„Die Russlanddeutschen haben ein bestimmtes Image als rechts“
Lange galten Russlanddeutschen als zuverlässige Stammwähler:innen der CDU/CSU und darüber hinaus als nicht besonders politisch engagiert. Beginnend mit dem „Fall Lisa“ im Jahr 2016 änderte sich das. Einige russlanddeutsche Spätaussiedler:innen protestierten gegen die Migrationspolitik der Bundesregierung. Das brachte den Russlanddeutschen den Ruf ein, jetzt vermehrt für rechtspopulistische und ‑extreme Parteien zu stimmen und sich deren Ideen zuzuwenden.
Der Historiker und Migrationsforscher Jannis Panagiotidis hat sich diese Gruppe und ihr Wahlverhalten genauer angesehen. Wir haben ihn gefragt: Was ist dran an diesem Ruf?
Über Russlanddeutsche heißt es, sie seien eher konservativ. Warum?
In den 1990ern und frühen 2000ern, als es ein bisschen Wahlforschung zu dieser Gruppe gab, hat man beobachtet, dass Russlanddeutsche größtenteils CDU wählten. Dafür nannte man verschiedene Gründe: die religiöse Grundprägung, vor allem bei den Älteren, die vielzitierte Dankbarkeit Helmut Kohl gegenüber, weil die meisten Russlanddeutschen während seiner Regierung nach Deutschland einreisten und die Tatsache, dass die Menschen aus einem kommunistisch regierten Land, zumindest vom Anspruch her, kamen und linken Gesellschaftsentwürfen eher skeptisch gegenüberstanden. Das sind die klassischen Faktoren, die man damals identifiziert hat.
40 Prozent wählen links der Mitte
Was hat sich seitdem verändert?
In meiner Forschung konnte ich zeigen, dass es diese konservative Hegemonie in dem Maße nicht mehr gibt. Die Mehrzahl der Russlanddeutschen wählt immer noch rechts der Mitte, knapp unter 60 Prozent. Aber 40 Prozent wählen links der Mitte. Und links der Mitte heißt vor allem Linkspartei, was bemerkenswert ist, weil man ja immer annahm, dass Russlanddeutsche auch aus Feindseligkeit gegenüber dem Kommunismus konservativ wählten. Vielleicht hat diese Veränderung mit einem Generationenwandel zu tun oder mit einem Einstellungswandel in der Aussiedlergeneration, die inzwischen vielleicht etwas nostalgischer auf ihre sowjetische Vergangenheit blickt und die eher russlandfreundlichen Positionen der Linkspartei honoriert. Es könnte aber auch daran liegen, dass viele Russlanddeutsche eher prekär leben und aus dieser sozialen Lage heraus eine linke Partei bevorzugen.
Lässt sich der Zeitpunkt benennen, an dem viele Russlanddeutsche anfingen, die Linkspartei zu wählen?
Da gibt es leider Lücken in der Forschung. Als man nach den 1990ern mal wieder hinguckte, in den 2010ern, war da dieses starke, linke Spektrum. Wann es entstand, interessiert mich auch, weil man daraus auch auf die Beweggründe schließen könnte: Hat es mit der Verschlechterung des deutsch-russischen Verhältnisses zu tun? Der Krim-Annektion? Oder hat es mit sozialen Faktoren zu tun, den prekären Jobs vieler Russlanddeutscher?
Bei der AfD lässt sich der Zeitpunkt besser bestimmen. Warum haben viele Russlanddeutsche ab 2015 beschlossen, die AfD zu wählen?
Weil sich viele Russlanddeutsche in ihrer Position in der deutschen Gesellschaft nach wie vor nicht sicher fühlen.
