Wie Rechts­po­pu­listen versuchen, russ­land­deut­sche (Spät‑)Aussiedler/innen in sozialen Medien für ihre Sache zu gewinnen

Foto: Unsplash.com, Christian Wiediger
Foto: Unsplash.com, Christian Wiediger

Rechts­po­pu­lis­ti­sche bis ‑extreme Akteure sprechen immer wieder Russ­land­deut­sche als Ziel­gruppe an und nutzen dafür zunehmend auch soziale Netzwerke. Dabei versuchen sie, ihre poli­ti­schen Ziele mit den Erfah­rungs­welten der Russ­land­deut­schen zu verknüpfen. Eine Unter­su­chung von Social-Media- und Messenger-Inhalten aus entspre­chenden Quellen zeigt: Es werden zahl­reiche Reprä­sen­ta­tions- und Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bote gemacht, die an die konkreten Ängste, Brüche und Ausgren­zungs­er­fah­rungen der Community anknüpfen. Außerdem zeigt sich: Rechts­extreme und ‑popu­lis­ti­sche Parolen und Verein­nah­mungs­ver­suche blieben mangels demo­kra­ti­scher Gegen­stimmen häufig unwi­der­spro­chen. Eine Recherche von Iliane Kiefer, Paula Mangold und Sergej Prokopkin.

 

 

Öffent­li­ches Zerrbild über poli­ti­sche Einstel­lungen der Russlanddeutschen

2016 rückte der „Fall Lisa“¹ (Spät-)Aussiedler/innen in der öffent­li­chen Wahr­neh­mung in ein Licht, das der Gruppe pauschal poli­ti­sche Einstel­lungen zwischen natio­nal­kon­ser­vativ und rechts­extrem zuschrieb. Medi­en­bei­träge mit Titeln wie Rechts­ruck in „Klein-Moskau„² (Spiegel) förderten ein verzerrtes Bild, das Russ­land­deut­sche zum neuen Stamm­kli­entel rechter Parteien erklärte. Erste Studien zum Wahl­ver­halten von Einwander/​innen konnten jedoch zeigen, dass diese Darstel­lung nicht haltbar ist: Zwar sind vor allem ältere (Spät-)Aussiedler/innen tenden­ziell eher konser­vativ einge­stellt, die Bericht­erstat­tung wird jedoch weniger durch tatsäch­li­ches Wahl­ver­halten, sondern vielmehr durch stereo­type Diskurse bestimmt.³

Ein kurzer Blick in die Geschichte

1941 begann mit dem Ostfeldzug von Wehrmacht und SS der Vernich­tungs­krieg des Deutschen Reichs gegen die Sowjet­union. Die dort ansässige deutsche Minder­heit erlitt unter dem Vorwurf der Kolla­bo­ra­tion Repres­sionen der stali­nis­ti­schen Behörden. Sie wurden als Volks­gruppe nach Sibirien und Kasach­stan depor­tiert, unter Sonder­auf­sicht gestellt und mussten bis 1955 Zwangs­ar­beit verrichten. Auch danach konnten deutsche Sprache und Kultur oft nur im Verbor­genen gelebt werden. Die Bundes­re­pu­blik sagte den Russ­land­deut­schen aufgrund des von Deutsch­land verant­wor­teten Kriegs­fol­gen­schick­sals Aufnahme und die deutsche Staats­bür­ger­schaft zu. Recht­liche Grund­lagen hierfür wurden mit dem Bundes­ver­trie­be­nen­ge­setz von 1953 und dem Kriegs­fol­gen­be­rei­ni­gungs­ge­setz von 1993 geschaffen.⁴ Auf dieser Grundlage kamen allein nach 1990 mehr als 2 Mio. russ­land­deut­sche (Spät-)Aussiedler/innen⁵ in die Bundesrepublik.

