On the road: Bonbons für Brüssel
Die Situation in Serbien ist weniger eindeutig, als man sich dies in der EU erträumt. Impressionen aus Belgrad.
Diesmal hatte es auf Belgrads Straßen keine Massenproteste gegeben. Dabei war Ende November in Den Haag der ehemalige bosnisch-serbische Armeechef Ratko Mladic vom UN-Kriegsverbrechertribunal zu lebenslänglicher Haft verurteilt worden – der Mann also, dessen feistes Uniformmützen-Konterfei noch immer jene T‑Shirts ziert, die in der hauptstädtischen Fußgängerzone der Knez Mihailova und auf dem historischen Festungs-Areal des Kalemegdan feilgeboten werden. (In Konkurrenz zu Aufdrucken mit den entschlossenen Gesichtern von Putin und Tito, wobei interessanterweise Karadzic und Milosevic fehlen.) Noch im Jahre 2011, als der damalige serbische Präsident Tadic den seit 16 Jahren mehr oder minder versteckt lebenden Ex-General hatte aufspüren und an das Haager Tribunal ausliefern lassen, waren Tausende alter und junger Nationalisten randalierend durch die Stadt gezogen. Ähnliches hatte sich zuvor im Oktober 2010 abgespielt, als die Teilnehmer des Belgrader Gay Pride derart gewalttätig attackiert wurden, dass die Polizei sogar Tränengas und Gummigeschosse einsetzen musste.
Bei der diesjährigen Parade im Herbst blieb es dagegen friedlich, und nur einige verloren wirkende Grüppchen von Zauselbärten mit Ikonenbildern in den Händen stellten sich dem Polizei-Kordon entgegen. Doch wiederum glich Belgrads Innenstadt ab dem Terazije-Platz einer radikal abgeschirmten Geisterzone, in dessen toter Mitte sich der bunte Demonstrationszug bewegte, derweil am Himmel Helikopter kreisten. Wer es nicht geschafft hatte, rechtzeitig zur Parade zu kommen, sah sich Polizisten gegenüber, die an nahezu jeder Straßenkreuzung in breiter Front aufgestellt waren, verschanzt hinter ihren Plexiglasscheiben und angeblich keinerlei englisch sprechend. Grimmige Physiognomien, die ihre Wut auf den aufgezwungenen Sonntagsdienst nicht kaschierten. Neutrale Beschützer der Zivilgesellschaft? In Westeuropa war anerkennend bemerkt worden, dass an der LGBT-Demonstration auch Serbiens lesbische Ministerpräsidentin Ana Brnabic teilgenommen hatte. „Augenwischerei und höchstens ein Bonbon für Brüssel“, sagen skeptische junge Belgrader, die bereits im Frühjahr auf der Straße gewesen waren – aus Protest gegen die Machtfülle des neuen Präsidenten (und Ex-Premiers) Aleksandar Vucic. Dieser hatte sogleich nach seinem Wahlsieg im Mai dafür gesorgt, dass fürderhin alle wichtigen Entscheidungen nicht mehr in der Regierung, sondern im Präsidentenpalast getroffen werden. Wie zu alten Zeiten spielten nicht nur die Claqueure in den Staatsmedien mit, sondern auch jene privaten TV-Sender und Boulevard-Zeitungen, die sich im Besitz von Vucic‘ Freunden befinden.
Der damalige Verteidigungsminister und heutige Präsident Serbiens, Aleksandar Vucic, im Gespräch mit dem ehemaligen Verteidigungsminister der Vereinigten Staaten, Leon E. Panetta, im Pentagon, 7. December 2012.
„Westeuropa“, so ist in jenen Belgrader Clubs und Cafés im Donau-nahen Viertel Savamala zu hören, in denen sanfter Indie-Pop statt stampfend nationalistischer Turbo-Folkrock läuft, „lügt sich da etwas in die Tasche. Frau Brnabic steht nicht etwa für irgendeine ‚Zivilgesellschaft‘, sondern für gar nichts – will heißen für das inzwischen völlig machtlose Amt einer Regierungs-Chefin von Vucic‘ Gnaden.“ Allerdings: Wer den gegenwärtigen Präsidenten ob seiner Machtfülle – nicht zu vergessen die zahlreichen Vucic-Poster, die in Belgrad ebenso sichtbar sind wie in der Nachbarstadt Novi Sad – prompt als “neuen Milosevic“ schmäht, tappt in die Falle ahistorischer Gleichsetzungen. Immerhin war Serbiens gegenwärtig starker Mann vor zwei Jahren nach Srebrenica gereist, um an der Seite des bosnischen Präsidenten Bakir Izetbegovic des Massakers von 1995 zu gedenken. Die Nationalisten schäumten über den vermeintlichen „Verrat“, der EU-Westen war gerührt und sprach von „Beitrittsperspektiven“, während Kritiker den Vucic-Auftritt für kalkulierte Camouflage hielten, damit ihm und den oligarchisch Seinen baldigst der Weg zu den Brüsseler Fleisch- und Subventionstöpfen geebnet sei.
Aber ist die offiziell heruntergefahrene Anti-Nato-Rhetorik nicht tatsächlich ein Zeichen für zunehmende West-Orientierung? Es scheint sich hierbei freilich eher um etwas Verordnetes zu handeln. Im Militärmuseum der Stadt, das besonders an den Wochenenden von Familien gut besucht ist, werden – bei aller Anhäufung historischer Waffen aus Serbiens Nationalgeschichte – nämlich nicht nur Genese und Verlauf der Kriege von 1991 bis ’99 mit dröhnendem Schweigen übergangen, sondern auch die Nato-Bombardements von 1999, die ein Jahr später zur Parlamentsstürmung und zu Milosevic‘ Sturz führten. In jener Zeit war Aleksandar Vucic der Informationsminister des Regimes. Hat er sich demnach inzwischen gewandelt, ethisch geläutert – oder lediglich pragmatisch neu erfunden, nunmehr als Pro-Europäer? Sollte dem so sein, ist es jedenfalls nicht das Resultat transparenter, gesamtgesellschaftlicher Debatten, sondern einsamer Entscheidungen, die letztlich rätselhaft bleiben – und damit auch je nach Gusto revidierbar. Wie in Belgrad zu hören ist, „kann Vucic vorerst nicht mit Putin“ – freilich eher aus persönlichen Ego-Gründen denn aus ideologischer Skepsis. Das Interesse des Kreml an einem stabil EU-freundlichen Westbalkan ist derweil, folgt man dem nationalistischen Tenor russischer Websites, die auch auf serbisch und kroatisch zugänglich sind, mehr als gering. Vielleicht wäre es deshalb an der Zeit, in Westeuropas Hauptstädten mehr wahr- und anzunehmen als lediglich symbolisch gereichte Bonbons.
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