100 Jahre Estland: Ein Startup hat sich globalisiert
Estland fertigt Sicherheitskopien seines Staates an und speichert sie auf Servern in Luxemburg. Mit solchen digitalen Kniffen schützt es sich vor ausländischen Agressionen und fördert obendrein seine Wirtschaft: Das Land im Baltikum führt vor, wie Geopolitik in Zukunft funktioniert. Markus Schubert würdigt die kleine Startup-Nation anlässlich ihres 100. Geburtstags.
Es gibt Menschen, die glauben, Europa gehe es am besten, wenn sich die großen Mächte miteinander vertragen und arrangieren. Viele denken dabei an Deutschland und Frankreich. (Man könnte das unterschreiben, auch wenn die Missachtung der kleinen Nationen damit bereits einhergeht.) Manche denken vor allem an Deutschland und Russland. Das Argument ist wieder schick geworden, man muss nur Deutschen zuhören, die über die angeblich mutwillig vom Westen forcierte Konfrontation von NATO und Russland, über sinnlose Russland-Sanktionen oder die zweite NordStream-Gaspipeline durch die Ostsee sprechen.
„Wir, die Esten, sind so wenige, dass das Ziel eines jeden Esten (…) in der Unsterblichkeit mittels schöpferischer und kultivierter Taten liegen muss.“
(Schuldirektor Johan Wikman in Jaan Kross‘ Roman „Wikmans Zöglinge)
Die Esten reagieren auf solche Denkmuster empfindlich. Sie fürchten sofort um ihr Existenzrecht, aus Gründen: Als Deutsche und Russen sich einig waren, gehörte die Provinz, in der die Esten lebten, nach anderen Phasen der imperialen Fremdherrschaft durch Dänen und Schweden zum Zarenreich, während die deutschen Gutsherren dort als klassische Kolonisatoren in Übereinkunft mit dem Hof in Sankt Petersburg schalteten und walteten.
Die Esten können ein Lied davon singen. Sie singen viel und gut. Ihr „nation building“ im 19. Jahrhundert erfolgte singend, die Baltendeutschen mögen das für harmlose Folklore gehalten haben. In den Nachwehen der Oktoberrevolution und in laufenden deutsch-russischen Kämpfen im 1. Weltkrieg erklärte sich Estland für souverän und setzte sich danach auch militärisch gegen die im russischen Bürgerkrieg steckende Rote Armee der Bolschewisten durch.
Warum Esten schon immer kreativ denken mussten
Am 24. Februar 1918, vor nunmehr 100 Jahren, war Estland ein Start-up. Es gab keine Monarchie republikanisch umzuwidmen, keine Territorien zu sammeln, keine überkommene staatliche Hülle ideologisch und strukturell neu zu füllen; das ganze Gemeinwesen musste von Grund auf neu konstruiert werden. Jaan Kross’ nicht gänzlich ausgedachte Romanfigur des Gymnasialdirektors Wikman gibt mit seinem Appell an die Schüler geradezu eine Staatsraison des zerbrechlichen 1‑Millionen-Volkes zu Protokoll: „Wir, die Esten, sind so wenige, dass das Ziel eines jeden Esten – oder zumindest eines jeden Wikmanschen Gymnasiasten – in der Unsterblichkeit mittels schöpferischer und kultivierter Taten liegen muss.“ Die Kleinheit, damals wie heute für Imperialisten und Geopolitiker ein Anzeichen für staatliche Überflüssigkeit, wird hier zum kreativen Antrieb eines Volkes aus Selbstentfesselungskünstlern.
Wieder ist es dann 1939 eine Verständigung zwischen Deutschen und Russen, die die so idealistisch gestartete estnische Freiheit und ihren erst liberalen, dann einem sich selbst verstärkenden europäischen Trend folgend zunehmend autoritären Staat verschwinden lässt und aus der vermeintlich großformatigen Aussöhnung eine Kriegsgrundlage macht: Der Hitler-Stalin-Pakt schanzt das Baltikum den Russen zu. Später marschieren die Deutschen auf dem Weg nach Russland durch, erscheinen als Befreier, machen etliche Esten zu Helfershelfern, nach dem Rückzug bleiben Trümmer, die sich die Sowjetunion einverleibt. Hinter dem Eisernen Vorhang weit im Westen gibt es einen weiteren, hinter dem Estland – wie auch Lettland und Litauen – fast unsichtbar wird. Deportationen und die gezielte Ansiedlung von asiatischen Arbeitern sollen den nationalen Selbstbehauptungswillen brechen. Wieder wird in den 80ern zivil aber tapfer gesungen, wieder ist es ein friedlicher, kulturell und aufgrund der rücksichtslosen Vulgär-Industrialisierung auch ökologisch begründeter Aufbruch, und als Russlands Präsident Jelzin 1991 in den Tagen des Putsches die Sowjetunion de facto auflöst, indem er sich als Souverän ausruft, nehmen die Balten die Hintertreppe in die Freiheit.