Rechts­extreme auch unter Russlanddeutschen

Die Mehrheit der Russ­land­deut­schen ist demo­kra­tisch einge­stellt. Damit soll jedoch nicht bestritten werden, dass – nicht anders als in der sonstigen Bevöl­ke­rung – auch unter Russ­land­deut­schen durchaus Personen mit ausge­prägt rechten Einstel­lungen und entspre­chendem Wahl­ver­halten sowie rechts­extreme Grup­pie­rungen exis­tieren. Diese Netzwerke pflegen Verbin­dungen nach Russland, zu rechts­extremen Parteien wie der NPD, dem Arminius-Bund und der Partei DIE EINHEIT (zwei von Russ­land­deut­schen gegrün­dete rechts­extreme Kleinst­par­teien) sowie zu russ­land­deut­schen Biker- und Kampf­sport­gruppen. Insgesamt treten die Akteure dieser Netzwerke zwar in den Sozialen Medien laut auf, waren jedoch bislang wenig einflussreich.
Verein­nah­mung durch rechts­extreme und rechts­po­pu­lis­ti­sche Parteien und Gruppen
Auf der anderen Seite versuchen Kräfte aus dem rechten Spektrum seit jeher, (Spät-)Aussiedler/innen für sich zu gewinnen. Vor allem über soziale Medien sprechen sie die russ­land­deut­sche Community gezielt an. Sie versuchen, ihre Inhalte und poli­ti­schen Ziele mit den Erfah­rungen und Lebens­welten der Russ­land­deut­schen zu verknüpfen. Mit wenigen Ausnahmen sind rechts­extreme und ‑popu­lis­ti­sche Kräfte derzeit die einzigen poli­ti­schen Akteure, welche die russ­land­deut­sche Community mit einer ziel­ge­rich­teten Ansprache zu erreichen versuchen. Die syste­ma­ti­sche Nutzung von Sozialen Medien und Messenger-Diensten verschärft dieses Problem. Weil demo­kra­ti­sche Akteure hier weniger präsent sind, gibt es in den geschlos­senen Diskurs­räumen der sozialen Medien kaum Wider­spruch. Die unter Russ­land­deut­schen durchaus vorhan­denen Gegen­mei­nungen werden nicht abge­bildet, popu­lis­ti­sche rechts­extreme Akteure erlangen deshalb oft die Diskurshoheit.

Reprä­sen­ta­tions- und Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bote von rechts

Wie gelingt es rechts­po­pu­lis­ti­schen bis ‑extremen Akteuren, ihre poli­ti­schen Ziele mit den Erfah­rungs­welten der Russ­land­deut­schen zu verknüpfen? Eine Unter­su­chung von Social-Media- und Messenger-Inhalten aus rechten Quellen zeigt: Die Akteure machen zahl­reiche Reprä­sen­ta­tions- und Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­ge­bote an die Gruppe der (Spät-)Aussiedler/innen. Sie können dabei mangels Gegen­stimmen in diesen Räumen unan­ge­fochten agieren und spielen gezielt mit Verun­si­che­rungen im Selbst­ver­ständnis von Russ­land­deut­schen, die mit den Brüchen in ihrer Migra­ti­ons­bio­gra­phie und erlebter Ausgren­zung zusammenhängen.
Zum einen wird die russische Sprache stra­te­gisch genutzt, etwa durch Präsenz in russi­schen Social-Media-Kanälen oder durch Über­set­zungen von Meldungen aus deutschen Medien ins Russische. Durch eine tenden­ziöse, nicht wort­ge­treue Über­set­zung trägt diese vermeint­liche Service­leis­tung zu einer verzerrten Wahr­neh­mung der tatsäch­li­chen Bericht­erstat­tung bei. Neben der russisch­spra­chigen Adres­sie­rung wird der Community auch das Angebot einer poli­ti­schen Inter­es­sens­ver­tre­tung, etwa hinsicht­lich einer Verbes­se­rung der Renten­si­tua­tion und der Vertre­tung von Russ­land­deut­schen in Parla­menten gemacht, sowie Angebote einer symbo­li­schen Reprä­sen­ta­tion wie z.B. durch Gedenk-Postings zum „Tag der Russlanddeutschen“.
Darüber hinaus wird versucht, an den Lebens­wirk­lich­keiten der Russ­land­deut­schen anzu­knüpfen, um popu­lis­ti­sche und z.T. menschen- und verfas­sungs­feind­liche Inhalte zu verbreiten. Konflikte und Bedürf­nisse von (Spät-)Aussiedler/innen werden nur scheinbar aufge­griffen und verein­fachte Antworten geliefert. Gleich­zeitig werden Ängste befeuert und so der Boden für Ressen­ti­ments bereitet. Es entsteht ein sich selbst verstär­kender Kreislauf. Die Anknüp­fungs­punkte sind viel­fältig und zum Teil auch wider­sprüch­lich, wie im Folgenden gezeigt wird.

