Populismus im globalen Süden: Das Beispiel von Jair Bolsonaro

Der brasi­lia­nische Präsi­dent­schafts­kan­didat Jair Bolsonaro bei eine Kundgebung am 6.9.2018. Foto: Antonio Scorza/​Shutterstock

In Brasilien gibt es kaum Einwan­derung. Der Islam spielt keine Rolle. Auch gibt es keine supra­na­tionale Insti­tution wie die EU, an die Brasilien staat­liche Kompe­tenzen abgeben würde. Dennoch hat sich auch in Brasilien ein natio­na­lis­ti­scher Populismus durch­ge­setzt. Was verbindet Jair Bolsonaro mit Viktor Orbán und Donald Trump?

Europa erfuhr in den letzten zehn Jahren eine zuneh­mende Präsenz autori­tärer populis­ti­scher Persön­lich­keiten und politi­scher Platt­formen. Promi­nente Persön­lich­keiten übernahmen Spitzen­po­si­tionen in Regie­rungen. Der Anteil populis­ti­scher Parteien in den Parla­menten nahm zu.

Inter­es­san­ter­weise ist dieses Phänomen jedoch nicht nur auf den Westen beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf den Rest der Welt. Latein­amerika hat zum Beispiel genau die gleiche Art eines populis­ti­schen Aufstiegs erlebt, obwohl die Region bei weitem nicht so stark von Problemen betroffen ist, die von westlichen Natio­na­listen attackiert werden. Der Mercosur (Gemein­samen Markt Südame­rikas) oder die Organi­sation Ameri­ka­ni­scher Staaten haben noch einen langen Weg vor sich, um das Maß an Durch­dringung und Wirkung zu erreichen, das mit der Europäi­schen Union vergleichbar wäre. Darüber hinaus stellen weder der Islam noch Einwan­derung eine spürbare ‚Bedrohung‘ für die Hegemonie südame­ri­ka­ni­scher Kulturen dar. Sie sind geogra­fisch von Auswan­de­rungs­länder abgeschnitten, weisen kaum koloniale Verbin­dungen solchen Ländern auf und bieten weniger wirtschaft­liche Anreize, die Einwan­derer von außen anziehen. Trotzdem ist es populis­ti­schen Regimen gelungen, die Dominanz der Liberal- und Sozial­de­mo­kraten der frühen 2000er Jahre mit einer sehr ähnlichen Rhetorik wie in Europa zurückzudrängen.

Die ungleichen Voraus­set­zungen, die aller­dings zu ähnlichen Ergeb­nissen führen, werfen uns ein inter­es­santes Rätsel auf. Welche Verbindung könnte zwischen dem brasi­lia­ni­schen Jair Bolsonaro, dem ungari­schen Viktor Orbán, dem US-ameri­ka­ni­schen Donald Trump und dem philip­pi­ni­schen Rodrigo Duterte bestehen, wenn alle bei oberfläch­licher Betrachtung in so unter­schied­lichen Reali­täten operieren? Mit Blick auf den spezi­fi­schen Fall Brasi­liens werde ich versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Dabei werde ich eine Verbindung von Faktoren heraus­ar­beiten, die diese Akteure vereinen, nämlich: (i.) Den Verlust an ‚Momentum‘ der sozialen oder klassi­schen liberalen Demokratien im letzten Jahrzehnt aufgrund der Umformung der Weltwirt­schaft; und (ii.) die Instru­men­ta­li­sierung der durch die Globa­li­sierung verur­sachten Unzufrie­den­heiten durch populis­tische Rhetorik.

Die Erosion der Wohlfahrtsstaaten

Die Unsicher­heiten und Unzufrie­denheit derje­nigen, die Populisten wählen, sowie das allge­meine Misstrauen gegenüber anderen gemäßigten Alter­na­tiven sind oft tief in der Gesell­schaft verwurzelt und besitzen bis zu einem gewissen Grad demokra­tische Legiti­mierung. Politik ist gleich­zeitig sowohl eine Reflexion ihres Kontextes als auch ein Beitrag zu dem Kontext selbst.

