Polen und Deutschland nach der „Zeiten­wende“: Gestal­tungs­an­spruch und Weltbild auf dem Prüfstand

„Eine Neuaus­richtung der deutschen Außen­po­litik wird ohne eine stärkere Zuwendung zu Mittel- und Osteuropa nicht möglich sein“: Piotr Buras analy­siert im zweiten Teil unserer Reihe die Auswir­kungen des Krieges gegen die Ukraine auf die Macht­ver­hält­nisse in der EU, das deutsch-polnische Verhältnis – und zu revidie­rende Weltbilder.

Seitdem der russische Angriffs­krieg gegen die Ukraine die Westeu­ropäer erschüttert, die Osteu­ropäer hingegen in ihren Warnungen vor Putins Imperia­lismus bestätigt, wird immer häufiger eine „Veröst­li­chung“ Europas beschworen. Kaum eine politische Rede und erst recht keine inter­na­tionale Konferenz geht mittler­weile über die Bühne, ohne dass man sich über eine vermeint­liche Verschiebung des Machzen­trums Europas gen Osten gebeugt hat. Das Beschwören einer neuen politi­schen Konstel­lation dient nicht zuletzt der Seelen­massage der durch die Geschichte gebeu­telten Polen und Balten. Sie sorgt aber auch für sichtbare Nervo­sität in Berlin und manchen anderen westlichen Hauptstädten.

Selbst­be­wusste Hüter der europäi­schen Sicherheit

Vor allem im deutsch-polni­schen Verhältnis scheint Einiges in Bewegung zu kommen. Waren die Polen bisher aus deutscher Sicht haupt­sächlich als Bittsteller in Fragen der Westin­te­gration oder Finanzen aufge­fallen, erscheinen sie heute immer mehr als selbst­be­wusste Hüter der europäi­schen Sicherheit.

Der Zusam­men­bruch der deutschen Ostpo­litik beraubt Deutschland der morali­schen Überle­genheit, die es in der Vergan­genheit immer gerne an den Tag legte: als Musterland der fiska­li­schen Sorgfäl­tigkeit in der Eurokrise, als letzter Pfeiler einer humani­tären Asylpo­litik in der Flücht­lings­krise oder Vertei­diger der europäi­schen Werte gegen den aufkei­menden Populismus. Jetzt aber lesen die polni­schen Rechts­po­pu­listen den Deutschen die Leviten und belehren sie – ausge­rechnet in Fragen der Solida­rität und Verant­wortung. Steht nun die Welt auf dem Kopf – und bleibt das so?

Alte Asyme­trien zwischen Ost und West bleiben bestehen

Wie so oft kann das reflex­hafte Beschwören einer Macht­ver­schiebung in der EU einer unauf­ge­regten Analyse nicht stand­halten. Die alten Asymme­trien zwischen Ost und West hinsichtlich Wirtschafts­kraft, politi­scher Stärke und Einfluss in den Brüsseler Insti­tu­tionen bleiben bestehen. Und die moralische Überle­genheit bzw. Recht­ha­berei der neuen Lieblinge der inter­na­tio­nalen Medien lassen sich nicht ohne Weiteres in Macht und Einfluss übersetzen.

Ein rekla­mierter Führungs­an­spruch braucht auch Substanz

Um eine neue Führungs­kraft in Europa zu sein, muss man auch konkrete Ideen für die Weiter­ent­wicklung des europäi­schen Projektes haben – und den Anspruch, über den eigenen Tellerrand zu schauen. Dass es darum nicht allzu gut bestellt ist, hat die jüngste Europa-Rede des polni­schen Premier­mi­nisters Mateusz Morawiecki in Heidelberg bewiesen. Vergeblich sucht man darin nach Vorschlägen, wie sich die EU den unzäh­ligen Heraus­for­de­rungen stellen sollte. Statt­dessen polemi­sierte der Regie­rungs­chefs des größten östlichen EU-Mitglied­staates gegen einen nicht näher definierten EU-Super­staat und kriti­sierte, dass die EU-integration zu weit gegangen sei. So wurde auch die Chance vertan, den oft rekla­mierten Führungs­an­spruch eine Substanz zu verleihen.