Sechs rechts­po­pu­lis­ti­sche Verknüp­fungs­stra­te­gien und Argumentationsfiguren

Vermitt­lung eines völkisch-iden­ti­tären Verständ­nisses von Gesellschaft

 

Die rechts­extreme Partei NPD nimmt das Fest­halten der Russ­land­deut­schen an Sprache und Kultur für ihr völkisch-natio­na­lis­ti­sches Weltbild in Anspruch.

Rechts­po­pu­listen setzten beim trau­ma­ti­schen Verfol­gungs­schicksal der Russ­land­deut­schen in der Sowjet­union an. Die Bewahrung der eigenen Kultur in der Diaspora hatte für Russ­land­deut­schen viele nach­tei­lige Konse­quenzen. Dieses Fest­halten an deutscher Sprache und Kultur unter widrigen Umständen wird jedoch von Rechts­po­pu­listen für ihre rassis­ti­sche Politik nutzbar gemacht, die darauf abstellt, ein völkisch verstan­denes Deutschtum gegen Einwan­de­rung und Vielfalt abzu­schotten. Sie legen den (Spät-)Aussiedler/innen nahe, sich aufgrund ihrer Abstam­mung als „Volks­deut­sche“ zu verstehen. Die bluts­mä­ßige Abstam­mung wird so gegenüber dem Bekenntnis als Kriterium der natio­nalen Zuge­hö­rig­keit in den Vorder­grund gerückt. Damit wird ein proble­ma­ti­sches Verständnis der deutschen Nation als ethnisch und kulturell homogene „Volks­ge­mein­schaft“ vermit­telt, das mit der realen ethnisch-kultu­rellen Vielfalt nicht vereinbar ist. Die Relevanz eines völki­schen „Patrio­tismus“ wird betont und behauptet, der Stolz auf das eigene Deutsch­sein würde in Deutsch­land unter­bunden. Mit dieser Argu­men­ta­tion wird (Spät-)Aussiedler/innen ein Iden­ti­fi­ka­ti­ons­an­gebot gemacht, das auf die wider­sprüch­liche Erfahrung der Diskri­mi­nie­rung als Deutsche in der Sowjet­union und als „Russen“ in Deutsch­land reagiert.

Behaup­tung eines „Bevöl­ke­rungs­aus­tauschs“: Rassismus und Islamfeindlichkeit

Viele (Spät-)Aussiedler:innen haben aufgrund ihrer deutschen Abstam­mung, aber auch wegen ihres christ­li­chen Glaubens in der athe­is­ti­schen Sowjet­union Diskri­mi­nie­rungs­er­fah­rungen gemacht. Von rechten Kräften wird daran ange­knüpft mit dem Ziel, unter (Spät-)Aussiedler/innen Ängste vor einer Wieder­ho­lung dieser Diskri­mi­nie­rung in Deutsch­land zu entfachen. Unter­füt­tert wird diese Argu­men­ta­tion mit der angeb­li­chen Bedrohung durch einen insgeheim geplanten „Bevöl­ke­rungs­aus­tausch“ bzw. durch die vermeint­lich unge­steu­erte Zuwan­de­rung speziell von als musli­misch markierten Personen.
Mit der vermeint­li­chen „Bedrohung durch Muslime“ geht die Vorstel­lung einer „abend­län­di­schen“ kultu­rellen Homo­ge­nität einher.

