Polen und Deutsch­land: Brauchen wir eine neue Versöhnung?

Foto: Imago

Ange­sichts des russi­schen Angriffs­krieges gegen die Ukraine verändert sich auch die Dynamik in den deutsch-polni­schen Bezie­hungen. Im ersten Teil unserer Beitrags­reihe zum deutsch-polni­schen Verhältnis analy­sieren Karolina Wigura und Jarosław Kuisz, warum wir eine neue deutsch-polnische Versöh­nung brauchen – und dabei auch die anderen Länder Mittel- und Osteu­ropas im Blick haben müssen.

 

Polen und Deutsche haben einen der erfolg­reichsten Versöh­nungs­pro­zesse nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen – und doch wissen beide Gesell­schaften fast nichts vonein­ander. So ist es heute verlo­ckend einfach, die Bezie­hungen aus poli­ti­schen und wahl­tak­ti­schen Motiven in Frage zu stellen oder gar aufs Spiel zu setzen.

Wir sollten die Bemü­hungen um eine deutsch-polnische Aussöh­nung nach dem Krieg zwar würdigen, uns aber bewusst sein, dass diese nicht auf die neue Zeit zuge­schnitten war. Was wir heute brauchen, ist ein neues Handeln und ein neues Denken in Bezug auf Vergebung.

Deutsch­land: Kompli­ziertes Verhältnis zur eigenen Geschichte

Die Einstel­lung zur Geschichte, für die sich Polen in Deutsch­land oft besonders inter­es­sieren, ist kompli­ziert. Einer­seits ist Deutsch­land die Gesell­schaft, die global betrachtet viel­leicht am meisten getan hat, um sich ihrer histo­ri­schen Verant­wor­tung zu stellen. Ande­rer­seits gibt es sicher­lich noch viel zu tun – obwohl man natürlich auch die berech­tigte Frage stellen kann, welches Land nicht noch wichtige Lektionen zu lernen hätte. Doch wie dem auch sei: In Deutsch­land müssen Lehren gezogen werden, nicht zuletzt, wenn es um das kollek­tive Bewusst­sein (oder besser: dessen Fehlen) für die Vielfalt der Opfer des Natio­nal­so­zia­lismus geht. Und auch, wenn es darum geht, die Lehren aus der Vergan­gen­heit in die Gegenwart zu übersetzen.

Wie schwierig und keines­wegs selbst­ver­ständ­lich dies für die deutsche Gesell­schaft ist, zeigt sich zum Beispiel heute, da sie – aufge­wachsen in Ehrfurcht vor dem Slogan „Nie wieder Krieg“ – mit der Notwen­dig­keit konfron­tiert ist, selbst schwere Waffen in die Ukraine zu schicken, um den Vertei­di­gern der liberalen Demo­kratie gegen einen auto­ri­tären, Öl und Gas liefernden Staat zu helfen.

Warum wir einen gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Versöh­nungs­pro­zess brauchen

Versöh­nungs­pro­zesse erfordern einen gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Ansatz. Was also ist konkret zu tun? Für eine Antwort auf diese Frage lohnt es sich, die aktuelle Situation genau zu betrachten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg fand zwischen Polen und Deutsch­land einer der erfolg­reichsten Versöh­nungs­pro­zesse statt. Doch wenn es an dieser Versöh­nung nichts auszu­setzen gibt, was stimmt dann nicht? Die These ist, dass die Versöh­nung ange­sichts der früheren, nicht jedoch der heutigen Zeit erfolg­reich war. Und dass wir somit einen neuen Ansatz brauchen, denn der Prozess der Versöh­nung als solcher endet nie.

„Die deutsch-polnische Versöh­nung fand nur zwischen intel­lek­tu­ellen Kreisen statt“

Zum einen fand die deutsch-polnische Aussöh­nung zwischen intel­lek­tu­ellen Kreisen statt, nicht aber auf gesamt­ge­sell­schaft­li­cher Ebene. Im Namen von Polen und Deutschen sprachen und sprechen Intel­lek­tu­elle, Geist­liche und Politiker. Doch diese Art der Versöh­nung ist in Zeiten der Demo­kra­ti­sie­rung und sozialer Medien nicht mehr über­zeu­gend. Heute steht die Authen­ti­zität indi­vi­du­eller Erfah­rungen im Vorder­grund, nicht Botschaften von Behörden und Politik. Ein neuer Versöh­nungs­pro­zess muss sich also vorrangig auf Aktionen der Bürge­rinnen und Bürger, auf die Zivil­ge­sell­schaft stützen.

Immense Wissens­lü­cken über das jeweilige Nachbarland

Und die deutsch-polnische Aussöh­nung hat bislang nicht den Weg in die Brei­ten­bil­dung gefunden. Polen und Deutsche wissen kaum, wie das Nach­bar­land funk­tio­niert und aussieht, wie viel­fältig es ist, welche Probleme es hat oder wie man zusam­men­ar­beiten oder vonein­ander lernen könnte. Anstelle eines Austauschs zwischen intel­lek­tu­ellen Kreisen sollte unser Nach­bar­land in den Lehr­plänen der Schulen, in den Fernseh- und Radio­nach­richten präsenter sein. Und zwar keines­wegs nur in histo­ri­scher Hinsicht – wichtig für die jungen Gene­ra­tionen ist auch das, was jetzt geschieht.