Der Kontext, der die beste Antwort auf das Rätsel zu geben scheint, ist der der Globa­li­sierung der Volks­wirt­schaften. Sie ist sowohl ein Neben­produkt des Nachkriegs­en­ga­ge­ments zur Schaffung fried­licher, vonein­ander abhän­giger Gesell­schaften durch multi­la­terale Abkommen als auch ein Ergebnis techno­lo­gi­schen Fortschritts. Die Art und Weise, wie die Menschheit früher handelte, sich an Finanz­trans­ak­tionen, Kommu­ni­kation und Bewegung rund um den Globus betei­ligte, wurde revolu­tio­niert. Diese Verän­de­rungen schoben den Schwer­punkt der Volks­wirt­schaften vom Paradigma der inlän­di­schen Selbst­ver­sorgung auf das Paradigma der inter­na­tio­nalen Wettbe­werbs­fä­higkeit. Arbeit als auch Kapital lassen sich heute global und frei gestalten, um die Ausgangs­leistung und Gewinn­spannen zu optimieren. Dieser Trend wurde darüber hinaus durch den zuneh­menden Anteil inter­na­tio­nalen Handels und von Auslands­in­ves­ti­tionen am Brutto­in­lands­produkt der meisten Nationen verstärkt.

In der Praxis bedeutete dies beispiels­weise, dass arbeits­in­tensive Indus­trien ihre Gewinn­margen optimieren konnten, indem sie die Produktion dort ansiedeln, wo Arbeits­kräfte billiger waren. Nationen, die versuchten, den Verlust von Indus­trien und die daraus resul­tie­renden sozialen und wirtschaft­lichen Spannungen zu vermeiden, mussten Wettbe­werbs­be­din­gungen anbieten, die die Nieder­lassung solcher Indus­trien sicher­stellt. Die Schaffung solcher Bedin­gungen führte wiederum zu Steuer­ver­güns­ti­gungen, einem leich­teren Zugang zu Kredit­linien und natürlich zu einer Reduzierung der Arbeits­kosten. Die ersten beiden Maßnahmen bedeuten mögli­cher­weise, dass der Staat weniger Steuer­ein­nahmen generieren könnte und daher gezwungen wäre, seine eigenen Budgets zu kürzen und damit seine Spiel­räume reduziert, um sich auf diese neue Realität einzu­stellen. Die Reduzierung von Arbeits­kosten bedeutet, dass mögli­cher­weise einige Arbeits­rechte zurück­ge­nommen werden müssten, um die wirtschaft­liche Belastung des Arbeit­gebers zu verringern und die Wettbe­werbs­fä­higkeit seiner Unter­nehmen zu verbessern.

Am Ende dieser Entwicklung gab es eine neue globale Ordnung, die ihre Mitglieder viel stärker mitein­ander verband und viel reaktiver auf Markt­trends reagieren ließ. Nach Jahrzehnten der „Leistungs­op­ti­mierung“ wurde viel Wohlstand geschaffen und ein Teil davon ist von den Kapital­ei­gen­tümer zu den Arbeitern „herun­ter­ge­si­ckert“. Allgemein betrachtet wurde die Armut rund um den Globus verringert. Dies geschah aber auf Kosten der Wohlfahrt, da jetzt die Staaten weniger Kapazi­täten hatten, Sicher­heits­netze anzubieten. Arbeits­rechte konnten nur auf einem wettbe­werbs­fä­higen Minimum realis­tisch gewährt werden. Obwohl diese Trans­for­ma­tionen in gewissem Sinne eine wirtschaft­liche Entwicklung ermög­lichten, verur­sachten sie zugleich auch materielle Unsicherheit und Ressen­ti­ments in der Bevöl­kerung. Sie richteten sich insbe­sondere gegen den Staat, der sich als progressiv nachlässig erwies. Diese Stimmung war eine Steil­vorlage für Populisten.

Umwand­lungen im Süden

Eine populäre Annahme vielen Menschen aus Indus­trie­ländern ist, dass die Entwick­lungs­länder die Vorteile des Globa­li­sie­rungs­deals erbten. Angeblich wanderten Inves­ti­tionen und einhei­mische Unter­nehmen von den Indus­trie­ländern in die Entwick­lungs­länder ab, und diese hätten weitgehend davon profi­tiert. Dies gilt zwar mit Vorbehalt für manche Entwick­lungs­länder. Es war nicht ungewöhnlich, dass sie bis vor kurzem ein jährliches BIP-Wachstum von 10% erzielen und Millionen ihrer Bürger wurden der Armut entrissen. Diese Einschätzung bleibt jedoch unvollständig.