Der offenkundigste Grund, der ja auch gesamtgesellschaftlich relevant war, war die sogenannte Flüchtlingskrise. Bei der Wahl 2013 war die AfD noch an der 5‑Prozenthürde gescheitert. Dass relativ viele Russlanddeutsche für die AfD stimmten, wird oft mit einem Konkurrenzempfinden gegenüber den Flüchtlingen begründet. Da hört man Dinge wie: Denen gibt man alles, uns hat man nichts gegeben, wir durften die Familie nicht bringen, die dürfen das, bei uns hat niemand applaudiert am Bahnhof. Ich vermute, dass auch eine empfundene Statusverunsicherung eine Rolle gespielt hat. Weil sich viele Russlanddeutsche in ihrer Position in der deutschen Gesellschaft nach wie vor nicht sicher fühlen. Sie sehen sich durch die Neuankömmlinge zusätzlich bedroht. Ich denke, deshalb ist der Schwenk zur AfD hin noch stärker ausgefallen als in der gesamten Wählerschaft.
Wie viel stärker denn?
Es wurde zwar übertrieben in der Berichterstattung über die Russlanddeutschen, die jetzt alle AfD wählen. Das stimmte so nicht. Aber es waren mehr als in der Gesamtbevölkerung.
Meine und andere Studien legen Stimmenanteile von 15–20 Prozent nahe, gegenüber 12,6 Prozent in der Gesamtbevölkerung bei der letzten Bundestagswahl. Das ist also mehr als eine mediale Illusion. Es wurde zwar übertrieben in der Berichterstattung über die Russlanddeutschen, die jetzt alle AfD wählen. Das stimmte so nicht. Aber es waren mehr als in der Gesamtbevölkerung. Was auch auffällig ist: In bestimmten postsowjetisch geprägten Vierteln gibt es überdurchschnittliche AfD-Ergebnisse. Und da kann man sich fragen: Gibt es einen Echokammereffekt? Schaukeln sich dort bestimmte Grundstimmungen hoch, weil viele Menschen mit gleicher Herkunft zusammenleben? Solche neighbourhood effects hat man für andere Migrantengruppen in anderen Ländern nachgewiesen. Das wäre auch für russlanddeutsch geprägte Viertel denkbar, ist aber bisher eine Hypothese.
Glauben russlanddeutsche AfD-Wähler:innen, sie würden nicht zum Ziel einer fremdenfeindlichen AfD-Politik werden?
Das gehört auf jeden Fall zu den Paradoxien dieses Komplexes. Nach den Lisa-Demonstrationen 2016 haben viele Kommentatoren verwundert angemerkt: Wie kann es sein, dass Migranten gegen Migranten demonstrieren? Ich denke, dass sich speziell diese Russlanddeutschen nicht als Migranten bezeichnen würden, sondern als deutsche Heimkehrer. Dadurch, dass sie sich fremdenfeindlich positionieren, für die AfD stimmen, stellen sie sich besonders dezidiert als Inländer hin. Sie sagen: Weil wir deutsch sind, uns als deutsch empfinden und auch so gesehen werden wollen, wählen wir eine nationalistische Partei. Und die AfD hat diese Klientel ja auch durchaus geschickt angesprochen, zum Teil in russischer Sprache, was für mich immer noch eine großartige Ironie ist. Dass ausgerechnet die auf nationale Homogenität bedachte AfD den multilingualen Wahlkampf entdeckt hat!
Wieso fällt es linken Parteien so schwer, Russlanddeutsche anzusprechen?
Die Russlanddeutschen haben ein bestimmtes Image als „rechts“, das bei Linken kritisch gesehen wird. Einerseits kann man solche Tendenzen zurecht kritisieren. Andererseits wird aber eine Gruppe pauschal abgestempelt.