Aufmerk­sam­keits­ver­schiebung hin zu Osteuropa

Deutschland wäre aber schlecht beraten, sich nun selbst­ge­fällig wieder zurück­zu­lehnen, in der falschen Überzeugung, es würde doch alles beim Alten bleiben. Das gestiegene Selbst­be­wusstsein sowie die partie­über­grei­fende Skepsis gegenüber Deutschland sind ein Faktum – Großmacht­fan­tasien der PiS hin oder her. Eine Macht­ver­schiebung mag eine Illusion sein, eine Aufmerk­sam­keits­ver­schiebung hin zum Osten steht aber außer Frage – und tut auch Not. Die europäische Geschichte spielt gerade im Osten und das wird sich so schnell nicht ändern. Damit rücken auch die Perspek­tiven, Themen und Inter­essen der Osteu­ropäer stärker in den Fokus, die sich in den vergan­genen Jahren lediglich eines peripheren Daseins erfreuten: Wie soll eine neue Sicher­heits­ordnung ohne oder gar gegen Russland gestaltet werden? Wie weiter mit der EU-Erwei­te­rungs­po­litik? Wie können wir die europäische Energie-Solida­rität sicherstellen?

„Wie soll eine neue Sicher­heits­ordnung ohne oder gar gegen Russland gestaltet werden?“

Lange und meistens vergeblich versuchten die Osteu­ropäer ihre westlichen Partner dazu zu bewegen, diese Anliegen ernst zu nehmen und nach gemein­samen Antworten zu suchen. Jetzt sind diese Fragen an die Spitze der EU-Agenda gerückt, ob man es will oder nicht. Das ist die eigent­liche „Veröst­li­chung“ der EU, mit der auch Deutschland klarkommen muss. Es wird seinem Anspruch nach einer neuen Führungs­rolle in Europa nicht gerecht werden können, ohne die gordi­schen Knoten in diesen Bereichen zu zerschlagen. Und dabei wird kein Weg an Polen und anderen Partnern in der Region vorbeiführen.

Europäi­scher vertei­di­gungs­po­li­ti­scher Solidarpakt für die Ukraine

Deutschland sollte auf die neue Situation mit einem integra­tiven Gestal­tungs­ansatz antworten. Genauso wie im Falle Polens erwächst Berlins Führungs­rolle jedoch nicht aus dem schlichten Beschwören dieser Position. Um der angekün­digten Zeiten­wende gerecht zu werden, sollte Deutschland gemeinsam mit Polen die Initiative für einen europäi­schen vertei­di­gungs­po­li­ti­schen Solidarpakt für die Ukraine ergreifen. Dabei würde es nicht um ominöse Sicher­heits­ga­rantien (die ohnehin nicht glaub­würdig wären) gehen, sondern um einen Plan für eine koordi­nierte und langfristige Unter­stützung der Ukraine mit Munition, Waffen, Ersat­zeilen usw.. Diese Unter­stützung würde die Selbst­ver­tei­di­gungs- und Abschre­ckungs­ka­pa­zi­täten der Ukraine – die ja voraus­sichtlich die östlichste Flanke einer neuen europäi­schen Sicher­heits­ordnung bilden wird – nachhaltig stärken.

Dass Europa hier die Verant­wortung übernehmen muss, ist unbestritten. Dies steht auch nicht im Wider­spruch zu einer engen Koope­ration mit den USA – ganz im Gegenteil! – und müsste unabhängig von der Diskussion über eine NATO-Mitglied­schaft der Ukraine erfolgen. Es wäre ein ambitio­niertes EU-Vorhaben, das mehr Koope­ration und Stärkung der europäi­schen Rüstungs­in­dustrie erfor­derte, von der aber nicht nur Polen und Deutschland profi­tieren könnten.

Gemeinsame Energie- und Erweiterungspolitik

Gemein­sam­keiten könnten Polen und Deutschland sehr wohl auch in der Erwei­te­rungs­po­litik oder Energie­po­litik finden – allem Anschein zum Trotz. Ja, auf den ersten Blick liegen Welten zwischen den Zielen Berlins und Warschaus in Bezug auf den künftigen EU-Beitritt der Ukraine. Es erfordert aber nicht viel Phantasie, sich auszu­malen, wie schwierig und lang der Weg der Ukraine in die EU sein wird. Sowohl Polen als auch Deutschland werden aber ein genuines Interesse daran haben, diese womöglich lange Übergangszeit so zu gestalten, dass die Ukraine in der EU-Familie fest verankert wird, bevor ihre volle Mitglied­schaft in dem Club möglich ist. Das aber ist leichter gesagt als getan – daher die Notwen­digkeit für eine kreative Politik, bei der Deutschland auch Impuls­geber sein sollte. Und sollte Deutschland seine Anti-Atom-Politik auf EU-Ebene lockern, würde die Diskussion über die Solida­rität in Energie­fragen auch wesentlich einfacher werden.