Im Gegenteil bemerkten die meisten Entwick­lungs­länder schnell, dass ihre im Aufbau befind­lichen Indus­trien wieder verschwanden, als ihre Märkte von billi­geren und quali­tativ hochwer­ti­geren Waren überflutet wurden, die wieder anderswo herge­stellt wurden. Dadurch wurden sie stärker vom Handel abhängig und konso­li­dierten sich als Rohstoff­her­steller. Ein großer Teil des von einge­wan­derten Unter­nehmen produ­zierten Reichtums wurde häufig an auslän­dische Inves­toren und deren Heimat­länder zurück­ge­führt. Die bestehenden Ungleich­heiten wurden verstärkt, selbst wenn sich die Armut insgesamt verringert. Darüber hinaus verblieben techno­lo­gie­in­tensive Indus­trien in ihren Heimat­ländern, da die hierfür nötigen quali­fi­zierten Arbeits­kräfte sich noch dort konzen­trierten. Nur einfa­chere Teile der Produk­ti­ons­kette gingen in die Entwick­lungs­länder des Südens.

Die Globa­li­sierung der Wirtschaft bedeutete nicht, dass der Globus nun gemeinsam an einem Tisch saß und Arbeit und Kapital gleich­mäßig verteilte. Die Verteilung von Arbeit und Kapital wurde nun lediglich nach inter­na­tio­nalen und nicht länger nach natio­nalen Kriterien organi­siert. Der Norden dominierte für den größten Teil der Nachkriegszeit über 70% des weltweiten Handels.

Das heißt, die Vorteile der Globa­li­sierung für den Süden werden von globalen Norden oft überschätzt. Obwohl Entwick­lungs­länder mit starken Primär­sek­toren besser als dieje­nigen, die in der Nachkriegszeit auf die Entwicklung ihrer Sekun­där­sek­toren gesetzt hatten, mit der Globa­li­sierung zurecht­kamen, blieben sie weiterhin für dieselben globa­li­sierten Trends des inter­na­tio­nalen Handels und die Folgen der Vernetzung der Märkte anfällig. Folglich überrascht es nicht, dass beide Hemisphären in engen Zeiträumen Wirtschafts­krisen und das Auftreten des autori­tären Populismus ertragen mussten.

Nährboden für (Neo-)Populismus

Natürlich ist materielle Not nicht der einzige Faktor, der zu antide­mo­kra­ti­schen Einstel­lungen führt. Wenn wir zum Beispiel den Aufstieg von jemandem wie Hugo Chavez an die Macht analy­sieren wollten, müssten wir viele Überle­gungen zum politi­schen System Venezuelas anstellen. Das Land ist bekannt dafür, lähmende Defizite der demokra­ti­schen Reprä­sen­tation aufzu­weisen, die von abgeho­benen Parteien und einer vom Petro­dollar abhän­gigen Patronage verur­sacht wurden. Dennoch scheint der wirtschaft­liche Aspekt immer noch der stärkste Prädiktor für die wachsende Sympathie für autoritäre Persön­lich­keiten zu sein. Jemand wie Chavez wäre wahrscheinlich nie aufge­stiegen, wenn seine Vorgänger in den neunziger Jahren wirtschafts­po­li­tisch nicht dauerhaft versagt hätten.

Unter den beschrie­benen Umständen dringen selbst in den funkti­ons­fä­hi­geren politi­schen Systemen populis­tische Parteien in die Parla­mente vor. Mit etwas Pech wird das System in dem Maße gestört, das eine explizit autoritäre populis­tische Regierung möglich wird. Dies wird insbe­sondere dann wahrscheinlich, wenn sich die Opposition wegen Strei­tig­keiten zersplittert oder nicht vermag, die Wähler in vergleich­barem Maße wie die populis­ti­schen Bewegungen zu mobilisieren.

 Der Aufstieg Jair Bolso­naros zur Präsidentschaft

Jair Bolsonaro war die meiste Zeit seines Lebens ein unschein­barer Abgeord­neter des Parla­ments, lediglich bekannt für seine Treue zu seiner Corpo­ration (das Militär), und für seine gelegent­liche Polemik im Form von sehr offen rassis­ti­schen, frauen­feind­lichen oder auch geschichts­re­vi­sio­nis­tisch Äußerungen, die diverse latein­ame­ri­ka­ni­schen Dikta­turen verherr­lichen.  Er blieb ohne bedeu­tende Beiträge, politi­schen Einfluss oder Führungs­qua­li­täten ein nieder­ran­giger und obskurer Politiker, der sich damit begnügte, seine Freunde und die ganze Familie in der öffent­lichen Verwaltung zu beschäf­tigen. In den Jahren vorn 2015 änderte sich jedoch alles.

