Ausge­hungert

In den Dreißi­ger­jahren ließ Stalin Millionen von Menschen verhungern, um das ukrai­nische Natio­nal­be­wusstsein zu brechen. Das neue Buch der US-Histo­ri­kerin Anne Applebaum ist die erste große Monographie, die den „Holodomor“ aufar­beitet. Eine Rezension.

Gleich vorab: Anne Apple­baums Buch ist keine leichte Lektüre. Wenn man sich als Leser auf die vielen furcht­baren Schicksale von Menschen einlässt, die hier erzählt werden, dann fragt man sich, ist dies noch Geschichte oder schon Apoka­lypse? Anderer­seits: Wie war es denn im Dreißig­jäh­rigen Krieg, in den Schüt­zen­gräben des Ersten Weltkriegs oder gar im Holocaust? 

Portrait von Gerhard Simon

Gerhard Simon war Professor an der Univer­sität zu Köln und gilt als einer der renom­mier­testen Ukraine-Experten in Deutschland.

Das Buch von Anne Applebaum ist die erste große Monographie zum Holodomor, die jetzt in deutscher Sprache vorliegt. Sie beruht auf der umfang­reichen ukrai­ni­schen und englisch­spra­chigen Forschung der vergan­genen drei Jahrzehnte und macht deren Ergeb­nisse erstmals einer breiten Leser­schaft zugänglich. Leider berück­sichtigt diese Monographie nicht die deutsch­spra­chige Ukrai­ne­for­schung. Die wichtigste einschlägige Publi­kation „Vernichtung durch Hunger. Der Holodomor in der Ukraine und der UdSSR“ kommt in den wesent­lichen Fragen zu ganz ähnlichen Ergeb­nissen, auch wenn die lebens­welt­liche Vielfalt und Konkretheit von Anne Applebaum unerreicht sind.

Der Begriff Holodomor meint im Ukrai­ni­schen „Tötung durch Hunger“. Seit dem Ende des Sowjet­kom­mu­nismus wird die große Hungersnot in der Ukraine von 1932/​33 mit diesem Terminus bezeichnet, der zuvor schon seit den Siebzi­ger­jahren in der ukrai­ni­schen Diaspora verwendet wurde. Bei diesem Terminus schwingt mit, dass die große Hungersnot menschen­ge­macht, also vermeidbar gewesen ist, dass das Stalin-Regime politisch dafür verant­wortlich ist und dass dieses Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit vor allem, wenn auch keineswegs ausschließlich, gegen die Ukrainer gerichtet war.

Wer hungert, das zeigen die Berichte, wird böse und unberechenbar

Im Zentrum der Erzählung dieses Buches steht das Sterben und Überleben während des Holodomor, der auf seinem Höhepunkt im Frühjahr 1933 die meisten Opfer forderte, als alles Essbare in den Dörfern zwangs­kon­fis­ziert war und Millionen Menschen verhun­gerten. Die Zahl der Opfer beläuft sich nach derzei­tigem Wissens­stand auf etwa 4 Millionen Menschen in der Ukraine. Hinzu kommen weitere Millionen in Kasachstan, an der Wolga und im Nordkaukasus.

Mit großer Anschau­lichkeit schildert die Autorin Hunderte von Einzel­schick­salen, die zumeist auf Augen- und Zeitzeu­gen­be­richten beruhen, die in postso­wje­ti­scher Zeit gesammelt wurden. Denn es gehört zu den infamen Zügen des Holodomor, dass er in der Sowjet­union nicht nur geleugnet wurde: Jede öffent­liche Erwähnung war verboten. Der Holodomor sollte aus dem Gedächtnis gelöscht werden. Die Sowjets gingen von der zutref­fenden Einschätzung aus: An was man sich nicht erinnert, ist nicht gewesen. Dennoch überlebte die Erinnerung an die große Hungersnot in mündlichen Erzäh­lungen in den Familien, in versteckten Aufzeich­nungen und in der Diaspora nach 1945.

Mit den Menschen starb oft auch die Mensch­lichkeit, denn – das zeigen viele Berichte – wer hungert, wird böse und unbere­chenbar, bevor er in Apathie versinkt. Die erlernten morali­schen Bremsen versagen. Manche verfallen in Wahnsinn. Manchmal steht am Ende der Kanni­ba­lismus. Opfer der Hungersnot wurden auch die Volks­kultur, die Lieder, die Festags­bräuche und die kirch­lichen Bindungen.

