Lässt sich die Situation in Nahost noch deeskalieren?
Die Situation im Nahen Osten ist so angespannt wie nie zuvor. Beobachter fragen sich, wann der Iran zusammen mit seinen Proxys wie angekündigt Israel angreift. Parallel laufen die diplomatischen Krisenverhandlungen auf Hochtouren, um eine Eskalation, die einen Flächenbrand für die gesamte Region bedeuten würde, doch noch zu verhindern. Im Interview mit Till Schmidt analysiert Ali Vaez die Lage.
Ali Vaez ist Direktor des Iran Project bei der International Crisis Group. Er ist ausgewiesener Iran-Experte, er hat unter anderem mitgewirkt an der Ausarbeitung des iranischen Nuklearabkommens von 2015, war in leitender Funktion für die UN mit dem Iran betraut und lehrt unter anderem an der Georgetown University. Vaez ist Fellow an der Johns Hopkins School of Advanced International Studies.
In den letzten Tagen hat sich das Tempo der Eskalation zwischen Israel und dem Iran dramatisch beschleunigt: Einerseits durch den Drohnenangriff der Huthis auf israelischen Boden, andererseits durch die Tötung des Hisbollah-Vize Fuad Shukr in Beirut sowie des Hamas-Führers im Gazastreifen Ismail Haniyah in Teheran. Dann wurde die Tötung des ranghohen Hamas-Kommandeurs Mohammed Deif bekannt gegeben und Yahya Sinwar zum Nachfolger Haniyehs ernannt. Wir sprechen am Abend des 13. August miteinander. Wie charakterisieren Sie die aktuelle Situation in der gesamten Region, Ali Vaez?
Die Region stand noch nie so nah am Rande eines Flächenbrandes. Seit Beginn des Krieges in Gaza gab es immer die Befürchtung, dass er sich auf andere Länder ausweiten würde. Aber das ist bislang nicht passiert – und zwar vor allem aus zwei Gründen nicht: Zum einen zögerten alle Parteien, eine horizontale Eskalation herbeizuführen. Zum anderen gab es eine gewisse Diplomatie hinter den Kulissen, die darauf abzielte, die Spannungen einzudämmen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Art und Weise, wie die USA die Konfrontation zwischen dem Iran und Israel im April zu steuern versuchten: Sie sorgten dafür, dass einerseits das Ausmaß möglicher Schäden und Opfer als Teil der iranischen Vergeltung für Israels Angriff auf seine diplomatischen Einrichtungen minimiert wurden und andererseits Israel von weiteren eskalativen Schritten abgehalten wurde. Doch nun sind all diese Mechanismen und Elemente an ihrer Belastungsgrenze angelangt.
Wie ist das zu erklären?
Die Möglichkeiten der USA, auf Entscheidungen Israels Einfluss zu nehmen, sind sehr viel begrenzter geworden, weil Präsident Biden derzeit wenig handlungsfähig ist. Zudem scheut Premierminister Netanjahu inzwischen weniger das Risiko. Außerdem glauben der Iran und die Hisbollah, dass sie an einem Punkt angelangt sind, an dem Israel weiter auf ihre Kosten an die Grenzen gehen wird – falls sie nicht selbst die Kontrolle in der Situation übernehmen.
Wo sehen Sie Möglichkeiten, Strategien und Druckmittel für eine regionale Deeskalation?
Eine regionale Deeskalation würde voraussetzen, dass die Quelle der derzeitigen Spannungen, nämlich der Krieg in Gaza, beseitigt wird. Die USA sind der einzige Akteur, der eine solche Lösung durchsetzen könnte. Dazu müssten sie jedoch Druckmittel einsetzen, von denen sie bislang abgeneigt sind: Es würde bedeuten, die Lieferung offensiver Waffen (offensive military aid) an Israel zu begrenzen oder diese nur unter der Bedingung der Zustimmung Israels zu einem sofortigen Waffenstillstandsabkommen zu gewähren. Außerdem müssten sie zu diesem Zweck auf eine verbindliche Resolution des UN-Sicherheitsrats hin drängen.
Inwieweit ändern der Rückzug Bidens und die Kandidatur von Kamala Harris für die Präsidentschaftswahlen das Bild?