Eine Mischung aus schlechtem Timing und grobem Missma­nagement führte das Land zu seiner schwersten Wirtschafts­krise seit den 1980er Jahren, das als Latein­ame­rikas „verlo­renes Jahrzehnt“ galt. Die Krise beendete einen seit 1999 andau­ernden Aufstieg. Brasilien gedieh zuvor aufgrund seiner Annäherung an China und eines ziemlich günstiger Rohstoff-Super­zyklus (der „Rohstoffboom der 2000er Jahre“). In den 2010er Jahren ging die Nachfrage aufgrund der globalen Rezession zurück. Die Wirtschafts­ziele Chinas verschoben sich hin zu einer Autonomie gegenüber auslän­di­schen Rohstoffen. Die von der damaligen Präsi­dentin Dilma Rousseff geführte Regierung tat sich schwer damit, wirtschaftlich über die Runden zu kommen. Sie griff auf kreative Buchhaltung zurück, um den Verpflich­tungen der Sozial­pro­gramme ihrer Partei nachzu­kommen. Die Aufde­ckung dieser finan­zi­ellen Verstöße führte zum Sturz der Präsi­dentin, zu mehreren Koali­ti­ons­brüchen und zu parla­men­ta­ri­schem Still­stand. Diese Entwick­lungen machten eine wirtschaft­liche Erholung schwierig und konflikt­reich. Darüber hinaus sorgten die folgende Rücknahme von Wohlfahrts­pro­grammen sowie die herrschende Wahrnehmung von Verwal­tungs­ver­sagen und Korruption selbst bei den stärksten Unter­stützern der Regierung für Ressen­ti­ments und Apathie.

In diesem Moment rückt sich Bolsonaro mit komisch wirkenden und grotesken Kommen­taren ins Rampen­licht. Er ergriff die Gelegenheit, verein­fa­chende und radikale Lösungen anzubieten und sich als völlige Antithese dem, „was da draußen war“, darzu­stellen. Er prahlte mit seiner Verbindung zum Militär und befeuerte triviale Gefühle des Verrats durch die Eliten. So konnte er die Wähler davon überzeugen, dass er ein „guter Bürger wie Du und ich“ sei und die Dinge wieder in Ordnung bringen könne. Viele sahen seine Unhöf­lichkeit nicht als Ausweis für die Barbarei seiner Ansichten, sondern für sein tief empfun­denes Engagement für die Nation. Wie wir habe auch er genug von allem und die Zeit sei vorbei, in der man sich hinter der unauf­rich­tigen Höflichkeit der tradi­tio­nellen Politik verstecken konnte. Die Tatsache, dass er sein Leben lang unbekannt und unauf­fällig geblieben war, spielte ihm nur in die Hände. So konnte er seine Fassade trotz unabweis­barer biogra­fi­scher Wider­sprüche aufrechterhalten.

Wie nicht anders zu erwarten, eroberten Bolsonaro mit seiner reaktio­nären Agenda mit den Wahlen 2018 das Land auf allen Ebenen und in allen Gewalten.

Die Schaffung des illibe­ralen Liberalen

Eine besondere Heraus­for­derung bestand für Bolsonaro darin, eine politische Agenda und Narrative zu erfinden, die unter­schied­liche von der globalen Krise verur­sachten Unzufrie­den­heiten zusam­men­bringt. Für ihn war es ein Glücksfall, dass ein Teil davon bereits in einer anschau­lichen populis­ti­schen bzw. alt-right-„Anleitung“ zusam­men­ge­fasst worden war und direkt unter dem Einfluss von Steve Bannon, Trumps umstrit­tenen Strategen, einge­führt wurde.

Bolsonaro war in der Lage, drei einfluss­reiche Gruppen der brasi­lia­ni­schen Gesell­schaft zu mobili­sieren, nämlich (i.) die Neo-Pfingst-Evange­li­kalen, (ii.) Streit­kräfte und Militär­an­ge­hörige sowie (iii.) Ultra­li­berale und Großgrund­be­sitzer. Als vierte, wenn auch weniger konstante Unter­stüt­zer­gruppe können die allgemein Unzufrie­denen gelten. Bolsonaro konnte letztere jedoch weniger durch konkrete Angebote, als durch das Versagen Opposition für sich gewinnen.