In den unter­suchten Netz­werken werden auch verschwö­rungs­ideo­lo­gi­sche Inhalte wie der eines angeblich vorsätz­li­chen „Völker­mords“ an den Deutschen verbreitet.

In einer WhatsApp-Gruppe geteiltes SharePic der rechten Medi­en­platt­form clashdaily.com.

 

Wahlweise „echte Deutsche“ oder „bessere“ Migrant/​innen

(Spät-)Aussiedler/innen werden in Deutsch­land häufig wider­sprüch­lich wahr­ge­nommen bzw. erfahren wider­sprüch­liche Zuschrei­bungen. Zum einen erhalten sie direkt bei der Ankunft in Deutsch­land die deutsche Staats­bür­ger­schaft und sind damit rechtlich klar als Deutsche anerkannt. In der Sowjet­union war das „Deutsch­sein“ über „ein gemein­sames Schicksal als Opfer­kol­lektiv“ und „über die ‚insti­tu­tio­na­li­sierte Ethni­zität‘ im sowje­ti­schen System definiert.“⁶ In Deutsch­land erfahren sie wiederum häufig eine Stig­ma­ti­sie­rung als „Russen“ bzw. „Ausländer“. Tatsäch­lich war für viele der Umzug nach Deutsch­land nicht nur ein „Heim­kehren“, sondern auch ein Kultur­schock, verbunden mit Enttäu­schungen und einem Einleben in unbe­kannte Struk­turen und eine neue Sprache – kurz gesagt: eine typische Migrationserfahrung.

Diese ambi­va­lente Position zwischen „Deutsch­sein“ und „Migra­ti­ons­er­fah­rung“ wird von rechts­po­pu­lis­ti­schen und rechts­extremen Akteur/​innen genutzt, um ihre völki­schen und rassis­ti­schen Haltungen im Bereich Migra­ti­ons­po­litik zu verbreiten. Zum einen werden Russ­land­deut­sche hier als „die besseren Migranten“ und somit als Kontrast­folie für „schlechte Migranten“ benutzt, von denen stereo­type Bilder gezeichnet werden. Den Regie­renden wird vorge­worfen, andere Einwan­de­rer­gruppen gegenüber den Russ­land­deut­schen zu bevor­zugen und im Gegenzug von „den Anderen“ keine Inte­gra­ti­ons­be­mü­hungen zu fordern. Zugleich wird aber auch das Argument bedient, die (Spät-)Aussiedler/innen seien gar keine Migrant/​innen, da sie ja Deutsche sind. Bei (Spät-)Aussiedler/innen wird damit das Bedürfnis nach Selbst­ver­ge­wis­se­rung als Deutsche bedient. Gleich­zeitig kann das Befeuern rassis­ti­scher Motive im Zusam­men­hang mit der Debatte um das „Deutsch­sein“ und Zuge­hö­rig­keit zur deutschen Gesell­schaft dazu beitragen, dass in der Gruppe der (Spät-)Aussiedler/innen die Angst vor (erneuter) Ausgren­zung geschürt wird. Russ­land­deut­sche haben schließ­lich in Deutsch­land auch die Erfahrung der Diskri­mi­nie­rung als „Russen“ und der Stig­ma­ti­sie­rung als „kriminell“ machen müssen. So verstärken rechts­al­ter­na­tive Akteure den Bedarf an Selbst­ver­ge­wis­se­rung als Deutsche bei (Spät-)Aussiedler/innen, der mit der Bestä­ti­gung der Zuge­hö­rig­keit bedient werden kann. Auffällig ist dabei, dass Russ­land­deut­sche durch ihre Identität, die das Deutsch­sein, aber auch ihre Vergan­gen­heit in der Sowjet­union einschließt, entweder als „Vorzei­ge­mi­granten“ oder als „echte Deutsche“ darge­stellt werden können.

