On the road: Das gekaperte Gedenken in Argentinien
In diesen Tagen erinnert Argentinien an den Militärputsch von 1976. Was allerdings dominiert in den Straßen von Buenos Aires ist autoritäres Aufmarsch-Pathos, Evita- und Che-Kitsch und historische Amnesie. Gut, dass inzwischen junge Immigranten ins Land kommen, die einen gänzlich anderen Blick haben.
Die Frühlingstage, die auf der Südhalbkugel bereits den beginnenden Herbst ankündigen, markieren seit 1976 in Argentinien eine grauenhafte Zäsur: Damals putschten die Militärs, und es begannen die bleiernen Jahre der gezielten Massenmorde an Oppositionellen (und jenen, die man dafür hielt). Seit dieser Zeit kennt man auf der ganzen Welt Vokabeln wie „Desaparecidos/Verschwundene“ oder „Las Madres de Plaza de Mayo/ Die Mütter des Platzes der Mairevolution“.
Kollektives Erinnern als Synonym für historische Amnesie?
Es nimmt kein Jota von der Schuld der faschistischen Generäle um Videla, Viola und Galtieri, ihrer zahllosen Folter-Handlanger und gediegen bürgerlichen Sympathisanten, wenn man nach 42 Jahren nochmals daran erinnert, was ohnehin im Lande ein Jeder weiß: Bereits vor ´76 hatten Rechts- und Linksextreme durch Morde, Attentate und Entführungen Argentiniens fragile Demokratie geschwächt, während die sogenannte „bürgerliche Mitte“ auch nicht gerade mit Fortschritts-Ideen und Rechtsstaatstreue assoziiert wurde. Die damaligen Mentalitätsmuster und ihr partielles Fortwirken hat der (linke) Schriftsteller Martin Caparrós in seinem Roman „Wir haben uns gerirrt“ eindrucksvoll thematisiert – aber blieb damit eher allein auf weiter Debattenflur. Ironischerweise sind es gerade die vom stolzen Argentinien noch immer als „unsere kleinen Nachbarn“ apostrophierten Uruguayer, die mit freundlicher Skepsis über den Rio de la Plata schauen und dabei nicht etwa zuvörderst Ideologien für das auch weiterhin polarisierende Gezerre im großen Nachbarland verantwortlich machen. Könnte nicht, so fragen auch viele inzwischen in Buenos Aires ansässige Montevideanos, vor allem jener dominant-unreflektierte Gaucho- und Caudillo-Habitus die inner-argentinischen Verwerfungen erklären, jene hagestolze Egomanie im Verbund mit schepperndem Kollektiv-Rambazamba?
Kein Respekt vor den Opfern
Wer Ende März als Auswärtiger inmitten jener Tausenden von Demonstranten war, die zwischen Kathedrale und dem Präsidentenpalast Casa Rosada an den Putsch von 1976 erinnerten, musste sich jedenfalls die Augen reiben. Wo blieb hier der Respekt vor jenen Individual-Schicksalen, die damals doch bereits die mordenden Militärs zur quantité négligeable erklärt hatten? Denn beinahe rüde wurden jene beiseite gedrängt, die auf selbstgebastelten Fotoschildern an ihre „verschwundenen“ Verwandten erinnerten – junge Leute, deren Gesichtszüge auf herzzerreißende Weise ihren zu Tode gefolterten Müttern, Vätern, Onkel und Tanten glichen, die sie nie hatten kennenlernen dürfen. Die anderen aber waren mehr, trugen die fabrizierten T‑Shirts ihrer jeweiligen Organisationen, trommelten („Tambores En Lucha“) lautstark vor sich hin, stauten sich an den Fleisch- und Bierständen, warfen Feuerwerksknaller in die Luft oder marschierten mit Pathosblick hinter den riesigen Transparenten und Fahnen, die da windgebauscht flatterten auf der Avenida de Mayo: Überlebensgroß das von Schönheitschirurgen entstellte Gesicht der autoritären Ex-Präsidentin Cristina de Kirchner, des in stählerne Zukunft starrenden Che Guevara und eines zumindest hier unsterblichen Fidel Castro. Nicht zu vergessen all die unzähligen Evita-&Perón-Konterfeis, die wie Jesus-und-Maria herumgeschleppt wurden – obwohl doch bereits unter dem zwischen Rechten und Linken lavierenden alten Perón das politische Morden eingesetzt hatte und jeder, der Tomás Eloy Martinez´ Epochenroman „Santa Evita“ gelesen hat, um das Schmierenkomödiantische jenes vermeintlichen Heldenpaares wissen könnte.