Der wichtigste Mobili­sie­rungs­faktor war der durch den Globa­li­sie­rungs­prozess ausge­löste kultu­relle Wandel. Dieses Thema wird von Sozial­theo­re­tikern als Idee der „posttra­di­tio­nellen Gesell­schaften“ behandelt. Verkürzt gesagt bedeutet diese These, dass die in den vorher­ge­henden Abschnitten erörterten globalen Verän­de­rungen zu einer erheb­lichen Verstäd­terung führen, die wiederum Gesell­schaften hervor­bringt, die im Zuge der zuneh­mende Bedeutung von Industrie, Handel und digitalen Medien besser ausge­bildet, wissen­schaftlich leistungs­fähig und inter­kul­turell sind. Im Ergebnis entsteht eine Gesell­schaft, die selbst­re­fle­xiver und in der Lage ist, alte Tradi­tionen zu hinter­fragen, oder nur dieje­nigen beizu­be­halten, die mit diesem neuen Werte­rahmen kompa­tibel sind. Negative Einstel­lungen beispiels­weise gegenüber sexuellen oder ethni­schen Minder­heiten und dem fremden „Anderen“ werden mit der Zeit hinter­fragt. Tradi­tio­na­listen, die darauf beharrten, ihre Vorur­teile aufrecht­zu­er­halten, werden mit Kritik bedacht. Für einige Bereiche der Gesell­schaft, die stark mit Tradi­tionen verbunden sind, wie Monar­chisten oder ortho­doxere religiöse Gruppen, bedeutet diese Entwicklung eine existen­tielle Bedrohung, beruht doch offen­sichtlich ein Großteil ihrer Macht auf der unhin­ter­fragten Treue ihrer Anhänger.

Wie im Westen reagieren auch in Brasilien autoritäre Populisten auf diese Werte­ver­schiebung mit Anschul­di­gungen gegen das intel­lek­tuelle Estab­lishment. Eine angeblich „links­do­mi­nierte Wissen­schaft“ würde die Bevöl­kerung einer Gehirn­wäsche unter­ziehen, um entweder die westliche Zivili­sation und die tradi­tio­nelle Familie zu zerstören oder still­schweigend eine kommu­nis­tische Revolution ins Werk zu setzen. Da gegen die Vormacht­stellung der wissen­schaft­lichen Erkenntnis wenig auszu­richten ist, nutzen populis­tische Experten häufig Pseudo­wis­sen­schaft oder veraltete Forschung, um das Estab­lish­ments der angeb­lichen Heuchelei zu überführen und so verär­gerte Tradi­tio­na­listen in ihren Vorur­teilen zu bestä­tigen. Themen wie Abtreibung, Gleich­stellung der Geschlechter, gleich­ge­schlecht­liche Ehe, Trans-Rechte, Sexual­erziehung und Klima­wandel sind Gegen­stände, die sich gut für diese Zwecke eignen und polemisch zuspitzen lassen. Auf lokaler Ebene spielt histo­ri­scher Revisio­nismus mit Blick auf Sklaverei, das brasi­lia­nische Reich und das Militär­regime eine wichtige Rolle für die Wieder­her­stellung der Idee einer glorreichen, unbelas­teten Vergan­genheit. Mit einem Mal sahen Evange­likale, Militärs, Großgrund­be­sitzer und Monar­chisten ihre Würde und kultu­relle Bedeutung wiederhergestellt.

Eine Beson­derheit des brasi­lia­ni­schen Neopo­pu­lismus im Vergleich zur europäi­schen Variante ist die Konzen­tration auf den inneren Feind, um die Rhetorik „Wir gegen Sie“ zu bedienen. Der Feind wird auf lockere Weise mit dem Kommu­nismus in Verbindung gebracht. Es zeigt sich eine Art McCar­thy­ismus. Dem Feind wird unter­stellt, veral­teten und vermutlich genozi­dalen Ideen anzuhängen, vom linken globalen Estab­lishment manipu­liert zu sein und das nationale Interesse aus den Augen verloren zu haben. Abgesehen vom Mainstream-Obsku­ran­tismus (etwa Verschwö­rungs­theorien vom sog. „Kultur­mar­xismus“, über George Soros oder den Deep State) richten Bolso­na­ristas ihre Schmä­hungen gegen das Forum von Sao Paulo, einer Verei­nigung latein­ame­ri­ka­ni­scher Parteien, die sich der Integration der Region verschrieben haben. Ein weiteres Feindbild ist der Boliva­ria­nismus, eine andere lose definierte Ideologie, inspi­riert vom latein­ame­ri­ka­ni­schen Befrei­ungs­kämpfer Simón Bolivar.

