Schwarz-Grün: Die neue Art zu koalieren

Die Grünen/​Cajetan Perwein

In Öster­reich entsteht ein neues Koali­ti­ons­prinzip, beobachtet unser Kolumnist Markus Schubert. Wenn zwei einander fernste­hende Parteien sich zusam­mentun und sich gegen­seitig Politik­felder zur Gestaltung überlassen, wird die politische Mitte breiter und stabiler. Wäre das „Koalieren im geregelten Dissens“ auch ein Regie­rungs­modell für die gespaltene Gesell­schaft hierzulande? 

„Du, glück­liches Öster­reich, koaliere!“ möchte man entlang eines histo­ri­schen Zitats ins Nachbarland rufen angesichts des Mutes, neue Wege zu gehen, um ein europäi­sches Land mittig und stabil zu halten. Übrigens war auch die im Original gelobte Heirats­po­litik des Hauses Öster­reich nicht auf Zuneigung der Partner gegründet, sondern auf eine Stabi­li­sierung der Herrschaft und des ganzen Konti­nents, insofern ist das Wortspiel nicht einmal abwegig. 

Portrait von Markus Schubert

Markus Schubert ist Moderator beim Hörfunk­sender NDR Info.

Dabei geht es hier weniger darum, Schwarz-Grün in Wien (nach der christ­de­mo­kra­ti­schen Neula­ckierung unter Parteichef Kurz ja offiziell Türkis-Grün) und seinem verein­barten Vertrag besondere inhalt­liche Strahl­kraft zu beschei­nigen. Und natürlich verweist hierzu­lande Grünen-Chef Robert Habeck, der sich nicht bei lager­über­grei­fenden Koali­ti­ons­ab­sichten erwischen lassen will, zurecht darauf, dass sich „die Regie­rungs­bildung nicht eins zu eins auf Deutschland übertragen“ lasse. Hat die CDU schon mit der AfD regiert, wie die ÖVP mit der FPÖ? Waren die Grünen zuletzt außer­par­la­men­ta­risch? Weder noch. Dadurch ist erklärbar – wenn man das Wahler­gebnis (ÖVP 37,5%  – Grüne 13,9% ) und die dreifache Koali­ti­ons­option der Volks­partei hinzu­nimmt -, dass die Grünen in Öster­reich weniger durch­setzen konnten als mutmaßlich die Grünen in Deutschland nach der kommenden Bundestagswahl.

Ein Modell für Berlin?

Aber darum soll es hier nicht gehen. Es geht um entschei­dende Verän­de­rungen an der Schnitt­stelle von policy und politics, die die Koali­ti­ons­ver­hand­lungen in Öster­reich ergeben haben und die mindestens eine Anregung sind, die Art der Regie­rungs­bildung, wie sie in Deutschland bisher prakti­ziert worden ist, zu verändern.

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Hier war man es lange gewohnt, dass stets Parteien koalieren, die sich im Grunde schon vor der Wahl dazu entschieden hatten (Union/​FDP 1983, 1987, 1990, 1994 und 2009 sowie SPD/​Grüne 1998 und 2002). Also konnte man, ohne Friedens­pfeife rauchen zu müssen, zentrale gemeinsame Vorhaben in einen Vertrag gießen, wobei die Volks­par­teien den „kleinen“ Koali­ti­ons­partnern gewis­ser­maßen noch „Hobbies“ wie Rechts­staat oder Umwelt­schutz überließen. Dann wurde vier Jahre der Vertrag abgear­beitet, und Regie­rungs- wie Opposi­ti­ons­par­teien stellten wieder Wahlpro­gramme auf, mit neuen Spiegel­strichen für neue Verträge in Koali­tionen, die zustande kamen oder eben auch nicht.

