On the road: Das gekaperte Gedenken in Argentinien

Quelle: Tahiana Máximo/​Flickr

In diesen Tagen erinnert Argen­tinien an den Militär­putsch von 1976. Was aller­dings dominiert in den Straßen von Buenos Aires ist autori­täres Aufmarsch-Pathos, Evita- und Che-Kitsch und histo­rische Amnesie. Gut, dass inzwi­schen junge Immigranten ins Land kommen, die einen gänzlich anderen Blick haben.

Die Frühlingstage, die auf der Südhalb­kugel bereits den begin­nenden Herbst ankün­digen, markieren seit 1976 in Argen­tinien eine grauen­hafte Zäsur: Damals putschten die Militärs, und es begannen die bleiernen Jahre der gezielten Massen­morde an Opposi­tio­nellen (und jenen, die man dafür hielt). Seit dieser Zeit kennt man auf der ganzen Welt Vokabeln wie „Desaparecidos/​Verschwundene“ oder „Las Madres de Plaza de Mayo/​ Die Mütter des Platzes der Mairevolution“.

Kollek­tives Erinnern als Synonym für histo­rische Amnesie? 

Es nimmt kein Jota von der Schuld der faschis­ti­schen Generäle um Videla, Viola und Galtieri, ihrer zahllosen Folter-Handlanger und gediegen bürger­lichen Sympa­thi­santen, wenn man nach 42 Jahren nochmals daran erinnert, was ohnehin im Lande ein Jeder weiß: Bereits vor ´76 hatten Rechts- und  Links­extreme durch Morde, Attentate und Entfüh­rungen Argen­ti­niens fragile Demokratie geschwächt, während die sogenannte „bürger­liche Mitte“ auch nicht gerade mit Fortschritts-Ideen und Rechts­staats­treue assoziiert wurde. Die damaligen Menta­li­täts­muster und ihr parti­elles Fortwirken hat der (linke) Schrift­steller Martin Caparrós in seinem Roman „Wir haben uns gerirrt“ eindrucksvoll thema­ti­siert – aber blieb damit eher allein auf weiter Debat­tenflur. Ironi­scher­weise sind es gerade die vom stolzen Argen­tinien noch immer als „unsere kleinen Nachbarn“ apostro­phierten Uruguayer, die mit freund­licher Skepsis über den Rio de la Plata schauen und dabei nicht etwa zuvör­derst Ideologien für das auch weiterhin polari­sie­rende Gezerre im großen Nachbarland verant­wortlich machen. Könnte nicht, so fragen auch viele inzwi­schen in Buenos Aires ansässige Monte­vi­deanos, vor allem jener dominant-unreflek­tierte Gaucho- und Caudillo-Habitus die inner-argen­ti­ni­schen Verwer­fungen erklären, jene hagestolze Egomanie im Verbund mit schep­perndem Kollektiv-Rambazamba?

Kein Respekt vor den Opfern

Wer Ende März als Auswär­tiger inmitten jener Tausenden von Demons­tranten war, die zwischen Kathe­drale und dem Präsi­den­ten­palast Casa Rosada an den Putsch von 1976 erinnerten, musste sich jeden­falls die Augen reiben. Wo blieb hier der Respekt vor jenen Individual-Schick­salen, die damals doch bereits die mordenden Militärs zur quantité négli­geable erklärt hatten? Denn beinahe rüde wurden jene beiseite gedrängt, die auf selbst­ge­bas­telten Fotoschildern an ihre „verschwun­denen“ Verwandten erinnerten – junge Leute, deren Gesichtszüge auf herzzer­rei­ßende Weise ihren zu Tode gefol­terten Müttern, Vätern, Onkel und Tanten glichen, die sie nie hatten kennen­lernen dürfen. Die anderen aber waren mehr, trugen die fabri­zierten T‑Shirts ihrer jewei­ligen Organi­sa­tionen, trommelten („Tambores En Lucha“) lautstark vor sich hin, stauten sich an den Fleisch- und Bierständen, warfen Feuer­werks­knaller in die Luft oder marschierten mit Pathos­blick hinter den riesigen Trans­pa­renten und Fahnen, die da windge­bauscht flatterten auf der Avenida de Mayo: Überle­bensgroß das von Schön­heits­chir­urgen entstellte Gesicht der autori­tären Ex-Präsi­dentin Cristina de Kirchner, des in stählerne Zukunft starrenden Che Guevara  und eines zumindest hier unsterb­lichen Fidel Castro. Nicht zu vergessen all die unzäh­ligen Evita-&Perón-Konterfeis, die wie Jesus-und-Maria herum­ge­schleppt wurden – obwohl doch bereits unter dem zwischen Rechten und Linken lavie­renden alten Perón das politische Morden einge­setzt hatte und jeder, der Tomás Eloy Martinez´ Epochen­roman „Santa Evita“ gelesen hat, um das Schmie­ren­ko­mö­di­an­tische jenes vermeint­lichen Helden­paares wissen könnte.

