Resolution: Menschenrechte ohne Grenzen
Gemeinsame Erklärung von Teilnehmer/innen der diesjährigen „Juri-Schmidt-Konferenz“ zur Lage der Menschenrechte in Russland. Sie wendet sich an die russische Führung wie an die westliche Staatengemeinschaft: Haltet an Demokratie und Menschenrechten als Grundlage für Frieden und Zusammenarbeit in Europa fest!
Berlin, 18–19 Mai 2018
Am Ende des zweiten Jahrzehnts des XXI Jahrhunderts bleibt Russland eines der wenigen Länder in Europa, in denen Menschenrechte deklariert, aber nicht eingehalten werden.
Die russische Verfassung stellt ein verhältnismäßig modernes und humanes Grundgesetz dar. Sie garantiert den Bürgerinnen und Bürgern das Recht auf Leben, persönliche Freiheit, Würde, Zugang zur Gerichtsbarkeit, Meinungs‑, Wort- und Versammlungsfreiheit und andere Bürger- und Menschenrechte, die im internationalen Recht verankert sind.
Aber zwischen den normativen Deklarationen der Verfassung und der praktischen Rechtsanwendung liegt eine Kluft. Politische Morde wie der an Boris Nemtsov, die nicht aufgeklärt werden; ausgeklügelte psychische und physische Folter, wie in den Fällen von Oleg Sentsov und Alexey Malobrodskiy, eine große Anzahl von politischen Gefangenen (117 Personen nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Memorial) werden zum Alltag.
Politische Repressionen gegen zivilgesellschaftliche Aktivisten und Anführer der Opposition werden immer umfassender. Repressive Gesetze werden immer ausgeklügelter und greifen immer stärker in den Alltag ein.
Zensur wird aktiv praktiziert. Diese manifestiert sich nicht nur im faktischen Verbot der Berichterstattung zu bestimmten Themen und dem Ausschluss von bestimmten Personen aus den staatlich kontrollierten Medien, sondern auch im Abwürgen von unabhängigen Medien mit juristischen und wirtschaftlichen Mitteln. Unter diesen Umständen bleibt das Internet das einzige Medium, das sich in Teilen der staatlichen Kontrolle entziehen kann. Aber auch hier gibt es eine ausgeprägte Tendenz zu Repression. Für die Weiterverbreitung von bestimmten Informationen drohen administrative und strafrechtliche Verfolgung. Außergerichtliches Blockieren von Webseiten und eine Armee von staatlichen Bots verhindern das Recht auf freie Meinungsäußerung und den Zugang zu Information.
Das Rechtsschutzsystem und die Justiz legen den Schwerpunkt auf Anklage. Das macht, vor dem Hintergrund einer generellen gesetzlichen Überregulierung, jeden Bürger zum potenziellen Verbrecher. Abwesenheit gesellschaftlicher Kontrolle, Straflosigkeit und Korrumpierbarkeit von Sicherheitsorganen in Kombination mit dem repressiven Charakter und einem abhängigen Zustand der Richterschaft führen dazu, dass ein überwiegender Teil der russischen Bevölkerung keinen Zugang zu fairen Verfahren hat. Das Vertrauen zum Rechtssystem und zum Recht als solchem sinkt katastrophal.
In Anbetracht der massiven Menschenrechtsverletzungen seitens des Staates, Missachtung der Grundsätze einer fairen Rechtsprechung und der Repressionen gegen unabhängige Medien wächst die Relevanz der Menschenrechtsarbeit umso stärker. Oft werden Menschenrechtsaktivisten zur letzten, wenn nicht zur einzigen Hoffnung eines Menschen, welchem ein ganzer Staatsapparat gegenübersteht.
Menschenrechtsaktivismus ist in Russland Gegenstand akribischer Aufmerksamkeit und heftigen Widerstandes seitens der Regierung. Das Fehlen von staatlicher und das Verhindern von privater Finanzierung, die Gesetze über die Tätigkeit sogenannter „ausländischer Agenten“ und „unerwünschter Organisationen“ und die Rufmordkampagnen staatlicher Medien erschweren die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen und Aktivisten. Gesetzeswidrige Repressionen und physische Gewalt machen Menschenrechtsaktivismus zu einer gefährlichen Tätigkeit.
Unter diesen Bedingungen nimmt internationale Zusammenarbeit und Hilfe im Bereich der Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle ein. Probleme und Verletzungen im Bereich der grundlegenden Menschenrechte dürfen keine innere Angelegenheit eines einzelnen Staates sein, vor allem wenn dieser Staat internationale Verpflichtungen zum Schutz der Menschenrechte und Freiheiten eingegangen ist, wie Russland es getan hat.