Die Verbindung der Bolso­na­ristas zu Ultra­li­be­ralen rührt teilweise von daher. Sie beruht aber auch auf der Tatsache, dass die Ultra­li­be­ralen die Antithesis zur früheren Verwaltung darstellen. Die bolso­na­ris­tische Lesart der Krise von 2015 legt kein Wert auf Erklä­rungen, die inter­na­tionale Zusam­men­hänge mit einbe­ziehen. Sie stellt allein auf die Schuld der Vorgän­ger­re­gierung und der „korrupten alten Politik“ ab. Allem, was als Teil des Staats gilt, wird unter­stellt, korrupt und ineffi­zient zu sein. Die Nation sei deshalb mit weniger Staat besser aufge­stellt. So sollen z.B. keine Vorschriften oder Sozial­pro­gramme zugelassen werden, die wichtige Markt­kräfte verzerren. Selbst­ver­ständlich bilden die bewaff­neten Kräfte hierbei die einzige Ausnahme. Schließlich kämpfen sie direkt gegen Korruption und Kriminalität.

Einige der Unzufrie­denen sind mit der völligen Annul­lierung der Sozial­po­litik des Staates nicht einver­standen. Aber die Brasi­lia­nische Arbei­ter­partei von Lula da Silva und Dilma Rousseff war als Alter­native abschre­ckend genug, um die Stimme dann doch dem Bolso­na­rismus zu geben.

Fazit

Der tradi­tio­na­lis­tische, natio­na­lis­tische und libertäre Populismus der 2010er Jahre, der von Bolsonaro und anderen prakti­ziert wird, trägt viele Spannungs­zentren in sich. Nach weniger als eineinhalb Jahren im Amt hatte Bolsonaro bereits seine Koalition gesprengt, die wichtigsten Minister verloren und seine eigene Partei verlassen. Er säte Zwiespalt zwischen den Macht­zentren, einschließlich der Exekutive selbst. Infolge eines ungerecht­fer­tigten, ideolo­gi­schen Kreuzzug gegen Kommu­nisten und Muslime und einer unerschüt­ter­lichen Treue zu Donald Trump kappte seine Regierung wichtige Verbin­dungen zu arabi­schen Ländern und China – zwei der wichtigsten Handels­partner Brasi­liens. Auch innerhalb Bolso­naros Unter­stüt­zungs­basis kam es zu Zerwürf­nissen. Evange­likale und Tradi­tio­na­listen billigten sein Vorgehen, während Ultra­li­berale drohten, die Regierung zu verlassen, da sie pragma­ti­schere Absichten für die Wirtschaft verfolgten. Folge­richtig hat Bolsonaro keine wesent­lichen Wirtschafts­re­formen zustande gebracht und ist nun gezwungen, sich zu hohen politi­schen Kosten mit den von ihm verun­glimpften Zentrums­par­teien zu arrangieren.

Dennoch bleibt die Lehre für den Teil der Welt, der immer noch an den inhärenten Wert der liberalen Demokratie glaubt: Die Menschen sind desil­lu­sio­niert und verun­si­chert über die Zukunft der globa­li­sierten Welt. Wenn auf inter­na­tio­naler Ebene keine vernünf­tigen Durch­brüche erzielt werden (insbe­sondere beim Thema der Regulierung des Finanz­systems), um ihnen Sicherheit und gleich­zeitig Vertrauen in das politische System zurück­zu­geben, könnten die Tage fried­licher Inter­de­pendenz und demokra­ti­scher Ratio­na­lität gezählt sein. Demokraten müssen sich zusam­mentun und Kompro­misse schließen. Sonst wird die Art von Verfas­sungs­krise, wie sie derzeit Brasilien erlebt, um sich greifen und die Lösung wahrscheinlich weder einfach noch harmlos sein.

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