Als ich, ein deutscher Student der Politikwissenschaft auf der Gästetribüne der Zeitgeschichte, am 20. August 1991 aus dem Parlament in Tallinn trat, war Estland nach einer beherzt beschlossenen aber seit Monaten gründlich vorbereiteten Unabhängigkeitserklärung also wieder auf der politischen Landkarte. Die Stadt hielt den Atem an, weil die Niederschlagung der ausgerufenen Souveränität immer noch möglich schien, auch wenn tags zuvor Flugblätter mit einem Ukas des russischen Präsidenten Jelzin vom Himmel flatterten, der alle sowjetischen Truppen im Land aufrief, in den Kasernen zu bleiben. Die Existenz blieb prekär, erst der Beitritt 2004 zur EU und zur NATO, dann 2011 zur Eurozone schien die Geschichte unumkehrbar zu machen.
Priorität hat die Zukunft
Was die Esten ab 1991 aus ihrem Staat machten, ist ein beispielloses Projekt. Zwei Jahre nach den denkwürdigen Tagen war ich wieder in Tallinn und fasste meine Reportage in der Stuttgarter Zeitung in der Überschrift „Die Estland AG hat keinen Sinn für Pathos“ zusammen, was meine Gesprächspartner in der estnischen Politik vor den Kopf stieß. Tatsächlich hatte sich Tallinn in eine neoliberale Hansestadt verwandelt. Kultureinrichtungen standen vor dem finanziellen Aus und Künstler trauerten flüsternd den späten Sowjet-Jahren nach. Meine Eindrücke waren nicht falsch, aber im Rückblick wird klarer, dass die estnische Mitte-Rechts-Regierung eine strategisch angelegte Priorisierung getroffen hatte, die in etwa folgender Maxime folgte: “Die jetzige Generation ist frei und hat lange darauf gewartet, aber wir können die Uhr nicht zurückdrehen und rückwirkend Gerechtigkeit walten lassen. Zu verteilen ist wenig. Also lasst es uns in die Lebensgrundlagen und die Freiheit der zukünftigen Generationen stecken.“
Bildung war also wie in den 1920ern eine Priorität, und dann kam etwas, an das 1991 noch nicht zu denken war, gerade zur richtigen Zeit: Das Internet, das World Wide Web. Es gibt kein Land, das die Innovationen aus den USA so radikal zur Staatsraison machte wie Estland. Exil-Esten und Estlands Botschafter in den USA, der spätere Präsident Toomas Hendrik Ilves, waren hier natürlich Spürhunde! Die Regierung setzte – teils aus Not, teils aus Tollkühnheit – auf die papierlose Administration, die elektronische Gesundheitskarte, schenkte der Welt im Vorübergehen das in Tallinn entwickelte Skype, führte ein Grundrecht auf Netzzugang ein, erschloss so die dünn besiedelten ländlichen Räume, setzte auf e‑Voting, und wurde so – der alte Wikmann wäre stolz und zufrieden – wieder zum Musterschüler. Das Netz spaltet die per se individualistischen Esten nicht, es stärkt Kooperation und ist inklusiv. Und der Staat hat sich mit seiner das Leben erleichternden und sichernden Online-Performance neues Vertrauen und zeitgemäßen Sinn verschafft.