Das Video „9 Gründe für Russ­land­deut­sche die AfD zu wählen“ zeigt die Russ­land­deut­schen als „bessere Migrant:innen“ in Abgren­zung zu „Flücht­lingen“.

Anti­li­be­ra­lismus und Eliten-Bashing: „Merkel muss weg!“

Ausgehend von der histo­risch gewach­senen Bindung an die CDU/​CSU konstru­ieren Akteure im rechten Spektrum ein homogenes Bild der (Spät-)Aussiedler/innen als politisch besonders konser­vativ und unter­schlagen dabei, wie heterogen die Gruppe inzwi­schen in ihrer Partei­en­prä­fe­renz ist. Im gleichen Zug werden die Unions­par­teien zunehmend als „zu liberal“ und „zu wenig national“ darge­stellt, sodass sie nicht mehr als konser­va­tive Inter­es­sen­ver­tre­tung tauglich erscheinen. Zudem werden etablierte Parteien als „Altpar­teien“ bzw. „Parteien-Kartell“ verun­glimpft. Poli­ti­sche Eliten werden als schwach, unfähig oder korrupt diffa­miert und damit die Entfrem­dung von den demo­kra­ti­schen Insti­tu­tionen voran­ge­trieben. Das Gene­ral­miss­trauen gegen die Demo­kratie wird auch mit der Verschwö­rungs­ideo­logie gefüttert, die Regie­renden bzw. „der Staat“ arbei­teten gegen die eigene Bevöl­ke­rung. Rechts­extreme und rechts­po­pu­lis­ti­sche Parteien und Grup­pie­rungen bieten sich demge­gen­über als „wahre“ Vertreter konser­va­tiver und christ­li­cher Werte an, mischen diesem Programm jedoch gleich­zeitig ihre rechts­extremen und anti­li­be­ralen Posi­tionen unter.

Als „musli­misch“, „links­extrem“ und „queer“ stili­sierte Figuren werden hier als Bedrohung für das Chris­tentum aufge­zeigt, die unter den Augen des Staats agieren.

Damit wird versucht, (Spät-)Aussiedler/innen, die konser­va­tive Werte vertreten, in ihrer Partei­prä­fe­renz zu verun­si­chern und sie als Unter­stützer der eigenen Parteien und Gruppen zu gewinnen. Die gezielte Vermi­schung konser­va­tiver und christ­li­cher Botschaften mit rechts­extremen, anti­li­be­ralen und anti­se­mi­ti­schen Posi­tionen soll dazu führen, dass extre­mis­ti­sche Posi­tionen als vermeint­lich konser­va­tive über­nommen werden.

In einem SharePic aus einer rechts­ge­rich­teten WhatsApp-Gruppe mit vielen russ­land­deut­schen Mitglie­dern wird George Soros, der mit den Open Society Foun­da­tions Bürger­rechts­or­ga­ni­sa­tionen und Demo­kratie fördert, als Teufel darge­stellt. Viele rechte Akteure unter­stützen anti­se­mi­ti­sche Verschwö­rungs­ideo­lo­gien, die Soros für die Flucht­be­we­gungen 2015 verant­wort­lich machen und Stereo­type einer angeb­li­chen jüdischen Welt­ver­schwö­rung bedienen.„Lügenpresse“ – von der angeblich einge­schränkten Meinungsfreiheit

Für viele (Spät-)Aussiedler/innen bedeutete das Leben im poli­ti­schen System der Sowjet­union, dass sie Zensur und fehlende Meinungs- und Pres­se­frei­heit erleben mussten. Diese Erfahrung wird von rechts­extremen und ‑popu­lis­ti­schen Akteuren mit dem Slogan „Lügen­presse“ und einer angeblich einge­schränkten Meinungs­frei­heit aufge­griffen. Es wird versucht, bei (Spät-)Aussiedler/innen die Sorge vor einer erneuten Einschrän­kung ihrer Frei­heits­rechte zu schüren, damit sich anti­li­be­rale und rechts­extreme Kräfte als Vertei­diger der Freiheit anbieten können.

