Europas Datendilemma – und wie es sich lösen lässt
China ist auch deshalb führend in der Entwicklung künstlicher Intelligenz, weil es seine Bürger annähernd lückenlos überwacht. Ein weltweit einzigartiger Datenpool verschafft dem autoritären Regime einen Wettbewerbsvorteil gegenüber dem Westen. Peter Schaar, ehemaliger Bundesdatenschutzbeauftragter, macht Vorschläge, wie sich das Datendilemma – Industrieförderung vs. Datenschutz – in liberalen Demokratien lösen lässt.
Nirgends wird das digitale Dilemma Europas so deutlich wie bei der Debatte um den Ausschluss des chinesischen Netzwerkausrüsters Huawei vom Aufbau des modernsten Mobilfunknetzes 5G. Folgen die europäischen Staaten der Aufforderung der US-Administration und verzichten auf chinesische Produkte, müssten sie verstärkt auf Komponenten amerikanischer Hersteller zurückgreifen und werden die ambitionierten Ausbauziele der 5G-Netze nicht realisieren können. Dies hätte nachteilige Konsequenzen für das strategisch zentrale Vorhaben einer Digitalisierung der industriellen Infrastruktur („Industrie 4.0“). Besteht Europa hingegen weiterhin darauf, chinesische Produkte auch in den Kernbereichen kritischer Infrastrukturen einzusetzen, verstärkt dies die Abhängigkeit von einem autoritär geführten Regime, das nicht nur bei seinem Umgang mit der uigurischen Minderheit keinerlei rechtsstaatliche Sicherungen akzeptiert und seine Bürger mit einem auf umfassender Überwachung basierenden digitalen Bewertungs- und Steuerungssystem („social scoring“) überzieht. Zudem ist die Frage berechtigt, inwieweit chinesische Behörden die von Huawei gelieferte Hard- und Software zur Einschleusung von Kontroll- und Überwachungssoftware („Trojaner“) nutzen könnten, mit der sie im Extremfall einen umfassenden „Blackout“ auslösen könnten, eine Abschaltung europäischer Produktions‑, Versorgungs‑, Kommunikations- und Mobilitätsinfrastrukturen. Letzteres gilt – um ehrlich zu bleiben – auch für Komponenten, die aus anderen Weltregionen bezogen werden.
Den Anschluss verpasst
Dabei sind die Mobilfunknetze nicht der einzige Bereich, in dem Europa den digitalen Anschluss verpasst hat, wie die EU-Agentur für Netzwerksicherheit (ENISA) feststellt: „In the last 20 years, the European ICT industry has begun to fall behind in the global competition race. Sandwiched between the giants of the ICT industry in the US and Asia, Europe is struggling to keep up and risks losing hold of its own digital sovereignty.“[1] Zurückgefallen ist Europa nicht nur bei den an Endnutzer gerichteten digitalen Angeboten (Google, Facebook), vor allem aber bei den strategisch ungleich bedeutsameren Cloud-Services. Hier geht es nicht allein um die Bereitstellung von Speicherplatz, sondern um eine Fülle unterschiedlichster Dienste im Business-Bereich, bis hin zum Betrieb hochleistungsfähiger virtueller Rechenzentren und komplexer Softwarelösungen für Handel, Kreditwirtschaft und Industrie. Deren Anbieter haben ihren Sitz in den USA oder – in zunehmendem Maß – in China. Nicht ein höchstleistungsfähiger Anbieter („Hyperscaler“) kommt aus Europa.
Die Entscheidung darüber, wer im globalen digitalen Wettbewerb erfolgreich sein wird, hängt auch davon ab, wer sich in der „künstlichen Intelligenz“ (KI) behauptet, also beim maschinellen Lernen und bei algorithmischen Entscheidungssystemen. Führend sind derzeit noch die US-Digitalkonzerne Alphabet (Google), Microsoft, Facebook und Amazon. Auch weniger bekannte Unternehmen spielen eine bedeutsame Rolle, etwa Palantir, mit dessen Systemen nicht nur US-amerikanische Sicherheitsbehörden und das amerikanische Militär arbeiten. Relativ gut behaupten können sich hier auch europäische Anbieter, soweit sie auf maschinengenerierte Daten aus der Industrie zurückgreifen können und Dienste, die auf Sprachverstehen basieren, etwa im Hinblick auf maschinelles Übersetzen. Bei letzteren kommt Europa offensichtlich seine Vielsprachigkeit und die direkte Verfügbarkeit von Dokumenten in allen EU-Amtssprachen zu Gute.
