Rede anlässlich der Vorstellung der Kretschmann-Biographie von Dagmar Seitzer, „Im Herzen grün“

Rede anlässlich der Vorstellung der Kretschmann-Biographie von Dagmar Seitzer, „Im Herzen grün“ in der baden-württembergischen Landesvertretung in Berlin.
Ralf Fücks / 16.10.2025
Der Sinn von Politik ist Freiheit.
Rede auf Winfried Kretschmann.
Lieber Winfried,
ich wurde gefragt, als Einstimmung auf den Abend eine kleine Rede auf Dich zu halten. Das ist eine Ehre, vielen Dank dafür, aber auch ein Wagnis angesichts Deiner Flughöhe. Fangen wir mit einer schlichten Tatsachenwahrheit an: Winfried Kretschmann ist eine Ausnahmeerscheinung in der deutschen Politik: ein Regierungschef, der über die letzten Dinge nachdenkt, belesen, sprachmächtig, grün und katholisch. Man ist versucht, Dich einen Philosophenkönig zu nennen, wenn Du nicht durch und durch Republikaner wärst. Eine seltene Mischung aus hochfliegenden Gedanken und einer geerdeten Person, ein Büchermensch und passionierter Handwerker, der selbst aufs Dach steigt, um die Ziegel zu richten; liberal und konservativ, veränderungsoffen und bewahrend; ein Mann des Glaubens und der praktischen Vernunft.
Für Dich schließen sich solche Paradoxien nicht aus. Sie miteinander in Einklang zu bringen, in der Politik wie im persönlichen Leben, darin liegt der Reiz. Ein empfindsamer, zumeist freundlicher, aber nicht unbedingt sanfter Riese – wie man hört, kannst Du auch ausgesprochen kantig und grantig sein.
Wer wissen will, was Dich umtreibt, sollte Deine Bücher lesen – Deine Überlegungen zu einem modernen Konservatismus und Dein jüngstes Buch über Hannah Arendt, mit der Du einen jahrzehntelangen inneren Dialog geführt hast: „Der Sinn von Politik ist Freiheit.“ Wer die Freiheit so ins Zentrum rückt, geht im Wertkonservativen nicht auf. Man sollte ohnehin nicht versuchen, Dich in eine der gängigen politischen Schubladen zu stecken.
Man versteht Dich und Deine Art, Politik zu machen, nicht ohne Deine Prägung als „in der Wolle gefärbter Katholik“. Ungebrochen ist diese Erfahrung nicht. Als Schüler in einer katholischen Internatsschule hast Du die abgründigen Seiten dieser Welt erlebt. In Deiner linksradikalen Phase bist Du aus der Kirche ausgetreten, bevor Du nach mehr als einem Jahrzehnt wieder zurückgefunden hast. Du warst aktives Mitglied im Kirchengemeinderat. Deine Kirchenführungen sind legendär. Wie man hört, muss man dafür viel Zeit mitbringen.
Neben Christa Nickels warst Du lange das einzige grüne Mitglied im Zentralkomitee der Katholiken – wenn schon ZK, dann besser dort als im KBW. Aber dazu später.
Über die transzendentale Seite Deines Glaubens will ich nicht reden. Dazu fühle ich mich nicht berufen. Stattdessen ein paar Worte zur Schnittstelle zwischen Christentum und Demokratie. Wer nur die Französische Revolution mit ihrem Furor gegen die unheilige Allianz von Thron und Altar vor Augen hat, verkennt leicht die Fundierung der Menschenrechte in der gleichen Würde aller Gotteskinder. Gerechtigkeit war zuerst Gerechtigkeit vor Gott.
Auch das Grundgesetz ist christlich imprägniert. Du kannst das wunderbar übersetzen: „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ ist ein profaner Begriff für heilig.
Was passiert aber mit dieser Fundierung, wenn das Christentum als normativer Anker zerbröckelt, die Gesellschaft zugleich a‑religiöser und multi-religiöser wird? Das führt zu Beckenfördes berühmtem Befund: Der demokratische Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst garantieren kann.