Ein SharePic der Iden­ti­tären Bewegung, das in russ­land­deut­schen WhatsApp-Gruppen geteilt wurde.

 

In der Facebook-Gruppe „Russ­land­deut­sche für Deutsch­land“ wird Putin als Vertei­diger von Angriffen aus „dem Westen“ stilisiert.“

 

Russland-Verbin­dungen: Anti­ame­ri­ka­nismus und auto­kra­ti­sche Systeme als Vorbild

Trotz viel­fa­cher negativer Erfah­rungen in der Sowjet­union, etwa der struk­tu­rellen Benach­tei­li­gung als Deutsche, verbinden ein Großteil der (Spät-)Aussiedler/innen ihre persön­li­chen Kontakte, Sprach­kennt­nisse oder kultu­relle Sozia­li­sa­tion mit Russland bzw. ihrem (post-)sowjetischen Herkunfts­land. Poli­ti­sche Konflikte zwischen Deutsch­land und Russland können daher zu Iden­ti­täts­kon­flikten führen. Sie werden von rechts­na­tio­nalen Akteuren genutzt, um Rückhalt für ihre Forderung nach einer kreml­freund­li­chen Außen­po­litik zu gewinnen. Die positive Bewertung von Putins auto­ri­tärer Regierung ist teilweise mit Anti­ame­ri­ka­nismus verquickt, in anderen Fällen werden illi­be­rale Politiker wie Trump, Putin und Xi Jinping als positive Vorbilder dargestellt.

In der Facebook-Gruppe „Russ­land­deut­sche für Deutsch­land“ wird Putin als Vertei­diger von Angriffen aus „dem Westen“ stilisiert.

In einem verschwö­rungs­ideo­lo­gi­schen Post aus einer Facebook-Gruppe mit vielen russ­land­deut­schen und russisch­spra­chigen Mitglie­dern werden die illi­be­ralen Führungs­per­sonen Trump, Putin und Xi als Wahrer des „Welt­frie­dens“ bezeichnet.

In derselben Face­book­gruppe wird Angela Merkel als ‚Krankheit‘ für Deutsch­land darge­stellt. Mit einem ‚Schluck Putin‘ erscheint Deutsch­land in den Farben der Reichs­kriegs­flagge, die eine hohe Symbol­kraft in rechts­extremen Kreisen hat.

