Wohin steuert Georgien?
Auch nach den kommunalen Stichwahlen dauert die politische Krise in Georgien an. Das knappe Wahlergebnis verschärft die Polarisierung zwischen der Anhängerschaft der Regierungspartei Georgischer Traum und der Oppositionspartei des inhaftierten ehemaligen Präsidenten Micheïl Saakaschwili.
Die aktuelle politische Lage im einstigen Vorreiterland hinsichtlich Rechtsstaatlichkeit und Demokratie innerhalb der europäischen östlichen Nachbarschaft ist besorgniserregend. Seit mindestens zwei Jahren herrscht in Georgien eine permanente politische Krise, deren Ende insbesondere nach den Stichwahlen auf lokaler Ebene am 30. Oktober 2021 nicht absehbar ist.
Einer der Gründe für die Misere ist eine extrem polarisierte Gesellschaft. Unversöhnlich stehen sich die Anhänger der Regierungspartei Georgischer Traum (GT) und der größten oppositionellen Partei – der Vereinten Nationalen Bewegung (VNB) – gegenüber. Der inhaftierte ehemalige Präsident und VNB-Gründer Micheïl Saakaschwili hat sich in einen Hungerstreik begeben, um ein faires Gerichtsverfahren zu erlangen. Dessen prowestlicher, mithin europäischer Kurs wird von der aktuellen politischen Führung infrage gestellt. Bilder von massiven Protesten auf der Straße auch während der Pandemie sind Ausdruck einer allgemein empfundenen Perspektivlosigkeit. Wohin steuert Georgien?
Historische Kommunalwahlen
Nach den umstrittenen Parlamentswahlen im Oktober 2020 haben die historischen kommunalen Stichwahlen am 30. Oktober 2021 bei vielen Menschen die Hoffnung geweckt, dass die Zeit einer Einparteienregierung an ihr Ende gekommen ist. Auf der Kippe standen 15 Gemeinden sowie fünf selbst verwaltete große Städte, darunter auch die Hauptstadt Tbilisi. Nach offiziellen Angaben der Zentralen Wahlkommission (ZWK) hat der GT in allen Gemeinden gewonnen, mit Ausnahme von Zalendschicha im Westen Georgiens. Die Oppositionskoalition hat die Wahlen nicht anerkannt, fordert Neuwahlen und versucht durch andauernde Straßenproteste, die Regierung unter Druck zu setzen.
Es ist leider eine traurige Tatsache, dass fast alle Wahlen bis heute mit maximaler Ausnutzung der administrativen Ressourcen stattgefunden haben, sprich durch Drohung der Entlassung aus politischen Gründen oder durch Einschüchterung und Bestechung von im öffentlichem Dienst tätigen Personen. Dazu gehören auch die Schaffung von günstigen Rahmenbedingungen für die regierende Partei in den Wahlkommissionen, Provokationen in den Wahllokalen und Unregelmäßigkeiten in den Wahlprotokollen. Angesichts des geringen Vorsprungs in einigen Gemeinden könnten diese Unregelmäßigkeiten auch das Ergebnis am 30. Oktober beeinflusst haben. Auch die internationale Wahlbeobachtermission stellte einen nicht unerheblichen Druck auf die Wähler*innen sowie ein starkes Ungleichgewicht bei den Ressourcen fest, das der regierenden Partei zugutekam, wie EU-Botschafter Carl Hartzell in seinem Statement berichtet. Dazu kommt die Instrumentalisierung der Justiz und das Misstrauen gegenüber den Gerichten seitens der Bevölkerung.
Trotz der knappen Niederlage der Oppositionskoalition stehen die Zeichen langfristig auf Veränderung. Es ist eindeutig, dass die Partei des Oligarchen Bidsina Iwanischwili ihre besten Zeiten hinter sich hat und nur noch als Machtstaffage dient. Wenn die Opposition hier politische Reife zeigt, pragmatisch handelt und eine glaubwürdige Strategie vorlegt und es ihr ferner gelingt, die Polarisierung der Gesellschaft zu mildern, ist nicht auszuschließen, dass vorgezogene Parlamentswahlen stattfinden.