Doch weiter marschierte und trommelte die Menge, verloren darin die Wenigen mit den Fotografien ihrer Lieben und an den Rand gedrängt auch jene sympa­thi­schen Fahrrad-Enthu­si­asten, die auf Nachfrage davon berich­teten, wie sie ihren Freizeit­sport mit einem Engagement gegen das Vergessen verbinden: „Ciclistas por la Memoria, la Verdad y la Justicia“. Auf die Frage, ob sie „Perónistas“, „Kirch­ne­ristas“ oder gar “Chávistas“ seien (denn auf den umher­ge­tra­genen Trans­pa­renten wellte sich selbst­ver­ständlich auch die massive Physio­gnomie des venezue­la­ni­schen Desaster-Coman­dante Hugo Chávez) winkten die freund­lichen Leute nur ab: Viel wichtiger als zweifel­hafte Idolatrie sei doch die Fortführung von Prozessen gegen ehemalige Folter­schergen – „damit sich so etwas nie wiederholt“. Ähnlich gegen­warts-konzen­triert auch die hiesigen Gay-Aktivisten, deren kleine bunte Plakate jedoch ironi­scher­weise von den wehenden roten Flaggen des (ansonsten politisch nahezu inexis­tenten) Partido Comunista verdeckt wurden, und danach, als die Fahnen­träger weiter­ge­stapft waren, von den Porträts des homophoben „Che“, der sich einst auf Kuba einen Namen gemacht hatte als Erfinder von „Umerzie­hungs­lagern“ für Schwule. Kollek­tives Erinnern als Synonym für histo­rische Amnesie?

Zynische Beobachter am Straßenrand

Freilich waren da aber auch die anderen, als Beobachter am Rand, unter Kolon­naden und auf Balkonen: Schlanke, großge­wachsene Anzug­träger, altmo­dische Brillantine im Haar oder hippes Wachs im Assyrerbart und in den arroganten Milch- oder bereits verhär­teten Macher-Gesichtern jenes Lächeln falscher Konzi­lianz, das jenen vorbe­halten ist, die sich, auf welcher Ebene auch immer, der Kaste der “Entscheider“ zugehörig fühlen. Spöttisch-überlegene, ja beinahe wohlwol­lende Blicke, die Bände sprachen: Einmal im Jahr trommelndes, fahnen­schwin­gendes „capita­lismo – No!“-Getöse im Geschäfts- und Reprä­sen­ta­ti­ons­herzen der Stadt, auf dass an all den anderen Tagen das semi-feudale, korpo­ra­tis­tisch verklün­gelte Business um so ungestörter weitergehe.

Die anderen Illusi­ons­losen aber lohnten schließlich nicht nur den Besuch dieser Demons­tration, sondern auch das Wieder­sehen mit Buenos Aires: Gewitzte junge Immigranten aus anderen Ländern Südame­rikas, die sich ihre ganz eigenen Gedanken über die rechts­links bornierten Autochthonen machen. Zahlreiche der Fleisch- und Bierver­käufer sind gesprä­chige, lockere, nicht-machis­tisch flirtende Peruaner, Ecuado­rianer oder Paraguayer, hingegen die in den Taxis auf Kunden wartenden Fahrer clevere Venezue­laner, die zumindest gegenüber dem europäi­schen Besucher nicht verschweigen, was sie von dem ganzen Evita‑, Che- & Chávez-Polit­tango halten und dann während der Fahrt in helles, souve­ränes Gelächter ausbrechen. Eine Linke, die tatsächlich macht­kri­tisch und emanzi­pa­to­risch wäre anstatt autoritär auf den Hund gekommen –  hier, bei diesen Einwan­derern und Flücht­lingen, hätte sie etwas lernen können. Vielleicht.

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