Die einst als Notfall gedachte Große Koalition, die seit der Jahrtau­send­wende zum Regelfall wurde, hat die Ausgangslage verändert, aber die Parteien haben darauf nicht reagiert. Nach der Wahl werden nun in Teilen inkom­pa­tible Wahlpro­gramme neben­ein­an­der­gelegt, und dann wird so lange alles kurz und klein verhandelt, bis sich niemand mehr wieder­findet: nicht die Fachpo­li­tiker der Parteien, nicht die Mitglieder, nicht die Wähler. Konzepte und Projekte wie die Energie­wende oder die Abschaffung des Solida­ri­täts­zu­schlags werden verbogen und verwässert, bis sie wirkungsarm oder gar dysfunk­tional sind, und sollen dennoch gemeinsam vertreten werden. Frustrierte Funkti­ons­träger lassen dann im Wahlkreis oder in Medien Luft ab über „die in Berlin“. Niemand kämpft für die Koalition, alle suchen ständig Alter­na­tiven, und der Wähler verstärkt die verhäng­nis­volle Entwicklung, indem er früher FDP und Linke, inzwi­schen eher AfD und Grüne stärkt und die Koalition und ihre Spitzen­po­li­tiker unter perma­nenten Umfra­ge­stress setzt. Vielleicht will der Wähler den dezimierten Volks­par­teien auf diese Weise eine Richtung ihrer Entwicklung vorschreiben – doch er fesselt die ungleichen Partner nur umso fester aneinander.

Warum Koali­ti­ons­ver­träge überschätzt sind

Weil Union und SPD spätestens nach drei Koali­ti­ons­jahren in Wahlkampf­modus verfallen und nach der Wahl gut ein halbes Jahr brauchen, um wieder zu regieren, festigt sich der Eindruck einer Regierung, die nicht regieren will und kann, die nur streitet. Die Bündnisse, von denen die unter­schied­lichen Wähler­gruppen träumen, haben keine rechne­rische Mehrheit, und die Große Koalition, derer man nach drei Kampfrunden überdrüssig ist, bleibt trotz allem das Auffang­becken in der politi­schen Mitte.

Der Denkfehler bei dieser Art der Regie­rungs­bildung ist, dass die Partner meinen, in einer Koali­ti­ons­ver­ein­barung gemeinsame Projekte festzurren und zusammen auf den Weg bringen zu müssen. Nun kann ein Vertrag zum Regie­rungs­start ohnehin nur die politische Gestaltung planbarer Entwick­lungen regeln und ist wegen der inter- und trans­na­tio­nalen Durch­dringung von Politik in seiner Bedeutung überschätzt. Trotzdem messen die Koali­tionäre den Erfolg am stati­schen Koali­ti­ons­vertrag und seiner Abarbeitung, nicht an der klugen Reaktion auf Heraus­for­de­rungen (Krisen von Euro bis NATO) und Entwick­lungen (Digita­li­sierung, Migration und Fachkräf­te­mangel). Das war diesmal sogar im Koali­ti­ons­vertrag als Halbzeit­bilanz vorge­schrieben und wurde lustlos abgeliefert. Es macht die Regie­rungs­arbeit undyna­misch und reform­scheu, wenn alle sich nach dem Prinzip sola scriptura hinter dem in Stein gemei­ßelten Vertrag verstecken.

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Was ist die Alter­native, und worin ist die neue Koalition in Wien besser? In einem Text für LibMod und für die öster­rei­chische Tages­zeitung „Der Standard hatte ich Anfang Oktober zu Beginn der Sondie­rungen umrissen, wie Koali­tionen von Parteien, die nicht mit ausge­brei­teten Armen aufein­ander zu rennen, pragma­tisch und erfolg­ver­spre­chend aufge­stellt werden sollten:

„Wenn sich die Parteien die Politik­felder (auch in den Ressorts) klug aufteilen, können beide, auch in ihre jeweilige Wähler­schaft hinein, zuver­lässig ‚liefern‘ – bei einem vertrau­ens­vollen und selbst­be­wusst artiku­lierten Antago­nismus, der durch die geteilte Regie­rungs­ver­ant­wortung vor einem Ausein­an­der­driften geschützt wird.“ 

Genau das ist nun das mal bestaunte, mal kriti­sierte Arbeits­prinzip der mit breitesten inner­par­tei­lichen Zustim­mungen verse­henen neuen Koalition.