Das Christentum kann nicht die einzige normative Quelle für eine humane Gesellschaft sein. Die klassischen Kardinaltugenden, die Du gern zitierst – Klugheit, Gerechtigkeit, Tapferkeit und Mäßigung – haben ihren Ursprung in der antiken Philosophie. Griechische Stadtrepubliken waren eine Frühform der Demokratie. Was ihnen fehlte, war das Credo der gleichen Würde und Freiheit aller. Dass die übergroße Mehrheit – Frauen, die unteren Klassen, Sklaven – von der Demokratie ausgeschlossen blieb, war den alten Griechen kein Problem.
Auch die amerikanische Demokratie – die erste der Moderne – war zu Beginn nur die Selbstherrschaft einer begüterten weißen Minderheit. Aber sie trug in sich bereits den Keim einer Universalisierung der Freiheit: „Alle Menschen sind gleich geschaffen und von ihrem Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet, darunter das Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück“ – dieser berühmte Eingangssatz der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung ist ein mächtiger, bis heute fortwährender Imperativ, der sich gegen jeden Ausschluss, jede Diskriminierung richtet.
Für Dich sind Katholizismus und Politik unterschiedliche Formen des In-der-Welt-Seins. Zu Beginn Deines Studiums – Biologie und Chemie, ein solides Fundament für einen Ökologen – warst Du noch Mitglied einer katholischen Verbindung. Dann kam die radikale Wendung nach links.
Da war mehr im Spiel als der Protest gegen den „Muff von tausend Jahren unter den Talaren“, gegen die verstockt-reaktionäre Filbinger-CDU, den Vietnamkrieg und autoritäre Hierarchien. Will sagen: Es gab Ende der 60er, Anfang der 70er viele gute Gründe, in radikale Opposition zu gehen. Aber das erklärt nicht, weshalb wir als antiautoritäre Rebellen gestartet und in einer stockautoritären Kaderorganisation gelandet sind. Bei Dir stellt sich die Frage umso mehr, weil Du nie so ganz mit der bürgerlichen Welt gebrochen hast. Die Woche über Revoluzzer, am Wochenende Schützenverein und Spielmannszug – den Spagat muss man erst mal hinkriegen.
Der Versuchung des Radikalismus sind viele kluge Köpfe erlegen, nicht erst ’68. Radikalismus erscheint als interessant, edel und kühn, Realpolitik als langweilig, Kompromiss als Verrat. Ein anderes Moment war die Selbstgeißelung als Buße für den eigenen privilegierten Status. Nicht zu vergessen ein kräftiger Schuss juveniler Größenwahn: Wir hatten auf alles eine Antwort und fühlten uns allen überlegen, auch wenn wir ihnen an Wissen und Erfahrung nicht das Wasser reichen konnten. Dazu kam die suggestive Überzeugung „Sozialismus oder Barbarei!“ – all das hat eine Rolle gespielt.
Dass gerade religiös empfindsame Menschen ihr Heil im Kommunismus suchten, ist nur auf den ersten Blick erstaunlich. Der Kommunismus ist eine innerweltliche Religion, die das Paradies auf Erden verspricht und in die Hölle des Terrors gegen Klassenfeinde und Konterrevolutionäre führt. Wie auch immer: Am Ende war nicht so wichtig, wie wir in diese Sache hineingerieten, sondern wie wir wieder aus ihr herauskamen. Das ist der interessante Punkt. Es sind damals zahlreiche ehemalige Linksradikale zu den Grünen gegangen. Man kann sie grob in zwei Gruppen unterteilen: diejenigen, die an ihren sozialistischen Grundüberzeugungen festhielten und die Grünen als Durchlauferhitzer für eine neue linke Partei nutzen wollten – und diejenigen, für die der Schritt zu den Grünen ein Bruch mit ihrer politischen Vergangenheit war, der Aufbruch zu etwas Neuem. Wer die Geschichte der Grünen kennt, kennt auch die Protagonisten dieser Richtungen.
Im Zentrum dieses Neubeginns standen drei Fragen:
Erstens die Entdeckung der Ökologie als Menschheitsthema, das sich der klassischen Rechts-links-Zuordnung entzieht.
Zweitens die Aneignung der Demokratie – und zwar der liberalen Demokratie mit Gewaltenteilung, Parlamentarismus, politischem Pluralismus und verbürgten Bürgerrechten. Demokratie nicht als Mittel zu diesem oder jenem Zweck, sondern als Wert an sich.