Doch weiter marschierte und trommelte die Menge, verloren darin die Wenigen mit den Fotografien ihrer Lieben und an den Rand gedrängt auch jene sympathischen Fahrrad-Enthusiasten, die auf Nachfrage davon berichteten, wie sie ihren Freizeitsport mit einem Engagement gegen das Vergessen verbinden: „Ciclistas por la Memoria, la Verdad y la Justicia“. Auf die Frage, ob sie „Perónistas“, „Kirchneristas“ oder gar “Chávistas“ seien (denn auf den umhergetragenen Transparenten wellte sich selbstverständlich auch die massive Physiognomie des venezuelanischen Desaster-Comandante Hugo Chávez) winkten die freundlichen Leute nur ab: Viel wichtiger als zweifelhafte Idolatrie sei doch die Fortführung von Prozessen gegen ehemalige Folterschergen – „damit sich so etwas nie wiederholt“. Ähnlich gegenwarts-konzentriert auch die hiesigen Gay-Aktivisten, deren kleine bunte Plakate jedoch ironischerweise von den wehenden roten Flaggen des (ansonsten politisch nahezu inexistenten) Partido Comunista verdeckt wurden, und danach, als die Fahnenträger weitergestapft waren, von den Porträts des homophoben „Che“, der sich einst auf Kuba einen Namen gemacht hatte als Erfinder von „Umerziehungslagern“ für Schwule. Kollektives Erinnern als Synonym für historische Amnesie?
Zynische Beobachter am Straßenrand
Freilich waren da aber auch die anderen, als Beobachter am Rand, unter Kolonnaden und auf Balkonen: Schlanke, großgewachsene Anzugträger, altmodische Brillantine im Haar oder hippes Wachs im Assyrerbart und in den arroganten Milch- oder bereits verhärteten Macher-Gesichtern jenes Lächeln falscher Konzilianz, das jenen vorbehalten ist, die sich, auf welcher Ebene auch immer, der Kaste der “Entscheider“ zugehörig fühlen. Spöttisch-überlegene, ja beinahe wohlwollende Blicke, die Bände sprachen: Einmal im Jahr trommelndes, fahnenschwingendes „capitalismo – No!“-Getöse im Geschäfts- und Repräsentationsherzen der Stadt, auf dass an all den anderen Tagen das semi-feudale, korporatistisch verklüngelte Business um so ungestörter weitergehe.
Die anderen Illusionslosen aber lohnten schließlich nicht nur den Besuch dieser Demonstration, sondern auch das Wiedersehen mit Buenos Aires: Gewitzte junge Immigranten aus anderen Ländern Südamerikas, die sich ihre ganz eigenen Gedanken über die rechtslinks bornierten Autochthonen machen. Zahlreiche der Fleisch- und Bierverkäufer sind gesprächige, lockere, nicht-machistisch flirtende Peruaner, Ecuadorianer oder Paraguayer, hingegen die in den Taxis auf Kunden wartenden Fahrer clevere Venezuelaner, die zumindest gegenüber dem europäischen Besucher nicht verschweigen, was sie von dem ganzen Evita‑, Che- & Chávez-Polittango halten und dann während der Fahrt in helles, souveränes Gelächter ausbrechen. Eine Linke, die tatsächlich machtkritisch und emanzipatorisch wäre anstatt autoritär auf den Hund gekommen – hier, bei diesen Einwanderern und Flüchtlingen, hätte sie etwas lernen können. Vielleicht.
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