Enttäuschte westliche Partner
Eine Reihe jüngerer Ereignisse in den EU-Georgien-Beziehungen legen nahe, dass die EU vom einstigen Musterschüler enttäuscht ist. Die westlichen Partner, für die diese Partnerschaft in erster Linie auf gemeinsamen Werten basiert, sind besorgt, dass nach 30 Jahren der Unabhängigkeit der gemeinsame Weg hin zu Rechtstaatlichkeit und Demokratie nicht weiter beschritten wird. Gleichzeitig sind sie irritiert von der Ignoranz und von abwertenden Tönen seitens der georgischen Regierung gegenüber der EU. Einschneidend war hier der 28. Juli 2021, als die georgische Regierung einseitig und unerwartet vom Abkommen zur Überwindung der politischen Krise zurücktrat, das EU-Ratspräsident Charles Michel monatelang verhandelt hatte. Die Vereinbarung vom 19. April 2021 sieht unter anderem eine Reformklausel im Bereich der unabhängigen Justiz vor, doch GT hat diese Klausel bis heute nicht berücksichtigt und weiter politisierte Richter für den Obersten Gerichtshof ernannt.
Unmittelbar danach, im August 2021, verzichtete die georgische Regierung trotz der gravierenden wirtschaftlichen Krise im Land aus eigener Initiative auf die EU-Makrofinanzhilfe.
Brüssel war der Auffassung, dass Georgien die anstehende finanzielle Hilfe wegen der Nichterfüllung der Reformen ohnehin nicht mehr zustehen würde. Im Grunde hat die georgische Regierung mit dieser Entscheidung ein bewährtes EU-Instrument der Konditionalität abgelehnt und deren Wirksamkeit infrage gestellt. Dieser Vertrauensverlust wurde durch Hinweise darauf, dass der georgische Geheimdienst westliche Diplomat*innen überwacht, noch weiter vorangetrieben.
Nicht zuletzt wurden die Aufforderungen von einzelnen europäischen Parlamentarier*innen, die politische Verfolgung des ehemaligen Präsidenten Saakaschwili in Georgien zu beenden und für ihn ein faires Verfahren zu ermöglichen, durch abwertende Bemerkungen von Premierminister Irakli Gharibaschwili undiplomatisch kommentiert. Ferner wählte die georgische Richterkonferenz am 31. Oktober 2021 zwei neue Mitglieder des Hohen Rates der Justiz. Diese Ernennungen erfolgten am Tag nach den Kommunalwahlen und nur vier Tage nach der Veröffentlichung der Tagesordnung der Konferenz. Die Vorgänger der Neubesetzungen, deren Amtszeit noch nicht abgelaufen war, waren unerwartet von ihren Mandaten zurückgetreten. Die Kandidaten wurden im Vorfeld der Ernennungen nicht bekannt gegeben. Laut EU-Botschafter Hartzell ist dies der fünfte Rückschlag im Bereich der Justiz und der Rechtsstaatlichkeit in Georgien innerhalb von nur vier Monaten.
Nach alldem stellt sich die legitime Frage, ob die in der georgischen Verfassung verankerte europäische Integration Georgiens nur ein formell deklariertes Ziel bleibt. Erfolgt hier eine schrittweise Wendung der Außenpolitik des EU-assoziierten Staates?
Ausblick
Um auf einen stabilen Reformweg zu gelangen, braucht ein Transformationsland einen starken politischen Willen sowie eine starke Zivilgesellschaft. Der Wille für den euroatlantischen Weg ist in der georgischen Zivilgesellschaft immer noch klar vorhanden. Schließlich ist die Mehrheit der Bevölkerung (80 Prozent) für den europäischen Kurs, und die Erwartungen an die EU sind dementsprechend hoch. Der Weg zu mehr Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ist steinig, und er setzt eine durchdachte Strategie, Geduld und aktive Teilnahme nicht nur der Politiker*innen, sondern auch der Zivilgesellschaft voraus. Daher darf die EU die strategische Geduld nicht verlieren, sondern muss zusammen mit den westlichen Partnern mit mehr Entschlossenheit als Gestaltungspartner in Georgien auftreten.
Dieser Text erschien zuerst am 10. November im ZOiS Spotlight 40/2021.
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