Ich denke, das hat mit traditionellen Vorbehalten zu tun. Mit der Annahme: Russlanddeutsche sind ohnehin konservative CDU-Wähler, um die müssen wir uns nicht kümmern. Linke Parteien haben sich noch nie wirklich darum bemüht, eine Ansprache zu finden. Ein anderer Aspekt ist ein latentes bis immer mal wieder offen ausbrechendes Ressentiment gegenüber Russlanddeutschen. Viele Linke betrachten sie als privilegiert und lehnen sie aufgrund ihres Status als deutsche Migranten letztlich ab. Da wird eine Gruppe in Haftung genommen, stellvertretend für eine Regierungspolitik, die einem nicht gefiel. Die Russlanddeutschen haben ein bestimmtes Image als „rechts“, das bei Linken kritisch gesehen wird. Einerseits kann man solche Tendenzen zurecht kritisieren. Andererseits wird aber eine Gruppe pauschal abgestempelt. Es gibt auch in anderen Migrationsgruppen problematische Einstellungen – da würden Linke solche Pauschalisierungen aber ablehnen. Dieses Bündel aus Vorurteilen, Ressentiments und letztlich auch Desinteresse trägt dazu bei, dass es an einer passenden Ansprache mangelt.
Und der SPD hängt die Figur Oskar Lafontaine nach.
Oskar Lafontaine äußerte sich in den späten 1980ern bis Mitte der 1990er immer wieder abfällig über Russlanddeutsche. Er ist gewissermaßen der Stammvater des linkspopulistischen Ressentiments gegen die Russlanddeutschen. Gerade bei der Aussiedlergeneration hat das Spuren hinterlassen und die SPD verbrannt. Es gibt da Ausnahmen, das ist aber eine anekdotische Evidenz: Mir erzählte mal eine Russlanddeutsche, die schon in den 1970ern nach Deutschland immigriert ist, dass ihre Familie stramm SPD wähle. Aus dem gleichen Grund wie andere Russlanddeutsche, die später kamen, CDU wählten – aus Dankbarkeit. Denn damals war es die Regierung Schmidt, die ihnen die Ausreise ermöglicht hatte. Es gibt da wohl Loyalitäten, aber sie betreffen nur wenige Tausend Menschen.
Wie glauben Sie, werden die Russlanddeutschen bei der Bundestagswahl 2021 abstimmen?
Mit Prognosen muss man immer vorsichtig sein. Was man vielleicht sagen kann, um ein paar Trends zu markieren: Bei der Gesamtbevölkerung gewann die AfD zwischen 2014 und 2016 an Popularität, und verlor sie nach 2018 wieder ein Stück weit. Bei den Russlanddeutschen stieg der Trend nach 2016 weiter an. Das bedeutet nicht, dass es ein lineares Wachstum gibt, zumal die Pandemie die Karten noch mal neu gemischt hat. Und die sogenannte Flüchtlingskrise tritt im Bewusstsein der Menschen immer weiter in den Hintergrund. Es kann also auch sein, dass es zu keinem weiteren Zuwachs kommt. Einer meiner Studenten hat gerade eine interessante Studie durchgeführt, allerdings mit einem nichtrepräsentativen Sample. Es stimmten vor allem junge, hochgebildete Russlanddeutsche bei seiner Umfrage ab. Zwei Parteien kamen besonders gut weg. Überraschenderweise die CDU, da gibt es offenbar doch längerfristige Loyalitäten. Und die Grünen, als „go-to-Partei“ für junge, urbane, gebildete Menschen, die sich dort besser aufgehoben fühlen als in der SPD. Da bildet sich eine schwarz-grüne Hegemonie heraus, die ja vielleicht auch gesamtgesellschaftlich zukunftsweisend ist.
Das Interview führte Viktoria Morasch für o[s]klick.
o[s]tklick ist ein Projekt von LibMod und unterstützt Russlanddeutsche dabei, ihre demokratischen Werte in digitalen Netzwerken sichtbar zu machen. Das Projekt wird gefördert von der Robert Bosch Stiftung im Rahmen der Förderinitiative „DigitalDabei!“ und vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge. Diese Veröffentlichung stellt keine Meinungsäußerung des BMI dar.
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