Präsident Biden hat bislang gezögert, Druck auf Israel als einen wichtigen Verbündeten der USA auszuüben. Das ist geschehen aufgrund seines persönlichen Engagements für Israel aber – im Vorfeld der Wahlen – auch aus politischem Kalkül heraus. Ich bin sicher, dass das Weiße Haus nun besorgt ist, dass jede Politik, die Biden verfolgt, sich auch auf Harris und ihre Chancen im November auswirken würde. Tatsache ist jedoch, dass Untätigkeit oder das Scheitern eines Waffenstillstandes auch innenpolitisch und innerhalb der Demokratischen Partei einen hohen Preis hat.
Netanjahu scheint damit gerechnet zu haben, dass Harris im Falle eines Ausscheidens Bidens ihre eigene Agenda verfolgen würde. Damit wären die USA noch mehr als bisher gelähmt und nicht fähig, Druck auf Israel auszuüben. Doch dieses Argument hätte man leicht auf den Kopf stellen können: Präsident Biden, der jetzt wenig zu verlieren hat, hätte tatsächlich Druck auf Israel ausüben können, wohingegen Harris sich ihrerseits von dieser Politik distanzieren und betonen könnte, dass nicht sie, sondern Biden der Entscheidungsträger ist. Im direkten Vergleich scheint Harris zwar mehr Mitgefühl für die Notlage der Palästinenser zu haben und kritischer gegenüber Israels Missachtung des Kriegsrechts und des humanitären Völkerrechts zu sein. Aber wenn es darum geht, den eigenen Einfluss gegenüber Israel geltend zu machen, besteht kaum ein Unterschied.
Im April wurde der iranische Angriff auf Israel auch durch effektive regionale Zusammenarbeit eingedämmt. Wo setzen in der gegenwärtigen Situation andere Staaten der Region ihre Druckmittel zur Deeskalation ein?
All die Länder der Region, die den Iran schon im April zur Zurückhaltung aufgefordert haben, tun das jetzt auch. Oman und Katar etwa haben aktuell indirekte Gespräche zwischen dem Iran und den USA ermöglicht. Ich denke, diese Bemühungen werden fortgesetzt. Letztlich hat aber keines dieser Länder genügend Einfluss, um die nun für den Iran unerträglich gewordene Dynamik zu ändern. Der Iran hat große Angst, die Glaubwürdigkeit seines eigenen Abschreckungsmechanismus zu verlieren, wenn Israel seine Operationen wie bisher fortsetzen wird.
Der Iran hat diesen Abschreckungsmechanismus in Form von Partnern und Stellvertretern im Ausland eingerichtet, um einen direkten Angriff auf eigenem Boden zu verhindern. Die bis vor kurzem noch bestehende Abschreckung zwischen dem Iran und Israel kann durch keines der anderen Länder der Region wiederhergestellt werden. Sie können versuchen, sich selbst aus der Schusslinie zu bringen oder bestenfalls iranische Drohnen und Raketen abzuschießen, aber darüber hinaus gibt es nicht viel, was sie tun können.
Wenn wir auf die aktuelle Dynamik schauen: In welchem Verhältnis stehen die möglichen zukünftigen Konfrontationen zwischen Iran und Israel zu den vergangenen?
Die Feindschaft der Islamischen Republik gegenüber Israel ist strategisch kaum zu begründen. Vor allem wird sie zur politischen Mobilisierung benutzt. Der Iran hat zudem erkannt, dass er aufgrund seiner eigenen Schwäche im Bereich des konventionellen Militärs auf asymmetrische Verteidigungsmittel über Partner und Stellvertreter in der Region zurückgreifen muss. Dieser Zweck erfordert einen ideologischen Klebstoff, den die Iraner in der „palästinensischen Sache“ gefunden haben. Das ermöglicht es dem Iran, die eigenen Beschränkungen als persische Nation unter den Arabern und Türken und als schiitische Nation unter den Sunniten zu überwinden.
Aus israelischer Sicht ist der Iran das einzige Land in der Region, das Israels Handlungsspielraum einschränken kann. Kein anderes Land in der Region wagt es, Israel anzugreifen, oder unterstützt mit Waffen und Ausbildung Gruppen, die Israels Zerstörung anstreben. Deshalb ist es verständlich, dass aus israelischer Sicht die Schwächung und Unterminierung des iranischen Regimes eine hohe Priorität hat. In den vergangenen Jahrzehnten haben beide Seiten die strategische Rivalität in einem für beide Seiten überschaubaren Rahmen gehalten. Nun aber besteht die Gefahr, dass die Spannungen außer Kontrolle geraten.
