Europas Daten­di­lemma – und wie es sich lösen lässt

Der ehemalige Datenschutzbeauftragte Peter Schaar schreibt über eine europäische Datenpolitik die Datenschutz und Industrieförderung im Bereich Künstliche Intelligenz verbindet
pixinoo /​ Shutter­stock

China ist auch deshalb führend in der Entwicklung künst­licher Intel­ligenz, weil es seine Bürger annähernd lückenlos überwacht. Ein weltweit einzig­ar­tiger Datenpool verschafft dem autori­tären Regime einen Wettbe­werbs­vorteil gegenüber dem Westen. Peter Schaar, ehema­liger Bundes­da­ten­schutz­be­auf­tragter, macht Vorschläge, wie sich das Daten­di­lemma – Indus­trie­för­derung vs. Daten­schutz –  in liberalen Demokratien lösen lässt.

Nirgends wird das digitale Dilemma Europas so deutlich wie bei der Debatte um den Ausschluss des chine­si­schen Netzwerk­aus­rüsters Huawei vom Aufbau des modernsten Mobil­funk­netzes 5G. Folgen die europäi­schen Staaten der Auffor­derung der US-Adminis­tration und verzichten auf chine­sische Produkte, müssten sie verstärkt auf Kompo­nenten ameri­ka­ni­scher Hersteller zurück­greifen und werden die ambitio­nierten Ausbau­ziele der 5G-Netze nicht reali­sieren können. Dies hätte nachteilige Konse­quenzen für das strate­gisch zentrale Vorhaben einer Digita­li­sierung der indus­tri­ellen Infra­struktur („Industrie 4.0“). Besteht Europa hingegen weiterhin darauf, chine­sische Produkte auch in den Kernbe­reichen kriti­scher Infra­struk­turen einzu­setzen, verstärkt dies die Abhän­gigkeit von einem autoritär geführten Regime, das nicht nur bei seinem Umgang mit der uiguri­schen Minderheit keinerlei rechts­staat­liche Siche­rungen akzep­tiert und seine Bürger mit einem auf umfas­sender Überwa­chung basie­renden digitalen Bewer­tungs- und Steue­rungs­system („social scoring“) überzieht. Zudem ist die Frage berechtigt, inwieweit chine­sische Behörden die von Huawei gelie­ferte Hard- und Software zur Einschleusung von Kontroll- und Überwa­chungs­software („Trojaner“) nutzen könnten, mit der sie im Extremfall einen umfas­senden „Blackout“ auslösen könnten, eine Abschaltung europäi­scher Produktions‑, Versorgungs‑, Kommu­ni­ka­tions- und Mobili­täts­in­fra­struk­turen. Letzteres gilt – um ehrlich zu bleiben – auch für Kompo­nenten, die aus anderen Weltre­gionen bezogen werden. 

Portrait von Peter Schaar

Peter Schaar war von 2003 bis 2013 Bundes­be­auf­tragter für den Daten­schutz und die Informationsfreiheit

Den Anschluss verpasst

Dabei sind die Mobil­funk­netze nicht der einzige Bereich, in dem Europa den digitalen Anschluss verpasst hat, wie die EU-Agentur für Netzwerk­si­cherheit (ENISA) feststellt: „In the last 20 years, the European ICT industry has begun to fall behind in the global compe­tition race. Sandwiched between the giants of the ICT industry in the US and Asia, Europe is struggling to keep up and risks losing hold of its own digital sovereignty.“[1] Zurück­ge­fallen ist Europa nicht nur bei den an Endnutzer gerich­teten digitalen Angeboten (Google, Facebook), vor allem aber bei den strate­gisch ungleich bedeut­sa­meren Cloud-Services. Hier geht es nicht allein um die Bereit­stellung von Speicher­platz, sondern um eine Fülle unter­schied­lichster Dienste im Business-Bereich, bis hin zum Betrieb hochleis­tungs­fä­higer virtu­eller Rechen­zentren und komplexer Software­lö­sungen für Handel, Kredit­wirt­schaft und Industrie. Deren Anbieter haben ihren Sitz in den USA oder – in zuneh­mendem Maß – in China. Nicht ein höchst­leis­tungs­fä­higer Anbieter („Hypers­caler“) kommt aus Europa.

Die Entscheidung darüber, wer im globalen digitalen Wettbewerb erfolg­reich sein wird, hängt auch davon ab, wer sich in der „künst­lichen Intel­ligenz“ (KI) behauptet, also beim maschi­nellen Lernen und  bei algorith­mi­schen Entschei­dungs­sys­temen. Führend sind derzeit noch die US-Digital­kon­zerne Alphabet (Google), Microsoft, Facebook und Amazon. Auch weniger bekannte Unter­nehmen spielen eine bedeutsame Rolle, etwa Palantir, mit dessen Systemen nicht nur US-ameri­ka­nische Sicher­heits­be­hörden und das ameri­ka­nische Militär arbeiten. Relativ gut behaupten können sich hier auch europäische Anbieter, soweit sie auf maschi­nen­ge­ne­rierte Daten aus der Industrie zurück­greifen können und Dienste, die auf Sprach­ver­stehen basieren, etwa im Hinblick auf maschi­nelles Übersetzen. Bei letzteren kommt Europa offen­sichtlich seine Vielspra­chigkeit und die direkte Verfüg­barkeit von Dokumenten in allen EU-Amtssprachen zu Gute.