Drittens entdeckten wir früher oder später die Marktwirtschaft – nicht nur als effektivste Wirtschaftsform, sondern als freiheitliche ökonomische Ordnung, komplementär zur freiheitlichen Demokratie.
Kretsch ist alles drei: überzeugter Ökologe, überzeugter Demokrat und überzeugter Verfechter der Marktwirtschaft. Aus dieser Überzeugung folgt: Ökologische Politik muss das Primat der Demokratie anerkennen – gegen die Versuchung, ökologische Ziele notfalls auch mit autoritären Mitteln durchzusetzen. Umgekehrt müssen sich Demokratie und Marktwirtschaft an der ökologischen Frage bewähren. Das heißt auch: Wir müssen marktwirtschaftliche Antworten auf die ökologische Krise finden, statt immer weiter in Richtung Dirigismus und Mikromanagement abzudriften. Wir haben die Regulierungsschraube schon bis zum Anschlag gedreht, nicht nur in der Umweltpolitik. Wer das fortsetzt, provoziert ein massives antibürokratisches Rollback. Es braut sich schon zusammen.
Für Kretsch ist die ökologische Marktwirtschaft ein Markenkern der Grünen. Im Kern geht es um die Entkopplung von wirtschaftlicher Wertschöpfung und Naturverbrauch: Green Growth statt Degrowth. Die ökologische Transformation wird nur gelingen, wenn sie auch ein ökonomisches Erfolgsprojekt wird. Wer das noch nicht begriffen hat, lernt es jetzt auf die harte Tour.
Dir war immer klar, dass ein Industrieland nicht gegen die Unternehmen regiert werden kann. Es hängt zu viel an einer florierenden Wirtschaft – der Sozialstaat wie der Aufbruch in eine postfossile Gesellschaft. Die ökologische Transformation ist im Kern ein gigantisches Investitionsprojekt, das aus dem laufenden Betrieb finanziert werden muss. Das enorme Know-how, das Innovationspotenzial, das in den Unternehmen steckt, ist die Grundlage unseres Wohlstands. Für Dich waren die Grünen kein alter Wein in neuen Schläuchen. Sie boten die Chance auf etwas Neues, eine neue politische Form und neue politische Inhalte zugleich: Reform statt Revolution, Gewaltfreiheit statt Militanz, Bereitschaft zum demokratischen Kompromiss statt Alles oder Nichts, Respekt vor dem politischen Gegner statt ihn verächtlich zu machen. Es war nur konsequent, dass Du im bürgerlichen Flügel der baden-württembergischen Grünen gelandet bist, zusammen mit anderen klugen Leuten wie Dieter Hasenclever, Fritz Kuhn, Rezzo Schlauch und Marieluise Beck.
Dass Du Deine politische Laufbahn als Ministerpräsident beenden würdest, hätte man lange für einen Faschingsscherz gehalten. Bei den Grünen warst Du chronisch in der Minderheit, alles andere als ein Darling der Partei. Es gab bittere Niederlagen, Pfiffe und Demütigungen, auch weil Du Dein Fähnchen nie nach dem Wind gehängt hast. Du hast immer noch etwas von diesem „Hier stehe ich und kann nicht anders!“, ein trotziges „Ich lasse mich von der Partei nicht verbiegen.“ Aber Du hast durchgehalten, mit der Dir eigenen Sturheit, aber auch der Demut, Dich selbst nicht über die Maßen wichtig zu nehmen.
Am Ende war es doch so, dass alles auf Dich hinauslief: der richtige Mann am richtigen Ort zur richtigen Zeit. Politischer Erfolg hängt nie allein von einem selbst ab. Es braucht auch Fortune. Ohne die bis ins Bürgertum reichenden Proteste gegen Stuttgart 21, ohne das brachiale Vorgehen der damaligen CDU-Landesregierung und ohne die Anti-Atom-Stimmung nach Fukushima wärst Du 2011 kaum Ministerpräsident geworden.