Über der aktuellen Eskalationsdynamik steht die Frage, ob sich der Iran entscheidet, den letzten Schritt zum Bau einer Atomwaffe zu ergreifen. Wie charakterisieren Sie den Status quo im Atomstreit?
Der Iran ist näher denn je an der Schwelle zur atomaren Bewaffnung. Inzwischen ist das Mullah-Regime in der Lage, in weniger als einer Woche genügend Uran für eine einzige Waffe anzureichern – und zwar ohne dass die UN-Überwachungsbehörde IAEA es sofort entdeckt. Innerhalb eines Monats kann der Iran dann über genügend Nuklearmaterial für ein ganzes Arsenal von Atomwaffen verfügen. Die Bewaffnung kann landesweit in geheimen Anlagen erfolgen, so dass der Westen und insbesondere Israel keine wirklichen Möglichkeiten hätten, diesen Prozess zu stoppen. Die Gefahr ist also real. Der Iran ist nur noch eine politische Entscheidung davon entfernt, den Rubikon zu überschreiten und Atomwaffen zu entwickeln.
Was sind die wichtigsten Faktoren bei dieser Entscheidung?
Ein Faktor ist die Bedrohungswahrnehmung des Irans: Je mehr es Israel gelingt, die regionale Abschreckung des Irans zu schwächen, desto mehr scheitert es zugleich, weil es den Iran dann zu seinem ultimativen Abschreckungsmittel in Form von Atomwaffen drängt. Ein zweiter Faktor ist die Aussicht, das nukleare Druckmittel einsetzen zu können, um von den US-Sanktionen loszukommen. Je aussichtsloser der diplomatische Prozess erscheint und je zynischer die Iraner glauben, dass eine wirksame und dauerhafte Aufhebung der Sanktionen unmöglich ist, desto größer ist der Anreiz für sie, Atomwaffen zu entwickeln. Die Entscheidung, sich der Schwelle zwar zu nähern, sie aber nicht zu überschreiten, wurde von Ayatollah Khamenei, dem 85-jährigen Obersten Führer des Iran, getroffen. Niemand weiß mit Sicherheit, wer und was nach ihm kommt. Vielleicht verfolgt sein Nachfolger ein ganz anderes Kalkül.
Was ist in der aktuellen Dynamik von Masoud Pezeshkian, dem neu gewählten Präsidenten des Iran, zu erwarten?
Der iranische Staatspräsident ist für die Außenpolitik des Landes nicht irrelevant. Denn er kann politische Entscheidungen mitgestalten und ist auch für die Umsetzung von Aspekten der Politik, zuständig. Dass Ton und Vorgehen etwa in der Diplomatie größere Auswirkungen haben, zeigt beispielsweise der Unterschied zwischen den Präsidentschaften von Ahmadinedschad und Khatami. Pezeshkian kam mit dem Versprechen an die Macht, die Beziehungen des Irans zum Westen und zum Osten wieder ins Gleichgewicht zu bringen sowie die Kluft in den Beziehungen insbesondere zu Europa zu verringern. Für ihn und seine Vorhaben könnte die jüngste Eskalationsrunde mit Israel in ihrem Zeitpunkt allerdings kaum schlechter sein: Pezeshkian ist diplomatischer Neuling und hat noch nicht einmal sein Kabinett im Amt. Insgesamt hat er nur begrenzte Möglichkeiten, in den kommenden entscheidenden Wochen großen Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen.
Was bedeutet das konkret?
Im Iran werden Entscheidungen über wichtige Fragen der nationalen Sicherheit meist vom Obersten Nationalen Sicherheitsrat getroffen. Der Präsident ist zwar Vorsitzender des Rates und die Mehrheit seiner Mitglieder, sieben von 13, sind von ihm ernannt worden. Diese vom Präsidenten ernannten Mitglieder des Obersten Nationalen Sicherheitsrates stammten zum Zeitpunkt der Ermordung von Ismail Haniya in Teheran noch aus der alten Regierung. Nach dieser gezielten Tötung des Hamas-Chefs musste der Iran eine neue Entscheidung treffen. Solche Entscheidungen, die im Nationalen Sicherheitsrat getroffen werden, müssen zudem ohnehin stets vom Obersten Führer abgesegnet werden.