Die Wissens­lü­cken über den deutschen Nachbarn sind immens. In letzter Zeit wurde beispiels­weise in Polen viel über die Rivalität und Meinungs­ver­schie­den­heiten zwischen Polen und Deutsch­land gespro­chen – die regie­rungs­nahen Medien sind voll davon. Es wird jedoch zu wenig darüber gespro­chen, dass der Handel zwischen den beiden Ländern auch und gerade unter der PiS-Regierung floriert. Im Jahr 2021 war Polen mit einem Handels­vo­lumen von 147 Milli­arden Euro (!) der weltweit fünft­größte Wirt­schafts­partner Deutschlands.

„Die deutsch-polnische Aussöh­nung beruhte auf einer bila­te­ralen und asym­me­tri­schen Beziehung“

Der zweite wichtige Aspekt ist, dass die deutsch-polnische Aussöh­nung auf einer bila­te­ralen und asym­me­tri­schen Beziehung beruhte. Deutsch­land, so hieß es, habe den Krieg verloren, aber den Frieden gewonnen – und Polen sei in dieser Beziehung schnell zum Juni­or­partner geworden, zu einem schwä­cheren und ärmeren Land.

Heute unter­scheiden sich das polnische und das deutsche Brut­to­in­lands­pro­dukt zwar immer noch, aber nach dreißig Jahren wach­senden Wohl­stands haben nicht nur Polen, sondern auch Esten, Litauer und andere östliche Nachbarn Deutsch­land das legitime Anliegen, mit Berlin gleich­be­rech­tigte und part­ner­schaft­liche Bezie­hungen aufzubauen.

Doch es besteht die Gefahr, bei der Suche nach einem Ausweg aus dieser Situation immer weiter in die Asym­me­trie zu geraten. Dies gilt zum Beispiel für die Repa­ra­ti­ons­for­de­rungen an Deutsch­land, die jenseits der Oder schlichtweg auf taube Ohren stoßen – und zwar unge­achtet der Tatsache, dass die Frage keines­wegs so einfach zu beant­worten ist, wie Kritiker der Forderung behaupten.

„Wir brauchen neue multi­la­te­rale und regionale Ansätze, um gleich­be­rech­tigte Part­ner­schaften aufzubauen“

Wir brauchen neue multi­la­te­rale und regionale Ansätze, um gleich­be­rech­tigte Part­ner­schaften aufzu­bauen. Die Einrich­tung von Insti­tu­tionen hingegen, die sich allein auf Deutsch­lands bila­te­rale Verant­wor­tung im histo­ri­schen Kontext, die Aner­ken­nung polni­schen Unrechts durch die deutsche Seite oder die Gleich­stel­lung polni­schen mit jüdischem Unrecht konzen­trieren – all dies ist nicht nur hinsicht­lich der Ziele frag­würdig, sondern geht auch am aktuellen öffent­li­chen Interesse in Berlin vorbei. Diese Wege sind in den letzten Jahren beschritten worden – ihre Grenzen sind inzwi­schen deutlich.

Deutsch­land hat heute multi­la­te­rale und globale Inter­essen, es ist daher zwei­fel­haft, ob solch eine bila­te­rale, eine Konkur­renz zwischen polni­schem und jüdischem Unrecht umfas­sende Posi­tio­nie­rung des Themas jemals richtig gelesen, geschweige denn für die deutschen Partnern von Interesse ist oder gar umgesetzt wird.

„Wir müssen über ganz Mittel- und Osteuropa sprechen“

Um die gegen­wär­tige Krise in eine Chance zu verwan­deln, gilt es, nicht nur die deutsch-polni­schen Bezie­hungen aus dem kompli­zierten Puzzle heraus­zu­lösen. Wir müssen über ganz Mittel- und Osteuropa sprechen, über die Rolle, die Deutsch­land, Polen und die anderen Länder der Region darin spielen – und über die sich verschie­bende, geopo­li­ti­sche Plat­ten­tek­tonik, die durch Putins Angriffs­krieg und den helden­haften Wider­stand der Ukrainer ausgelöst wurde.

Hannah Arendt schrieb einmal in ihrem schönen Tagebuch des Denkens, wie sich Vergebung von Versöh­nung unter­scheidet. Vergebung, so die Philo­so­phin, ist eine asym­me­tri­sche Beziehung, bei der eine Person nieder­kniet und sich entschul­digt und die andere die Entschul­di­gung annimmt (oder auch nicht). Versöh­nung ist eine Beziehung zwischen zwei gleich­be­rech­tigten Partnern, die gleichsam von oben auf die Last der gemein­samen Vergan­gen­heit herabschauen.

Heute können wir Arendts Denken um ein weiteres Bild ergänzen. Es geht darum, über die deutsch-polnische Beziehung hinaus­zu­gehen, sich auf das gesamte Nach­kriegs­ge­bäude Europa zu beziehen –ein Gebäude, das auf einem multi­la­te­ralen, umfas­senden und inte­gra­tiven Fundament ruht. Dieses Fundament ist es, das nicht nur die polnisch-deutschen Bezie­hungen, sondern das Konzept von Versöh­nung und Vergebung allgemein ange­sichts der histo­ri­schen Vergan­gen­heit inspi­rieren kann.


Dieser Artikel ist zuerst in der Kultura Liberalna erschienen.

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