Viele spekta­kuläre chine­sische Fortschritte auf dem Gebiet der Künst­lichen Intel­ligenz basieren auf der staatlich geför­derten und gefor­derten allge­gen­wär­tigen Überwachung. 

Die chine­sische Führung hat das Ziel ausge­geben, dass China die USA bis zum Jahr 2030 als Weltmarkt­führer ablöst. Ein zentrales Feld, in das hier inves­tiert wird, ist – neben militä­ri­schen Anwen­dungen – die totale Überwa­chung der Bevöl­kerung. Schon jetzt hängen an Gebäuden und Licht­masten hunderte Millionen Überwa­chungs­ka­meras. Sie werden zunehmend mit „smarter“ Überwa­chungs­technik ausge­stattet und in umfas­sende Systeme integriert, etwa in das erwähnte social scoring-System: Jeder Bürger bekommt ein indivi­du­elles Punkte-Konto („social credit“), auf dem „positives“ Verhalten belohnt und „negatives“ Verhalten durch Punkte­abzug sanktio­niert wird. Der indivi­duelle Punkte­stand entscheidet darüber, wer eine Wohnung oder einen Arbeits­platz erhält, wer ein Flugzeug oder einen Schnellzug benutzen darf. Sogar die Schul­auswahl soll nach Presse­be­richten an den Punkte­stand der Eltern gekoppelt werden. Schließlich werden die Scores auch öffentlich gemacht, um besonders „gute“ Bürger auszu­zeichnen und gesell­schaftlich „negative“ Elemente zu kennzeichnen. Die Daten für dieses System stammen aus allen möglichen Bereichen: Sie kommen vom Arbeit­geber, von Banken und Versand­han­dels­un­ter­nehmen, von der Hausver­waltung und natürlich auch von staat­lichen Stellen. Die allge­gen­wär­tigen, mit Gesichts­er­ken­nungs­software ausge­stat­teten Video­ka­meras ermög­lichen die indivi­duelle Zuordnung vorn Regel­über­schrei­tungen (etwa die Straßen­querung bei roter Ampel). Sie und andere Sensoren liefern darüber hinaus eine ungeheure Daten­menge, mit der KI-Systeme trainiert werden. Viele spekta­kuläre chine­sische Fortschritte auf dem Gebiet der Künst­lichen Intel­ligenz basieren auf der staatlich geför­derten und gefor­derten allge­gen­wär­tigen Überwachung.

Europas dritter Weg?

In der politi­schen Debatte der letzten Monate hat der Begriff der „digitalen Souve­rä­nität“ eine erstaun­liche Karriere gemacht. Der franzö­sische Präsident Emmanuel Macron gebraucht ihn und auch die deutsche Bundes­kanz­lerin Angela Merkel beruft sich darauf. Er steht für das Bemühen, dass Europa einen sowohl von den USA als auch von China unabhän­gigen Weg gehen soll. Europa soll zur „Fähigkeit zu Selbst­be­stimmung im digitalen Raum – im Sinne eigen­stän­diger und unabhän­giger Handlungs­fä­higkeit“ befähigt sein, hieß es bereits 2015 in einem Papier des IT-Branchen­ver­bands Bitkom[2]. Ein digital souve­ränes Deutschland und Europa solle zu selbst­be­stimmtem Handeln und Entscheiden befähigt werden. In einer Vorlage für das franzö­sische Parlament unter­streicht der Präsi­den­ten­be­rater und Abgeordnete Cedric Villani[3], dass sich die europäische KI-Strategie maßgeblich an dem Ziel der Souve­rä­nität auszu­richten habe. Dabei geht es, wie etwa die Daten­ethik­kom­mission der Bundes­re­gierung (DEK) in ihrem im Oktober 2019 fertig­ge­stellten Gutachten[4] betont, nicht allein um die Gewähr­leistung bzw. Wieder­her­stellung der Wettbe­werbs­fä­higkeit der europäi­schen Wirtschaft. Vielmehr müsse sich die Digital­stra­tegie an ethischen und recht­lichen Grund­sätzen und Prinzipien ausrichten: Menschen­würde, Selbst­be­stimmung, Privatheit, Sicherheit, Demokratie, Gerech­tigkeit, Solida­rität und Nachhal­tigkeit. Damit greift sie einen zentralen Ansatz auf, der schon in das Villani-Papier Eingang gefunden hat: Inves­ti­tionen, Forschungs­för­derung und Regulierung müssen zusammen gedacht werden und haben sich an ethischen Grund­sätzen und grund­recht­lichen Vorgaben zu orien­tieren. Dazu gehören die digitale Selbst­be­stimmung und die Grund­rechte auf Daten­schutz und Privatheit. Weder das markt­ra­dikale ameri­ka­nische Modell, bei dem Unter­nehmen als Eigen­tümer umfas­sende Verfü­gungs­gewalt über persön­liche Daten ausüben, noch der chine­sische Überwa­chungs­ka­pi­ta­lismus, in dem Bürger­rechte nicht zählen und Unter­nehmen gezwungen sind, sich an der Partei­linie auszu­richten, können das Vorbild für eine europäische Digital­stra­tegie sein.