Wie Estland den Angriff russischer Hacker übersteht
Dann aber ein neuer, drastischer Einschnitt 2007: Die digitale Infrastruktur des Landes wurde zum Zerstörungsobjekt des ersten Cyberkriegs der Geschichte. Russische Staatshacker bestrafen den Nachbarn für die Verlegung und damit Missachtung eines Denkmals für die frühere Besatzungsarmee und attackieren Einrichtungen wie das Parlament, das Büro des Staatspräsidenten, sowie Ministerien, Banken und Medien. Die Strafaktion spornt die Digitalpioniere freilich nur weiter an: Zur ungebrochenen Technikbegeisterung kommt jetzt die Perfektion im Fach Cybersicherheit. Estland rüstet technologisch auf und exportiert dann sein Sicherheitsbewusstsein: In die NATO, die ein Cyberabwehrzentrum in Tallinn installiert und dort zuletzt im Anfang 2018 ein Manöver an Bildschirmen durchführte. Und in die EU, wie überhaupt die erste estnische EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr 2017 ein einziger Tritt in den Hintern einer digital lendenlahmen Union ist. Die FAZ bilanzierte süffisant: „Vom EU-Digitalgipfel in Tallinn heimkehrende Bundespolitiker warfen sich im vergangenen Jahr geradezu öffentlich in den Staub angesichts der baltischen Modernität.“ Bundeskanzlerin Merkel lud schon ein Jahr zuvor den damaligen Premier Rõivas als Nachhilfelehrer zur Kabinettsklausur nach Meseberg ein. Weil die Digitalisierung der Schulen die Esten auch beim Bildungsniveau an die EU-Spitze und weltweit auf Rang 3 geführt hat – laut OECD besonders fit in Sachen Teamfähigkeit – pilgern längst auch deutsche Länder-Bildungsminister nach Estland. Eine charmante Wendung der Geschichte, weil noch 150 Jahre zuvor an estnischen Schulen nur auf Deutsch unterrichtet wurde. Von Estland lernen, heißt jetzt Lernen lernen.
Es ließe sich vieles sagen, was Estland als den Musterstaat erscheinen ließe, der er sein will: Kaum ein Land hat höhere Zustimmungswerte zu Europa und der eigenen EU-Mitgliedschaft. Estland ist das am geringsten verschuldete EU-Land. Und obwohl Estland noch immer ein armes Land ist, hat es, wenn auch mit der Faust in der Geldbörse, die Haftung für die Altschulden des reicheren Griechenlands mitgetragen, und übrigens auch den Beschluss zur Flüchtlingsverteilung, auch wenn man Mühe hat, Syrer oder Eritreer im Land zu halten – das harsche Wetter, die schwer zugängliche Sprache und die geringe Bevölkerungsdichte wirken ad hoc nicht gerade attraktiv.
Seine besten Politiker schickt Estland nach Brüssel
Auch Rechtspopulisten haben weniger politisches Gewicht als in Skandinavien und in Osteuropa. Die Langzeit-Regierungspartei, die liberale Reformpartei, ist ohne große Turbulenzen oder gar Staatskrise von ihren kleineren Koalitionspartnern aus der Regierung geboxt und durch eine Links-Partei mit moskautreuen Genen ersetzt worden, die aber die digitale Agenda und die enge NATO-Anlehnung als Frontstaat weiterführte, weil es schlicht Staatsraison ist. Im kommenden Jahr wird die Reformpartei voraussichtlich zurück in die Regierung gelangen, dann freilich mit Kaja Kallas als Ministerpräsidentin. Die jetzige Europaabgeordnete ist wie die erste Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid (zuvor am Europäischen Rechnungshof) und dem früheren Regierungschef Andrus Ansip (jetzt stellvertretender EU-Kommissionspräsident) ein Beispiel, wie durchlässig nationale und europäische Institutionen für Esten sind – übrigens ein klassisches Phänomen kleiner Nationen, die ihre besten Leute nach Brüssel schicken, weil sie dort mit höherem Wirkungsgrad auch für ihr Heimatland arbeiten können.
2016 erlitt Estland jedoch einen Rückschlag: Nachdem US-Präsident Barack Obama – wie zuvor auch schon George W. Bush – 2014 nach Tallinn gereist war und dem Publikum in seiner Grundsatzrede zurief: „Ihr habt ein einziges Mal Eure Freiheit verloren. Mit der NATO werdet ihr sie nie wieder verlieren!“, lancierte die Trump-Kampagne nur zwei Jahre später eine diametral entgegengesetzte Doktrin. Während Trump den Beistandsmechanismus nach Artikel 5 des NATO-Vertrages in Zweifel stellte (obwohl nun Estland gerade eines der sehr wenigen NATO-Ländern ist, die das 2 %-Ziel erfüllen), wurde sein damaliger Top-Außenpolitiker Newt Gingrich überdeutlich: Auf die Nachfrage im Interview, ob US-Truppen eingreifen würden, wenn Tallinn von russischen Truppen besetzt werde, fabulierte der Republikaner von einer 40-prozentigen russischen Minderheit in Estland und sagte: „Ich werde keinen Atomkrieg riskieren wegen eines Vororts von Sankt Petersburg.“ Da war sie wieder, nun im globalen Maßstab: Die Idee von der Aussöhnung der Imperien zulasten Dritter. Auch zulasten des NATO-Konstruktionsprinzips. Die Esten sind alarmiert, aber nicht panisch. Wie schon zuvor bei der de facto Besetzung der westwärts strebenden Ukraine. Und wie zuvor im Falle Georgiens. Also wappnet man sich. Militärisch, indem die NATO im Rahmen von „Enhanced Forward Presence“ von Briten geführte Truppen in Estland stationiert – von Obama wurde die Entsendung von US-Truppen nach Mitteleuropa in den letzten Wochen der Amtszeit noch beschleunigt. Aber auch, indem man in Luxemburg eine einzigartige Datenbotschaft in einem exterritorialen Hochsicherheitszentrum errichtet, in der die Daten des estnischen Staates nun laufend als backup hinterlegt werden. Der Staat bliebe trotz physischer Besetzung seines Territoriums kontinuierlich handlungsfähig.
