Mehr Empathie wagen: Gerhard Baums „Freiheit – ein Appell“

Foto: Cover, Benevento Verlag

In seinem neuen Buch wirbt Gerhart Baum für einen Libe­ra­lismus des Zusam­men­halts und der Verant­wor­tung. Von Hans F. Bellstedt

Für Frei­heits­freunde sind die pande­mie­be­dingten Einschrän­kungen zahl­rei­cher Grund­rechte eine Zumutung. Für reflek­tierte Liberale wiederum sind Ausgangs­sperren oder Reise­ver­bote in erster Linie eine intel­lek­tu­elle Heraus­for­de­rung. Liberale (Vor-)Denker fragen, wie weit das Frei­heits­ver­spre­chen des Grund­ge­setzes im Angesicht akuter Lebens­ge­fähr­dung tatsäch­lich reicht, und vermessen den heiss umkämpften Raum zwischen Öffnungs­lust und Lebens­schutz. Im vergan­genen Jahr haben Alexander Kluge und Ferdinand von Schirach in ihrem Büchlein „Trotzdem“ darüber einen ange­regten Dialog geführt. Nun hat Gerhart Baum, diese Galli­ons­figur des (Sozial-)Liberalismus, eine Schrift vorgelegt, die beiden Seiten – den Vorkämp­fern unbe­dingter Freiheit wie den Vertei­di­gern harter staat­li­cher Eingriffe – zur Lektüre anemp­fohlen sei: „Freiheit. Ein Appell“.

Baum, 88 Jahre alt, Bundes­in­nen­mi­nister unter Bundes­kanzler Helmut Schmidt (SPD) von 1978 bis 1982, schöpft aus der Erfah­rungs­tiefe eines wahrhaft reich­hal­tigen Lebens. Zur Welt gekommen als „Enkel eines Mannes, der in Charkow in der Ukraine geboren ist“, und als Sohn einer in Moskau geborenen Mutter, floh der damals 12jährige Gerhart im Februar 1945, nach der Zerstö­rung Dresdens, mit eben­dieser Mutter und seinen beiden Geschwis­tern nach Bayern. Ein Privat­ge­lehrter, der Histo­riker Adolf Grote, führte ihn an die Werke Thomas Manns, Stefan Georges und Hugo von Hofmannst­hals heran. Unter Grotes Einfluss, so schreibt Baum, wurde „aus Wut über die deutsche Schuld bald kämp­fe­ri­sche Leiden­schaft für die Freiheit“ – eine Passion, die seinen künftigen Lebensweg als Anwalt, FDP-Politiker und Vertei­diger der Menschen­rechte bestimmen sollte.

Baum steht unbe­irrbar für eine Variante des Libe­ra­lismus, die ihren Höhepunkt in den 1970er Jahren hatte. Bildung für alle, Straf­rechts­re­form, Leben im Einklang mit der Natur sowie Toleranz gegenüber Minder­heiten – für diese Ziele stritten die „Reform­li­be­ralen“ und ganz besonders die Jung­de­mo­kraten um Gerhart Baum und Günther Verheugen. Program­ma­ti­scher Kris­tal­li­sa­tions- und Höhepunkt dieser Strömung waren die legen­dären „Frei­burger Thesen“ von 1971, für die Werner Maihofer (Baums Vorgänger als Bundes­in­nen­mi­nister) und FDP-Gene­ral­se­kretär Karl-Hermann Flach verant­wort­lich zeich­neten. Damals saß Willy Brandt bereits zwei Jahre im Bonner Kanz­leramt, mit den Freien Demo­kraten als Koali­ti­ons­partner. Für Baum war „Freiburg“ mit seinem betont kapi­ta­lis­mus­kri­ti­schen Impetus das „konse­quent an der ‚Aufklä­rung‘ orien­tierte Programm eines sozialen Libe­ra­lismus“. Genau dies aber rief in der Folge die Wirt­schafts­li­be­ralen auf den Plan, die nur ein knappes Jahrzehnt später mit dem „Lamb­s­dorff-Papier“ den sozi­al­li­be­ralen Höhenflug radikal beendeten. Als Innen­mi­nister überlebte Baum dieses waghal­sige Manöver nicht.