Die deutschen Inter­essen muss auch die Perspektive seiner östlichen Nachbarn im Blick haben

Soll Berlin das alles nur dem Osten zuliebe machen? Das wäre sicherlich eine sehr verkürzte Sicht der Dinge. Eine Neuaus­richtung der deutschen Außen­po­litik wird ohne eine stärkere Zuwendung zu Mittel- und Osteuropa nicht möglich sein. Das Ziel sollte dabei sein, nicht den polni­schen Partnern mit Anerkennung auf die Schultern zu klopfen, sondern einen frischen Blick auf die deutschen Inter­essen zu werfen. Berlin wäre gut beraten, bei deren Definition die Perspek­tiven und Inter­essen der Nachbarn im Osten stärker wahrzu­nehmen und zu reflektieren.

Dabei soll auch daran erinnert werden, dass eine der deutlichsten Asymme­trien im deutsch-polni­schen Verhältnis – das gilt aber auch für Bezie­hungen zu anderen Ländern der Region – aus der völlig unter­schied­lichen Bedeutung resul­tierte, die die Beschäf­tigung mit dem Gegenüber in der Ausge­staltung der polni­schen bzw. deutschen Außen­po­litik nach 1989/​90 spielte. Denn während eine intensive Ausein­an­der­setzung mit Deutschland ein Schlüs­sel­element einer neuen politi­schen Kultur in Polen wurde, blieb ein vergleich­barer Effekt im wieder­ver­ei­nigten Deutschland aus.

Grund­le­gende Revision des Deutschlandbildes

Ohne eine grund­le­gende Revision des Deutsch­land­bildes sowie der Einstellung zu Deutschland insgesamt wäre die Hinwendung Polens zum Westen nach dem Ende des Kalten Krieges – die wichtigste Zäsur in der außen­po­li­ti­schen Selbst­ver­ortung Polens in seiner Geschichte – nicht denkbar gewesen. Man musste den westlichen Nachbarn nicht nur besser kennen­lernen, sondern auch entdä­mo­ni­sieren. Damals stand das gesamte polnische Weltbild auf dem Prüfstand. Die polnische Deutschland-Debatte in den 90er Jahren, die den Kern dieser neuen Weichen­stellung ausmachte, verlief durchaus selbst­kri­tisch. Dazu gehörten auch unliebsame Themen wie die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten und die Frage nach der polni­schen Verantwortung.

Das Ende des Kommu­nismus bestä­tigte westdeutsche Denkmuster

In Deutschland war es anders. Das Ende des Kommu­nismus hat bestimmte Denkmuster und Weltbilder, die in Westdeutschland prägend waren, nicht in Frage gestellt, sondern bestätigt. Und ja, die EU-Osterwei­terung war ein wichtiges Thema – aber es fügte sich nahtlos in die Tradition der westdeut­schen Außen­po­litik ein, deren Prämissen und Prinzipien unver­mindert fortbe­stehen konnten. Auch eine vertiefte Ausein­an­der­setzung mit Osteuropa war vor diesem Hinter­grund nicht wirklich nötig, geschweige denn eine Revision der tradierten Wahrnehmung. Mittler­weile herrscht bei vielen die Einsicht vor, dass dies ein Fehler war. Ein Fehler, dessen Ausmaß den meisten erst mit dem russi­schen Krieg gegen die Ukraine bewusstwurde.

Es lohnt sich, ein Weltbild auch nachträglich auf den Prüfstand zu stellen

Ob diese in Polen jahrelang als demütigend empfundene Asymmetrie der Aufmerk­samkeit überwunden werden kann, bleibt offen. Es ist aber – vor allem in Deutschland – wichtig zu verstehen, dass ein verän­derter Blick auf die osteu­ro­päi­schen Beson­der­heiten keine Reaktion auf polnische Wichtig­tuerei oder Ausdruck eines vergan­gen­heits­be­zo­genen Schuld­be­wusst­seins sein muss.

Eine neue Perspektive tut Not, weil die Entwick­lungen in Osteuropa für die künftige Gestalt der EU eine viel größere Bedeutung haben werden, als man es noch bis vor kurzem wahrhaben wollte. Es lohnt sich daher, ein Weltbild auch nachträglich auf den Prüfstand zu stellen, so wie es die polni­schen Eliten mit ihrer Einstellung zu Deutschland in den 90er Jahren vollzogen hatten.

 

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