Viele spektakuläre chinesische Fortschritte auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz basieren auf der staatlich geförderten und geforderten allgegenwärtigen Überwachung.
Die chinesische Führung hat das Ziel ausgegeben, dass China die USA bis zum Jahr 2030 als Weltmarktführer ablöst. Ein zentrales Feld, in das hier investiert wird, ist – neben militärischen Anwendungen – die totale Überwachung der Bevölkerung. Schon jetzt hängen an Gebäuden und Lichtmasten hunderte Millionen Überwachungskameras. Sie werden zunehmend mit „smarter“ Überwachungstechnik ausgestattet und in umfassende Systeme integriert, etwa in das erwähnte social scoring-System: Jeder Bürger bekommt ein individuelles Punkte-Konto („social credit“), auf dem „positives“ Verhalten belohnt und „negatives“ Verhalten durch Punkteabzug sanktioniert wird. Der individuelle Punktestand entscheidet darüber, wer eine Wohnung oder einen Arbeitsplatz erhält, wer ein Flugzeug oder einen Schnellzug benutzen darf. Sogar die Schulauswahl soll nach Presseberichten an den Punktestand der Eltern gekoppelt werden. Schließlich werden die Scores auch öffentlich gemacht, um besonders „gute“ Bürger auszuzeichnen und gesellschaftlich „negative“ Elemente zu kennzeichnen. Die Daten für dieses System stammen aus allen möglichen Bereichen: Sie kommen vom Arbeitgeber, von Banken und Versandhandelsunternehmen, von der Hausverwaltung und natürlich auch von staatlichen Stellen. Die allgegenwärtigen, mit Gesichtserkennungssoftware ausgestatteten Videokameras ermöglichen die individuelle Zuordnung vorn Regelüberschreitungen (etwa die Straßenquerung bei roter Ampel). Sie und andere Sensoren liefern darüber hinaus eine ungeheure Datenmenge, mit der KI-Systeme trainiert werden. Viele spektakuläre chinesische Fortschritte auf dem Gebiet der Künstlichen Intelligenz basieren auf der staatlich geförderten und geforderten allgegenwärtigen Überwachung.
Europas dritter Weg?
In der politischen Debatte der letzten Monate hat der Begriff der „digitalen Souveränität“ eine erstaunliche Karriere gemacht. Der französische Präsident Emmanuel Macron gebraucht ihn und auch die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel beruft sich darauf. Er steht für das Bemühen, dass Europa einen sowohl von den USA als auch von China unabhängigen Weg gehen soll. Europa soll zur „Fähigkeit zu Selbstbestimmung im digitalen Raum – im Sinne eigenständiger und unabhängiger Handlungsfähigkeit“ befähigt sein, hieß es bereits 2015 in einem Papier des IT-Branchenverbands Bitkom[2]. Ein digital souveränes Deutschland und Europa solle zu selbstbestimmtem Handeln und Entscheiden befähigt werden. In einer Vorlage für das französische Parlament unterstreicht der Präsidentenberater und Abgeordnete Cedric Villani[3], dass sich die europäische KI-Strategie maßgeblich an dem Ziel der Souveränität auszurichten habe. Dabei geht es, wie etwa die Datenethikkommission der Bundesregierung (DEK) in ihrem im Oktober 2019 fertiggestellten Gutachten[4] betont, nicht allein um die Gewährleistung bzw. Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft. Vielmehr müsse sich die Digitalstrategie an ethischen und rechtlichen Grundsätzen und Prinzipien ausrichten: Menschenwürde, Selbstbestimmung, Privatheit, Sicherheit, Demokratie, Gerechtigkeit, Solidarität und Nachhaltigkeit. Damit greift sie einen zentralen Ansatz auf, der schon in das Villani-Papier Eingang gefunden hat: Investitionen, Forschungsförderung und Regulierung müssen zusammen gedacht werden und haben sich an ethischen Grundsätzen und grundrechtlichen Vorgaben zu orientieren. Dazu gehören die digitale Selbstbestimmung und die Grundrechte auf Datenschutz und Privatheit. Weder das marktradikale amerikanische Modell, bei dem Unternehmen als Eigentümer umfassende Verfügungsgewalt über persönliche Daten ausüben, noch der chinesische Überwachungskapitalismus, in dem Bürgerrechte nicht zählen und Unternehmen gezwungen sind, sich an der Parteilinie auszurichten, können das Vorbild für eine europäische Digitalstrategie sein.