Heute, so Baum, sei unsere Freiheit „gefährdet“ und unser Leben in Freiheit „nicht selbst­ver­ständ­lich“. Die Bedro­hungen seien mannig­fach. So baue der Staat seine Über­wa­chungs­mög­lich­keiten im Namen der inneren Sicher­heit immer weiter aus, speichere Daten auf Vorrat und dehne gezielt die Befug­nisse der Behörden aus, präventiv einzu­greifen. Im privaten Sektor seien es die globalen Digi­tal­kon­zerne, die unsere Privat­sphäre mißach­teten, uns syste­ma­tisch ausleuch­teten und unser Verhalten mani­pu­lierten. Zu Recht werde daher ihre Zerschla­gung disku­tiert. Gefähr­dungen der frei­heit­li­chen Demo­kratie gingen ebenso von Verschwö­rungs­theo­re­ti­kern und rechts­ra­di­kalen „System­ver­äch­tern“ aus. Schließ­lich blickt Baum mit Argwohn auf die auto­ri­tären Regime in China und Russland, denen er Aggres­si­vität, Unter­drü­ckung und „außen­po­li­ti­sche Kraft­meierei“ vorwirft.

Erhellend ist Baums Blick auf die Corona-Maßnahmen: Bei aller Leiden­schaft für die Freiheit ist für ihn unstrittig, dass „das Maß unserer Freiheit in der Pandemie an die Soli­da­rität und Vernunft aller geknüpft ist“. Hier kommt der Kantianer in Baum zum Vorschein, der Freiheit zuvor­derst als sittliche Kategorie inter­pre­tiert. Um Tod und Leid zu verhin­dern, so Baum, sind empfind­liche Einschnitte in die Freiheit notwendig. Der Lebens­schutz sei die „vitale Basis der Menschen­würde“ – und das gelte auch in einer Pandemie. Mit dieser eindeu­tigen Posi­tio­nie­rung grenzt sich Baum sowohl von Bundes­tags­prä­si­dent Wolfgang Schäuble (CDU) als auch und besonders von seiner eigenen Partei ab, die gegen die Soli­da­rität mit Vielen vehement die indi­vi­du­ellen Rechte des Einzelnen in Stellung bringt.

Zu einseitig fällt Baums Blick auf die Wirt­schaft aus. Manager, so schreibt er, seien von Gier getrieben. Unter­nehmen nutzten Steu­er­oasen, täuschten ihre Käufer und betrieben „dunkle Finanz­ge­schäfte“. Dem freien Markt müssten „Zügel angelegt“ werden, damit es nicht zu Exzessen („Raub­tier­ka­pi­ta­lismus“) komme. Dass seit der Finanz­krise durchaus ein Umdenken in Richtung eines „Stake­holder Value“ einge­setzt hat, und dass der Trend in Richtung „purpose“ wesent­lich von Finanz­in­ves­toren wie Blackrock & Co. einge­leitet wurde, übersieht Baum geflis­sent­lich. Umso mehr wirbt er für einen „empa­thi­schen Libe­ra­lismus“, der die „abstiegs­ge­fähr­deten Mittel­schichten“ nicht alleine lässt und den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt im Auge behält.

Ein hoff­nungs­loser Nost­al­giker ist Gerhart Baum, der Ralf Dahren­dorf verehrt und John Rawls zitiert, keines­wegs. So fordern jüngere Liberale wie Ria Schröder, Katja Suding, Johannes Vogel und Konstantin Kuhle „Talent­schulen“ für Kinder aus prekären Haus­halten, ein „Midlife-Bafög“ sowie eine „faire Basis­rente“ als Alter­na­tive zu Hubertus Heils Grund­rente. Tatsäch­lich lässt das Bundes­tags­wahl­pro­gramm der FDP bei näherer Betrach­tung erkennen, dass die Wirt­schafts­li­be­ralen nicht (mehr) allein den Ton angeben. Sozi­al­li­be­rale Beimi­schungen machen die FDP anschluss­fä­higer für neue Koali­ti­ons­op­tionen. Für Gerhart Baum könnte dies eine späte Genug­tuung bedeuten.

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