Daten­schutz­ge­rechtes Daten­pooling: Anony­mi­sierung und Pseud­ony­mi­sierung würden es zudem erleichtern, bisher in getrennten „Silos“ gespei­cherte Daten zusam­men­zu­führen und damit die für die Entwicklung und das Training von KI-basierten Lösungen erfor­der­liche kritische Daten­masse zu erreichen. 

Sowohl die DEK als auch Villani betonen die Bedeutung klarer, europa­weiter Regelungen und sie heben dabei die seit 2018 gültige Daten­schutz-Grund­ver­ordnung (DSGVO) hervor. Europa müsse sich seiner „Regulie­rungs­macht“ bedienen, um sich „in dieser konflikt­träch­tigen Welt ohne Grenzen behaupten zu können“, heißt es in einer im November 2019 veröf­fent­lichten Studie der Stiftung Wissen­schaft und Politik.[5] Die DSGVO setze „neue Maßstäbe bei der Aufgabe, eine Balance zwischen dem Schutz perso­nen­be­zo­gener Daten und der Gestaltung eines freien Daten­ver­kehrs im Binnen­markt zu finden.“ Wie das aktuelle 5G-Problem verdeut­licht, kann diese Regulie­rungs­macht mittel­fristig nur dann verteidigt und gestärkt werden, wenn es Europa gelingt, sich techno­lo­gisch und wirtschaftlich in den zentralen Bereichen der Digita­li­sierung zu behaupten. Wirtschaft­liche und techno­lo­gische Leistungs­fä­higkeit sind Voraus­set­zungen dafür, dass die grund­le­genden ethischen und recht­lichen Prinzipien Europas nicht auf der Strecke bleiben. In einer zunehmend durch digitale Technik bestimmten Welt wird das Vertrauen zu einer eigen­stän­digen Ressource, deren Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann. Deshalb sollte Europa sich auch auf seine Stärken besinnen, die es bei der IT-Sicherheit und des techno­lo­gi­schen Daten­schutzes hat. Angesichts globaler Überwa­chung und der Verletz­lichkeit digitaler Infra­struk­turen müssen effektive Daten­ver­schlüs­selung, sichere und zugleich daten­schutz­ge­rechte Identi­fi­zie­rungs­ver­fahren, Anony­mi­sierung und Pseud­ony­mi­sierung unver­zichtbare Bestand­teile einer europäi­schen Digital­stra­tegie sein. Anony­mi­sierung und Pseud­ony­mi­sierung würden es zudem erleichtern, bisher in getrennten „Silos“ gespei­cherte Daten zusam­men­zu­führen und damit die für die Entwicklung und das Training von KI-basierten Lösungen erfor­der­liche kritische Daten­masse zu erreichen. Ein solches daten­schutz­ge­rechtes Daten­pooling würde die Wettbe­werbs­fä­higkeit der europäi­schen Wirtschaft verbessern und könnte so einen Beitrag zur Auflösung des europäi­schen Digital­di­lemmas leisten.

[1] European Union Agency for Cyber­se­curity (ENISA), Consul­tation Paper, Breaking the Cycle of Failure, July 2019, https://www.enisa.europa.eu/publications/enisa-position-papers-and-opinions/eu-ict-industry-consultation-paper.

[2] Bitkom, Digitale Souve­rä­nität, https://www.bitkom.org/sites/default/files/pdf/Presse/Anhaenge-an-PIs/2015/05-Mai/BITKOM-Position-Digitale-Souveraenitaet1.pdf.

[3] Cédric Villani, For a Meaningful Arificial Intel­li­gence, https://www.aiforhumanity.fr/pdfs/MissionVillani_Report_ENG-VF.pdf.

[4] Daten­ethik­kom­mission, Gutachten, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/it-digitalpolitik/gutachten-datenethikkommission.html.

[5] Annegret Bendiek /​ Martin Schall­bruch, Europas dritter Weg im Cyberraum, SWP-Aktuell Nr. 60, Nov. 2019.

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