ÖVP-Chef Kurz hatte schon im November nach den Sondie­rungen angedeutet, für eine Verein­barung mit den Grünen „wäre gegebe­nen­falls ein Stück weit Kreati­vität nötig“ und wies hier bereits auf die Kernbe­reiche Migration und Wirtschaft, bzw. bei den Grünen Umwelt­schutz hin. Man darf annehmen, dass die Konstruktion hier also schon in Umrissen stand. Bei der Präsen­tation des schließlich ausge­han­delten Koali­ti­ons­ver­trages kleidete er das dann in die griffige Formu­lierung, es sei gelungen, „uns nicht auf Minimal­kom­pro­misse gegen­seitig hinunter zu verhandeln, sondern das Beste aus beiden Welten zu vereinen.“

„Die K&K‑Variante der Merkel‘schen asymme­tri­schen Demobilisierung“

Auch Grünen-Chef Kogler hat bei mehreren Anlässen unter­strichen, es gehe um „neue Formen des Kompro­misses“. Was aber heißt das? Es geht darum, sich durch die Koope­ration und für die Koope­ration wechsel­seitig Gestal­tungs­spiel­räume zu verschaffen. Und so sehen es auch die öster­rei­chi­schen Medien: „Ein Pakt der zwei Handschriften“ titelte der ORF, während dem ‚Kurier‘ auffiel, wie „ungewöhnlich stark abgezirkelt“ die Bereiche der Partner seien.

Indem sich die Koali­ti­ons­partner gegen­seitig fast exklusive und durch Minis­terien abgesteckte Gestal­tungs­felder überlassen, um solche im Gegenzug anderswo zu rekla­mieren, sorgen sie für eine wichtige Imprä­gnierung des Bündnisses gegen Kritik und Angriffe von außen: Dass die ÖVP rekla­miert, die Migra­ti­ons­po­litik der Vorgänger-Koalition fortsetzen zu dürfen, während die Grünen den Klima­schutz als ihre Domäne rekla­mieren, muss nicht einmal der Wirklichkeit des Regierens entsprechen. Der ÖVP dürfte die durch­ge­setzte Steuer­reform ohnehin wichtiger sein, und zu entschlos­senen Klima­schutz­maß­nahmen zwingt ja schon das Pariser Abkommen die Republik Öster­reich. Aber es reicht, dass die beiden Partner sich diese Exklu­si­vi­täten nicht öffentlich bestreiten. So kann die ÖVP Beschwerden ihrer Wirtschafts­kli­entel wegen ökolo­gi­scher Auflagen unter Verweis auf Vertrags­treue zum Koali­ti­ons­partner achsel­zu­ckend beiseite wischen. Die Grünen haben sich das Lob von Umwelt­ver­bänden abgeholt und können darauf verweisen, dass die migra­ti­ons­kri­tische Rhetorik der ÖVP leider hinzu­nehmen ist. Übrigens ist es vor allem Rhetorik und Symbolik à la Kopftuch­verbot für Schüle­rinnen, und das genügt der ÖVP auch, um die Wähler, die sie frisch von der FPÖ abgeworben hat, auf ihrer Alm zu halten. Und selbst der vielbe­achtete „koali­ti­ons­freie Raum“, also die Verein­barung, dass die ÖVP bei krisen­hafter Zuspitzung der Zuwan­derung nach Europa wie 2015 andere parla­men­ta­rische Mehrheiten auf diesem Politikfeld suchen kann, ist kein Anzeichen  für Misstrauen in der Koalition, sondern im Gegenteil Ausweis von Vertrauen und, ja: Kumpanei. Die Grünen helfen Sebastian Kurz dabei, die Flanke zur FPÖ zu schließen, an der er bestürmt würde, wenn die Ein-Thema-Rechts­po­pu­listen wochen- oder monatelang behaupten können, mit ihnen gäbe es eine bessere Grenz­si­cherung als mit den Grünen. Kurz kann die FPÖ oder ihre Nachfol­ge­par­teien dann inhaltlich aufrufen, ohne seine Koalition zur Dispo­sition zu stellen. Springen sie, stärken sie Kurz, verweigern sie sich, margi­na­li­sieren sie sich weiter. Und die beiden Koali­ti­ons­partner machen ihr Bündnis damit schon für die kommende Wahl wetterfest, wenn sie als Koali­tionäre in einen Wahlkampf gehen. Kurz und Kogler haben die K&K‑Variante der Merkel‘schen asymme­tri­schen Demobi­li­sierung erfunden.

