödie für die Palästinenser sind, sondern, dass auch die EU mit ihrem diplomatischen „Latein“ am Ende zu sein scheint: Sie wirkt macht- und wirkungslos, weil sie schon seit längerem kein Player mehr in der Region ist. Fast scheint es, als ob die EU einer der wenigen verbliebenen Partner der Palästinenser ist, der noch an Oslo und der 2‑Staaten-Lösung festhält. Allerdings wirken ihre Bekenntnisse zur 2‑Staaten Lösung mit jedem Mal farbloser. Es ist also nicht nur für die Palästinenser, sondern auch für die EU, höchste Zeit sich den Realitäten vor Ort zu stellen.
Denn so wie die 2- Staaten-Regelung in Oslo anvisiert wurde, wird sie nicht mehr kommen. Das Konzept ist vorerst tot – die wichtigsten politischen Bedingungen für seine Durchsetzung sind nicht mehr gegeben. Die arabischen Staaten haben inzwischen andere Prioritäten. Die USA fallen als ehrlicher Vermittler aus und die wichtigsten Akteure vor Ort, allen voran Israel, richten sich im Status-Quo ein.
Die EU scheint in dieser Lage wie das Kaninchen auf die Schlange darauf zu warten, dass Joe Biden der nächste Präsident wird, und zu hoffen, dass dann gegebenenfalls Verhandlungen über die 2‑Staaten-Regelung wiederbelebt werden. Dabei vergisst man die Macht des Faktischen. Auch wenn der sogenannte Trump-Plan im Hinblick auf seine „realistische 2‑Staaten Regelung“ für die Palästinenser und die EU nicht akzeptabel war, weil er die Realität des durch den Siedlungsbau entstandenen Flickenteppichs festschreiben und weitere Annexionen zulassen wollte, so werden das künftige israelische Regierung mit Sicherheit nicht anders sehen. Warum sollte man von solch weitgehenden Konzessionen wieder abrücken? Wahrscheinlicher ist, dass man in Israel die Vorschläge des Trump-Plans zum Ausgangspunkt für künftige Verhandlungen machen will.
Dialog über politische Alternativen zur 2‑Staaten-Lösung
Die EU muss vor diesem Hintergrund endlich anfangen, sich strategisch neu aufzustellen. Auch wenn die EU die sogenannte „realistische 2‑Staaten-Lösung“ der Trump-Regierung ablehnt, so sollte sie sich generell für einen Dialog über politische Alternativen und Modifikationen offen zeigen. Denn schon lange arbeiten Akteure auf beiden Seiten der Zivilgesellschaft an neuen Wegen und Modellen, wie die einer Konföderation oder Föderation. Beide Modelle eint, dass sie die jüdische Mehrheit Israels nicht in Frage stellen, aber den veränderten Realitäten „on the ground“ Rechnung tragen. Eine komplette Ein-Staaten-Lösung, wie es sie auch auf dem linken Spektrum gibt und nicht nur bei den Siedlern, die von vollständiger Annexion des Westjordanlandes träumen, würde über kurz oder lang zum Verlust der jüdischen Mehrheit führen, was eine Mehrheit in Israel nach wie vor entschieden ablehnt, weil sie die unter hohen Opfern errungene jüdische politische Souveränität nicht preisgeben will.
Ökonomische Kooperation
Wenn nun die sunnitisch-arabische Welt immer mehr zu weitreichenden ökonomischen Vereinbarungen und Kooperationen, sprich zu einer Art „ökonomischen Frieden“ bereit ist, dann sollten die Palästinenser nicht außen vor bleiben. Die EU könnte hier gemeinsam mit den Palästinensern eine Strategie entwickeln, wie auch diese an der ökonomischen Öffnung teilhaben und davon profitieren könnten. Immerhin hatte auch die US-Regierung weitreichende ökonomische Zusagen in Höhe von 50 Mrd. Dollar an die Palästinenser für die nächsten zehn Jahre im zweiten sogenannten „Ökonomischen Teil“ von Trumps Plan gemacht. Warum also nicht versuchen, „Part of the Game“ zu werden, was nicht heißen muss, die politischen Ziele aus den Augen zu lassen? Weitreichende ökonomische Verbesserungen könnten in der aktuellen Dynamik ein erster Schritt sein und gegebenenfalls sogar neue politische Optionen für die Palästinenser eröffnen.
Bisher hat die palästinensische Führung diesen Weg immer abgelehnt, weil sie ihre politischen Forderungen nicht „verkaufen“ wollte. Aber das geschah unter völlig anderen politischen Rahmenbedingungen. Wenn sie jetzt nicht weiter am Katzentisch sitzen und zuschauen will, wie die arabischen Staaten einer nach dem anderen eine Normalisierung der Beziehungen mit Israel angehen, sollte sie ihre Strategie ändern. Es ist auch gegenüber der eigenen Bevölkerung irgendwann nicht mehr vertretbar, wenn sich mit Verweis auf eine umfangreiche politische Lösung die humanitäre und ökonomische Situation der Palästinenser täglich verschlechtert. Die EU, die eigentlich über gute Beziehungen zu den sunnitischen Staaten verfügt, könnte sich ihrerseits dafür stark machen, dass nicht nur Israel, sondern auch die Palästinenser Teil einer ökonomischen Kooperation in der Region werden. Zur Zeit stehen die Palästinenser mit dem Rücken zur Wand. Eine wachsende Gewaltbereitschaft könnte die Folge sein.
Die Abkommen zwischen Israel und der VAE und Bahrain sind das Ergebnis jahrelanger intensiver diplomatischer Bemühungen – von allen Seiten, einschließlich der amerikanischen. Sie zeigen: Diplomatie, gut gemacht, kann politisch viel verändern. Dies war bisher eigentlich immer eine Stärke der EU. Nur im Nahen Osten scheint sie diese Stärke verloren zu haben. Sie sollte sich wieder darauf besinnen, wenn sie in der Region eine Rolle spielen will.
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