Die Beschlüsse, die der Iran in den nächsten Tagen treffen wird, werden wahrscheinlich darüber entscheiden, ob Präsident Pezeshkian seine Versprechen einhalten kann. Eine weitere Eskalation würde den Iran anfälliger für Gegenangriffe der USA und aus Israel machen. Die einzige Möglichkeit, wie der Iran versuchen könnte, den dadurch geschaffenen Schaden zu begrenzen, ist eine weitere Zusammenarbeit mit Russland. Russland wiederum will vom Iran die Lieferung von ballistischen Raketen. Damit aber wäre vor allem für die Europäer eine rote Linie überschritten. Diese Gemengelage gibt der Regierung Pezeshkian die Richtung vor – und das noch bevor sie überhaupt die Chance hatte, die Situation mitzugestalten.
Im Oktober 2025 läuft die für den Atomstreit zentrale Resolution 2231 des UN-Sicherheitsrates aus. Wie blicken Sie in die Zukunft dieses Konfliktes?
Das Auslaufen der Sicherheitsratsresolution 2231 im Oktober 2025 ist in der Tat ein sehr wichtiger Meilenstein. Denn der Westen glaubt, dass er damit seinen letzten Hebel verlieren würde: die Möglichkeit, das iranische Atomdossier im Sicherheitsrat zu halten. Angesichts der angespannten Beziehungen zwischen Russland und China auf der einen und dem Westen auf der anderen Seite, scheint es wohl unmöglich sein, dass sich der Sicherheitsrat in nächster Zeit erneut mit dieser Angelegenheit befasst. Aus iranischer Sicht ist der Oktober 2025 der Termin, an dem sein Atomprogramm normalisiert werden könnte. Es würde damit nicht mehr als Bedrohung für den Weltfrieden und die internationale Sicherheit angesehen werden. Die Situation ist ein Nullsummenspiel, erzeugt aber auch einen gewissen Druck für Verhandlungen.
Was ist der wichtigste und entscheidendste Faktor für die kommenden Entwicklungen?
Der Ausgang der US-Präsidentschaftswahlen. In einer zweiten demokratischen Regierung gäbe es Raum für vorteilhafte Vereinbarungen für beide Seiten, während es in einer zweiten Trump-Präsidentschaft eine Rückkehr zur Politik des maximalen Drucks geben würde. Das würde Washington und Teheran eher auf einen Kollisionskurs führen als zurück an den Verhandlungstisch. In einem Szenario, das Raum für Diplomatie lässt, scheint eine Rückkehr zum JCPoA (dem Atomabkommen von 2015; Anm. d. Red.) nicht mehr machbar zu sein.
Können Sie das näher erläutern?
Der Iran hat nukleare Fortschritte gemacht, die allein aufgrund des dadurch gewonnenen Know-How unumkehrbar sind. Zudem hat sich der Westen wiederholt als unfähig erwiesen, dem Iran wirksame und nachhaltige Sanktionserleichterungen zu gewähren. Darüber hinaus existiert die P5-plus-1-Gruppe (die Gruppe der sechs Weltmächte, die sich 2006 in den diplomatischen Bemühungen mit dem Iran bezüglich seines Atomprogramms zusammengeschlossen hat; Anm. d. Red.) aufgrund der Spannungen zwischen dem Osten und dem Westen eigentlich nicht mehr. Schließlich ist die Strategie der Kompartimentierung, die den Atomdeal von 2015 möglich gemacht hat, nicht mehr realistisch: Inzwischen ist alles einfach zu stark miteinander verknüpft – von der iranischen Regionalpolitik über sein ballistisches Raketenprogramm bis hin zu seiner Menschenrechtsbilanz. All das hat Auswirkungen auf die Atomverhandlungen.
Es bräuchte also einen völlig neuen Plan?
Absolut. Aber selbst im günstigsten Fall, wenn beide Seiten an einer für beide Seiten vorteilhaften Einigung interessiert wären, ist es unrealistisch, diese bis Oktober 2025 zu erreichen. Daher sehe ich die einzige Lösung in einem Interimsabkommen. Einem Abkommen, das dem Iran eine gewisse wirtschaftliche Atempause verschafft, einige der Aktivitäten des iranischen Atomprogramms einfriert und somit mehr Zeit für die Suche nach einer nachhaltigeren Lösung der Krise verschafft. Dies ist bereits 2013 im Vorfeld des Atomabkommens von 2015 geschehen und könnte nun erneut vereinbart werden. Aber dafür müssen viele Sterne in einer Reihe stehen – einschließlich der Tatsache, dass die Spannungen in der Region nicht einen Punkt erreichen, an dem der Iran und der Westen in direkter militärischer Konfrontation stehen und die Beziehungen des Irans zu Russland einen Punkt erreichen, an dem es kein Zurück mehr gibt.
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