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Was heißt dies für Deutschland? Während sich die Reaktionen auf die ungewohnte Farben­lehre konzen­trieren, ist es reizvoller, zu fragen, warum Koali­ti­ons­partner im geregelten parti­ellen Dissens koalieren können. Je fremder die Koali­ti­ons­partner einander sind, je weniger sie mit denselben Themen um dieselben Wähler warben, umso eher können sie sich auf diese wechsel­seitige Einräumung von exklu­siven Politik­feldern verstän­digen und so in der Koalition verlässlich Profil behalten. Es gilt die kuriose Regel: je unter­schied­licher die Partner, desto stabiler die Koalition.

Man mag einwenden, dass ja Regieren irgendwie „aus einem Guss“ geschehen soll, dass viele Themen ja den Konsens mehrerer Minis­terien erfordern, und ja letzten Endes das Kabinett und natürlich die Kanzlerin/​der Kanzler für die gesamte Regierung stehen und einstehen müssen. Alles richtig. Aber im födera­lis­ti­schen und supra­na­tio­nalen Regieren auf vielen Ebenen stehen ohnehin schon viele Köche in der engen Küche: Von Landes­re­gie­rungen im Bundesrat bis zur Abstimmung wichtiger Agenden in den europäi­schen Minis­ter­räten, in denen (im konstanten flow) Regie­rungs­ver­treter immer neu ihre Tisch­kärtchen aufstellen und ihre Parteien vertreten.

Und auch das Grund­gesetz wäre mit solchen Koali­ti­ons­mo­dellen mehr als geduldig: Die Verfassung sieht seit jeher ein Spannungs­ver­hältnis von Ressort­prinzip und Kabinetts­prinzip vor, wobei ersteres hier eben deutlich gestärkt würde. Man kann das Koalieren im geregelten Dissens als eine Fortführung der verfas­sungs­mä­ßigen Macht­teilung betrachten.

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Im November hat das Institut für Demoskopie Allensbach die Anhänger von Schwarz-Grün erschreckt: Diese Koali­ti­ons­paarung ist und bleibt unbeliebt, auch wenn die Umfra­ge­werte für beide Parteien ein Zusam­men­gehen nahelegen. Und es sind vor allem die Anhänger von Union und Grünen selbst, die andere Bündnisse bevor­zugen. Aber das kann weder überra­schen, noch muss es entmu­tigen: In Öster­reich war bei der Frage nach der gewünschten Koalition Türkis-Grün vor und noch kurz nach der Wahl ein Außen­seiter, um es vorsichtig zu sagen. Mit Beginn der Sondie­rungs­ge­spräche und im weiteren Verlauf der Verhand­lungen stieg die Zustimmung zu dieser Konstel­lation bereits konti­nu­ierlich an. Es braucht ein wenig Erfahrung und Gewöhnung, bis man als Wähler Vertrauen fasst, dass bisherige Opponenten vertrau­ensvoll koope­rieren können.

Die Zeit von „Wunsch­ko­ali­tionen“ ist in Deutschland und anderswo seit dem Anschwellen des Rechts­po­pu­lismus vorbei. Wenn Parteien das reali­sieren, und wenn sie ihre Koalition nicht mit einer Fusion verwechseln, können sie eine tragfähige neue politische Mitte etablieren.

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