Beschützt von e‑Residents aus der ganzen Welt
Schon früher stellten die Strategen von e‑Estonia eine andere verwegene Überlegung an, die ebenso einen exterritorialen Aspekt hatte: Wenn alle Estland für seinen digitalen Staat, seinen Bürgerservice und seine Verlässlichkeit loben und schätzen, wenn immer mehr Lebensbereiche des Menschen in die virtuelle Welt wandern, wenn es zudem immer mehr digitale Nomaden gibt, die gerne global leben, weil ihr Geschäftsmodell in ihrem Laptop steckt, man also überall arbeiten kann, wo es Strom und WLAN gibt, warum nicht den estnischen Staat für Nicht-Esten öffnen? Das Konzept dazu ist die e‑Residency. Die Polizei- und Grenzbehörde vergibt nach Hintergrundprüfung, gegen Gebühr, bei persönlicher Entgegennahme und Hinterlegung von Foto und Fingerabdruck eine elektronische ID-Card samt Lesegerät. Man darf natürlich nicht wählen, als Nicht-EU-Bürger auch nicht nach Estland ziehen, wohl aber bürokratiearm und ohne weitere persönliche Anreise eine Firma registrieren, Konten eröffnen und unternehmerisch loslegen. Und sich dabei im Netz mit einer staatlich verbürgten Identität bewegen und ausweisen, mit der man Verträge schließen und digital signieren kann. Wer sollte das tun wollen, kann man fragen. Nun, es sind längst zehntausende. Mal Ukrainer oder Inder, die in den EU-Binnenmarkt wollen, die sich auf die Strukturen eines verlässlichen und unternehmensfreundlichen Rechtsstaats mit Gründerkultur stützen wollen. Mal junge Briten, die ein Bein in der EU behalten wollen, ohne auszuwandern. Mal Südkoreaner, wo die estnische Präsidentin vor wenigen Tagen ein von einem privaten Partner betriebenes Ausgabezentrum für die e‑Residency eröffnet hat. Wieder ein Beispiel, wie man mit ‚0’ und ‚1’ Freiheit dekliniert. Und einen weiteren, wohl durchaus kalkulierten Aspekt hat die Verbreitung der e‑Residency: Die bislang mehr als dreißigtausend Karteninhaber sind stakeholder, vor allem, wenn ihre Unternehmen in Estland verankert sind. Sie würden auf der Welt Alarm schlagen, wenn das Land, das ihnen online Sicherheit gibt, in Gefahr gerät. Man muss sich mit allen Mitteln wappnen – am besten auf smarte Weise.
In meiner geschlossenen Facebook-Gruppe aus e‑Residents hat vor ein paar Tagen ein junger Geschäftsmann aus Tunesien mit einem Posting um Rat gefragt. Er muss seine ID-Karte wie alle anderen in einer estnischen Botschaft abholen (wo eben auch Fingerabdrücke genommen werden und die Identität überprüft wird). In Tunis gibt es aber nur ein estnisches Konsulat, und man hat ihn an die Botschaft in Istanbul verwiesen. Nun diskutieren stundenlang e‑Residents aus Algerien und der Türkei, aber auch andere Tunesier und ein Franzose, dass er natürlich nach Kairo reisen kann, vielleicht aber auch besser einfach nach Paris fliegt, um sich die Karte dort aushändigen zu lassen. Eine Australierin schlägt Rom vor. Wohlgemerkt, es geht nicht um die Unterstützung durch Frankreich, Italien oder die Türkei. Es geht immer nur um die meistgeeignete estnische Botschaft. Ein Nigerianer klagt dann, die Esten müssten mindestens vier Zentren in Afrika eröffnen. Der Tunesier mit der Ursprungsfrage pflichtet ihm bei: „Ich finde, sie müssen sich mehr um Afrika kümmern, es gibt ein großes Potential von Leuten, die Europa sonst nicht an ihren Talenten teilhaben lassen können.“
Estland wird 100. Ein Start-up hat sich globalisiert. Direktor Wikman wäre stolz auf seine Schüler.
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