Aber dass Dich die Baden-Württemberger danach noch zweimal im Amt bestätigt haben, bei der Landtagswahl 2021 mit einem Traumergebnis von 32 Prozent, das hat vor allem mit Dir zu tun. Das waren Kretschmann-Wahlen. Zu dieser Erfolgsgeschichte gehört, dass hinter Dir ein ganzer Schwarm kluger Leute stand. Ich kann sie nicht alle aufzählen, aber es ist eine außergewöhnliche Kombination von Talent und Tatkraft, die Du über die Jahre um Dich versammelt hast.
In Deinen politischen Anfangszeiten war Dir die Rolle des Landesvaters nicht auf den Leib geschnitten. Lange hing Dir der Ruf eines Eigenbrötlers nach; Du warst nicht immer ein Kommunikationsgenie. Aber wie heißt es so schön: Kleider machen Leute. Auch Ämter machen Leute. Manche steigen auf der politischen Karriereleiter hoch, bis sie definitiv überfordert sind; andere wachsen mit ihren Aufgaben.
Rudi Hoogvliet, über viele Jahre hinweg Dein Pressesprecher und Berater, hat es schön beschrieben: „Er hat die Wahl gewonnen, und das war wie ein Schalter, der plötzlich umgelegt war. Alles hat gestimmt. Er war einfach dahin gekommen, wo er hinwollte, nämlich ins Regieren.“
Regieren heißt gestalten. Das ist es, was Du wolltest. Aber weder ist demokratisches Regieren eine schrankenlose Ermächtigung noch der archimedische Hebel, von dem aus die Welt nach Belieben umgemodelt werden kann. Es gibt einen Eigensinn der Ökonomie, des Rechts, der Staatsfinanzen, der Gesellschaft, die dem politischen Handeln Grenzen setzt. Wer sie ignoriert, wird früher oder später schmerzhaft daran erinnert.
Was von Deinen bald 15 Jahren als Ministerpräsident in der Sache bleibt, können andere besser beurteilen. Für mich zählt dazu Deine Entscheidung, 1000 jesidischen Frauen und Mädchen aus dem Nordirak und Syrien eine Zuflucht in Ba-Wü zu geben, um sie vor Verfolgung und sexueller Gewalt zu schützen.
Vor allem aber ein neuer Politikstil, für den Du einen originellen Namen gefunden hast: „Die Politik des Gehörtwerdens.“ Das ist eine ziemlich verschraubte Wortschöpfung; dennoch versteht fast jeder auf Anhieb, was damit gemeint ist.
In der Demokratie muss klar sein, wer entscheidet: Parlamente und Regierungen. Die haben dafür ein demokratisches Mandat. Und demokratische Politik muss Probleme anpacken, statt sie ewig vor sich herzuschieben. Regierungen müssen liefern. Dafür werden sie gewählt, auch wenn Demokratie kein Bestellservice ist. Der Witz ist: Politische Entscheidungen werden besser – und eher akzeptiert –, wenn sie aus konsultativen Verfahren hervorgehen; nicht zu verwechseln mit endlosem Palaver und einem Vetorecht lautstarker Minderheiten.
Man kann von Kretsch lernen, was politische Führung im besten Sinne bedeutet: Orientierung geben. Vertrauen stiften. „Dranbleiben an den Zielen. Standhaft in den Überzeugungen. Glaubhaft in den Aussagen, mit Ausdauer und Augenmaß“, wie es so schön in Deinem Wahlspot von 2016 heißt. Seine Politik beständig mit der Wirklichkeit abzugleichen, das ist eine treffende Definition von Realpolitik.
Bei 15 Jahren als grüner MP kann man schon von einer Ära sprechen. Wir werden sehen, ob sie eine Ausnahme bleibt, die sich einer ganz besonderen Konstellation von Person und günstigen Umständen verdankt. Inzwischen bläst der Zeitgeist den Grünen nicht mehr die Segel, sondern ins Gesicht. Aber Du hast vorgemacht, wie man das Feld von hinten aufrollen kann. – Schöne Grüße an Cem! Noch ist es zu früh für Nachrufe. Wie es auch weitergeht, wenn Du die Villa Reizenstein verlässt: Bleib uns noch lange als der freie, unabhängige Geist erhalten, der Du bist. Viel Glück und viel Segen auf all Deinen Wegen!
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