Die europäischen Regierungen sollten alles tun, um den Austausch zwischen der russischen und der europäischen Zivilgesellschaft zu fördern und der Isolationspolitik der russischen Regierung entgegenzuwirken. Dazu gehört eine Vereinbarung über den visafreien Reiseverkehr, Stipendienprogramme für Studierende, Wissenschaftler, Künstler und Journalisten sowie die Förderung der Zusammenarbeit zwischen unabhängigen NGOs in Russland und ihren westlichen Partnern. Die Gesetze, die auf die Unterbindung dieser Zusammenarbeit abzielen, müssen aufgehoben werden. Das ist besonders wichtig angesichts der zunehmenden Anzahl von Anhängern des Autoritarismus in Europa selbst.
Die europäischen Regierungen müssen gegenüber der russischen Führung auf den von Russland akzeptierten Prinzipien der Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa bestehen. Dazu gehören insbesondere die europäische Menschenrechtskonvention und die im Helsinki-Protokoll und der Charta von Paris vereinbarten Eckpunkte. Menschenrechtsverletzungen müssen thematisiert und die Einhaltung demokratischer Normen eingefordert werden.
Bei Kontakten auf Regierungs- und Parlamentsebene sollte unbedingt auch die Freilassung politischer Häftlinge und die Verbesserung der Haftbedingungen im russischen Strafvollzug thematisiert werden.
Die Teilnehmer der Konferenz sehen die lebensbedrohliche Situation des in Russland gefangen gehaltenen ukrainischen Regisseurs Oleg Sentsov mit großer Sorge und fordern seine Freilassung.
Wir rufen Amnesty International auf, Alexey Pitschugin als politischen Gefangenen anzuerkennen und seine sofortige Freilassung zu verlangen.
Die Pressefreiheit in Russland gerät immer stärker unter Druck. Seit 1991 sind 360 Journalisten getötet worden. Wir erwarten von den westlichen Regierungen, dass sie sich für das Grundrecht auf Informations- und Meinungsfreiheit und für den Schutz kritischer Journalistinnen einsetzen.
Die Informations- und Internetfreiheit und der Schutz der Privatsphäre vor staatlicher Überwachung sollte in den europäisch-russischen Beziehungen verstärkt zur Sprache kommen. Hier sind verbindliche Regelungen im Rahmen des Europarats anzustreben.
Wir rufen westliche Stiftungen und gesellschaftliche Organisationen auf, ihre Aktivitäten in Russland unter dem Druck der repressiven Praxis nicht einzustellen, sondern umgekehrt nach Wegen zu suchen, den Austausch und die Zusammenarbeit mit der demokratischen Zivilgesellschaft Russlands fortzusetzen.
Wir rufen Politiker, Aktivisten und Journalisten weltweit dazu auf, mit den russischen Menschenrechtsorganisationen zu kooperieren und diese zu unterstützen. In diesem Augenblick sind die Menschenrechte die wichtigste Waffe im Kampf für Menschenwürde und demokratische Freiheiten in Russland.
Wir rufen alle politischen Kräfte dazu auf, den Menschenrechtsverletzungen in Russland mehr Beachtung zu schenken und alle zur Verfügung stehenden Mittel zu nutzen, um diese Situation zu verbessern.
Wir rufen auch alle Journalisten dazu auf, der Menschenrechtsthematik in Russland mehr Beachtung zu schenken. Maximale Öffentlichkeit bleibt die wichtigste, wenn nicht die einzige, Waffe der Menschenrechtler in ihrem Kampf.
Mit Blick auf die wachsende Zahl politischer Flüchtlinge aus Russland ist es erforderlich, systematische Informationen über Menschenrechtsverletzungen und fehlende rechtsstaatliche Garantien in Russland zu Verfügung zu stellen. Dazu sollten geeignete Plattformen entwickelt werden.
Wir rufen westliche Menschenrechtsorganisationen dazu auf, ihre russischen Kollegen weiterhin zu unterstützen und ihre Arbeit umfassender zu koordinieren, insbesondere wenn es um Hilfeleistung zugunsten russischer Staatsbürger außerhalb der Grenzen der Russischen Föderation geht.
Wir schlagen vor, eine Expertengruppe zu gründen, die die Befolgung von Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofes, die Russland betreffen, überwachen soll. Die Ergebnisse dieses Monitorings sollen im Europarat beraten werden.
Wir rufen den Europarat dazu auf, Russland nicht auszuschließen, aber auch keine Absenkung der Menschenrechtsstandards zu akzeptieren, und der russischen Regierung keine carte blanche zur Verschärfung der Repressionen und Einführung der Todesstrafe zu geben. Verletzungen der europäischen Menschenrechtskonvention und der europäischen Friedensordnung müssen geahndet werden, ohne die Türen für die europäische Integration Russlands zu schließen.
Menschenrechte haben keine Grenzen.
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