Datenschutzgerechtes Datenpooling: Anonymisierung und Pseudonymisierung würden es zudem erleichtern, bisher in getrennten „Silos“ gespeicherte Daten zusammenzuführen und damit die für die Entwicklung und das Training von KI-basierten Lösungen erforderliche kritische Datenmasse zu erreichen.
Sowohl die DEK als auch Villani betonen die Bedeutung klarer, europaweiter Regelungen und sie heben dabei die seit 2018 gültige Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) hervor. Europa müsse sich seiner „Regulierungsmacht“ bedienen, um sich „in dieser konfliktträchtigen Welt ohne Grenzen behaupten zu können“, heißt es in einer im November 2019 veröffentlichten Studie der Stiftung Wissenschaft und Politik.[5] Die DSGVO setze „neue Maßstäbe bei der Aufgabe, eine Balance zwischen dem Schutz personenbezogener Daten und der Gestaltung eines freien Datenverkehrs im Binnenmarkt zu finden.“ Wie das aktuelle 5G-Problem verdeutlicht, kann diese Regulierungsmacht mittelfristig nur dann verteidigt und gestärkt werden, wenn es Europa gelingt, sich technologisch und wirtschaftlich in den zentralen Bereichen der Digitalisierung zu behaupten. Wirtschaftliche und technologische Leistungsfähigkeit sind Voraussetzungen dafür, dass die grundlegenden ethischen und rechtlichen Prinzipien Europas nicht auf der Strecke bleiben. In einer zunehmend durch digitale Technik bestimmten Welt wird das Vertrauen zu einer eigenständigen Ressource, deren Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann. Deshalb sollte Europa sich auch auf seine Stärken besinnen, die es bei der IT-Sicherheit und des technologischen Datenschutzes hat. Angesichts globaler Überwachung und der Verletzlichkeit digitaler Infrastrukturen müssen effektive Datenverschlüsselung, sichere und zugleich datenschutzgerechte Identifizierungsverfahren, Anonymisierung und Pseudonymisierung unverzichtbare Bestandteile einer europäischen Digitalstrategie sein. Anonymisierung und Pseudonymisierung würden es zudem erleichtern, bisher in getrennten „Silos“ gespeicherte Daten zusammenzuführen und damit die für die Entwicklung und das Training von KI-basierten Lösungen erforderliche kritische Datenmasse zu erreichen. Ein solches datenschutzgerechtes Datenpooling würde die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Wirtschaft verbessern und könnte so einen Beitrag zur Auflösung des europäischen Digitaldilemmas leisten.
[1] European Union Agency for Cybersecurity (ENISA), Consultation Paper, Breaking the Cycle of Failure, July 2019, https://www.enisa.europa.eu/publications/enisa-position-papers-and-opinions/eu-ict-industry-consultation-paper.
[2] Bitkom, Digitale Souveränität, https://www.bitkom.org/sites/default/files/pdf/Presse/Anhaenge-an-PIs/2015/05-Mai/BITKOM-Position-Digitale-Souveraenitaet1.pdf.
[3] Cédric Villani, For a Meaningful Arificial Intelligence, https://www.aiforhumanity.fr/pdfs/MissionVillani_Report_ENG-VF.pdf.
[4] Datenethikkommission, Gutachten, https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/it-digitalpolitik/gutachten-datenethikkommission.html.
[5] Annegret Bendiek / Martin Schallbruch, Europas dritter Weg im Cyberraum, SWP-Aktuell Nr. 60, Nov. 2019.
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