Für Stalin stand der Hunger im Dienst der Sowjetisierung

Wie kam es zu der Hungersnot? Gab es aus Stalins Sicht eine Ratio dafür, Millionen Menschen verhungern zu lassen? Ausgelöst wurde das Massen­sterben in den Dörfern durch unerfüllbar hohe Abgabe­quoten für Getreide und andere landwirt­schaft­liche Produkte und durch das Konfis­zieren aller Lebens­mittel bei den Bauern wegen Nicht­er­füllung dieses Abgabesolls.

Aber Stalin sah in der Nicht­er­füllung des Solls politi­schen Wider­stand sowohl der Bauern als auch der Kommu­nisten in der Ukraine. „Wir können die Ukraine verlieren“, glaubte er obsessiv. Denn die Ukrai­ni­sierung im zurück­lie­genden Jahrzehnt hatte Kultur und Selbst­be­wusstsein der Ukrainer gestärkt, es gab eine Tendenz „weg von Moskau“: Der Sowjet­fö­de­ra­lismus drohte zur Realität zu werden. Für Stalin war deshalb das Aushungern der ukrai­ni­schen Dörfer ein Instrument im Kampf gegen das ukrai­nische Natio­nal­be­wusstsein. Der Hungersnot folgten eine Säuberung aller ukrai­ni­schen kultu­rellen und wissen­schaft­lichen Einrich­tungen sowie die Zerschlagung der örtlichen und regio­nalen Verwal­tungs­in­sti­tu­tionen. Aus Stalins Perspektive stand der Hunger im Dienst des Kampfes für die Sowje­ti­sierung der Ukraine.

Der Aufbau der Monographie von Anne Applebaum folgt einer sorgfäl­tigen Drama­turgie. Am Anfang steht eine ausführ­liche Darstellung der Revolution von 1917 und des folgenden Bürger­kriegs, einschließlich der Bauern­auf­stände von 1919 und der ersten Hungersnot von 1921. Es folgen Kapitel über die Ukrai­ni­sierung und die Zwangs­kol­lek­ti­vierung. Nach den im Zentrum des Buches stehenden Abschnitten über den Holodomor geht die Autorin auf das Verschweigen und die Leugnung der großen Hungersnot ein. Am Schluss stehen Abschnitte über die Wiederkehr der Toten und ihre Rolle in der neuen Ukraine nach 1991.

In der postso­wje­ti­schen Ukraine wurde das Gedenken zu einem Instrument der Identifikation

Eine leitende Frage­stellung ist die nach der Konti­nuität der bolsche­wis­ti­schen Politik. Es zeigt sich, dass wichtige Repres­si­ons­in­stru­mente während des Holodomor bereits in und nach der Revolu­ti­onszeit entwi­ckelt worden sind: die Konfis­zierung der Ernte oder das Aufstellen „schwarzer Listen“ von Dörfern, die ihr Soll nicht erfüllt haben. Vor allem zeigt die Autorin durch­gehend die zentrale Rolle der Gewalt in der Politik. Die von oben ausge­hende Gewalt hat nicht nur das Verhalten der Unter­ge­benen geprägt, sondern generell der Gesell­schaft und den Menschen ihren Stempel aufgedrückt.

Eindrucksvoll wird in diesem Buch auch die zentrale Rolle der Geheim­po­lizei (OGPU, Verei­nigte Staat­liche Politische Verwaltung) deutlich, nicht nur als Exekutor, sondern auch als Quelle der Infor­mation. Stalin persönlich hat die Sowjet­union, weil er selber kaum reiste, weitgehend so gesehen, wie die Geheim­po­lizei sie ihm in ihren Berichten vor Augen führte. Er glaubte deshalb nicht an die Hunger­toten in den Dörfern, er hatte sie ja nicht gesehen. Die vielen anderen Berichte, in denen das Gegenteil stand, ignorierte und verhöhnte er. Dagegen glaubte er offenbar an die nicht endenden konter­re­vo­lu­tio­nären Verschwö­rungen der Ukrainer, die von der OGPU erfunden wurden, um ihre Existenz zu rechtfertigen.

In der postso­wje­ti­schen Ukraine, insbe­sondere in den Jahren der Präsi­dent­schaft Wiktor Juscht­schenkos, wurde das Gedenken an den Holodomor zu einem Instrument der natio­nalen Identi­fi­kation. Dabei kam es auch zu Übertrei­bungen, etwa zu überhöhten Opfer­zahlen und bei einigen ukrai­ni­schen Autoren zur Gleich­setzung des Holodomor mit dem Holocaust. Dies ist nicht nur falsch, sondern gerade in Deutschland fatal. Bei uns wird der Holodomor nur dann die ihm gebüh­rende größere Aufmerk­samkeit finden, wenn für jedermann klar ist, dass diese beiden großen Verbrechen gegen die Mensch­lichkeit nicht in Opfer­kon­kurrenz zuein­ander stehen.

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