Fazit

Auch wenn Social-Media- und Messenger-Inhalte in ihrer Masse und stetigem Wandel nie in Gänze erfasst werden können, zeigen die Beob­ach­tungen sehr eindeutig: Natio­na­lis­ti­sche, rassis­ti­sche und anti­li­be­rale Akteure nutzen diese Kanäle gezielt, um russ­land­deut­sche (Spät-)Aussiedler/innen als Unter­stützer zu gewinnen. Auch wenn die Follower- und Kommentar-Zahlen in den einschlä­gigen Kanälen relativ gering erscheinen, beein­flussen sie doch massiv die öffent­liche Wahr­neh­mung der Spätaussieder/​innen als vermeint­lich rechts­las­tiger Gruppe. Die Verknüp­fung russ­land­deut­scher Erfah­rungen und Lebens­welten mit rechts­extremen und ‑popu­lis­ti­schen, anti­de­mo­kra­ti­schen Posi­tionen ist keines­wegs zwangs­läufig. Jedoch sind vor allem in den Messenger-Diensten kaum Akteure mit pro-demo­kra­ti­schen, plura­lis­ti­schen Posi­tionen aktiv, die andere Sicht­weisen öffent­lich wirksam arti­ku­lieren. Hier bedarf es eines größeren Gegen­an­ge­bots, das in ziel­grup­pen­ge­rechter Ansprache in den entspre­chenden Kanälen für eine demo­kra­ti­sche Haltung wirbt und die plura­lis­ti­sche Gesell­schaft stärkt. Dafür ist es hilfreich, Probleme und Wider­sprüch­lich­keiten nicht auszu­klam­mern, sondern öffent­lich wie innerhalb der Community fort­lau­fend zu disku­tieren. Russ­land­deut­sche, die sich gegen popu­lis­ti­sche Posi­tionen enga­gieren und eine kritische Haltung gegenüber Hass, Ressen­ti­ments und Verein­fa­chungen einnehmen, brauchen aktivere Unter­stüt­zung und mehr poli­ti­sche Reprä­sen­ta­tion. So kann eine kontro­verse und plura­lis­ti­sche Debatte im Rahmen der frei­heit­lich-demo­kra­ti­schen Grund­ord­nung gesichert und gleich­zeitig extre­mis­ti­schen Inhalten mit Kritik begegnet werden.

Fußnoten:
¹ Der „Fall Lisa“ beschreibt die Ereig­nisse rund um eine angeb­liche Verge­wal­ti­gung des minder­jäh­rigen russ­land­deut­schen Mädchens Lisa aus Marzahn-Hellers­dorf durch Geflüch­tete, die im Januar 2016 statt­ge­funden haben sollte. Die von dem Mädchen erfundene Geschichte wurde in russi­schen Medien verbreitet und mündete in Demons­tra­tionen von Russ­land­deut­schen. Medina Schaubert: „Der Fall Lisa“ – Entwick­lungen in Berlin Hellers­dorf-Marzahn. In: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/russlanddeutsche/271945/der-fall-lisa-entwicklungen-in-berlin-hellersdorf-marzahn [Zugriff: 06.08.2020]

² https://www.spiegel.de/politik/deutschland/afd-warum-die-partei-bei-russlanddeutschen-so-beliebt-ist-a-1166915.html [Zugriff: 06.08.2020]

³ Proble­ma­tisch ist vielmehr die vergleichs­weise geringe Wahl­be­tei­li­gung der (Spät-)Aussiedler:innen. Vgl. Erste deutsche Migran­ten­wahl­studie: Wie Einwan­derer und ihre Kinder wählen. In: https://www.uni-due.de/2018–03-05-migrantenwahlstudie [Zugriff: 06.08.2020]. Der kürzlich erschie­nene Sammel­band ‚Post­so­wje­ti­sche Migration in Deutsch­land‘ von Jannis Panagio­tidis (Weinheim/​Basel 2021) gibt einen diffe­ren­zierten Einblick in das Wahl­ver­halten russ­land­deut­scher (Spät-)Aussiedler:innen.

⁴ https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/russlanddeutsche/274597/spaetaussiedler-heimkehrer-vertriebene-russlanddeutsche-im-spiegel-bundesdeutscher-gesetze

⁵ Als (Spät-)Aussiedler/innen werden Personen bezeichnet, die auf Grundlage des Bundes­ver­trie­be­nen­ge­setzes als „deutsche Volks­zu­ge­hö­rige“, d.h. Nach­fahren deutscher Auswan­derer, aus den Gebieten der Sowjet­union bzw. ihren Nach­fol­ge­staaten nach Deutsch­land immi­griert sind.

⁶ Jannis Panagio­tidis: Identität und Ethni­zität bei Bundes­bür­gern mit russ­land­deut­schem Migra­ti­ons­hin­ter­grund. In: https://www.bpb.de/gesellschaft/migration/russlanddeutsche/283533/identitaet-und-ethnizitaet-bei-bundesbuergern-mit-russlanddeutschem-migrationshintergrund [Zugriff: 31.7.2020]

 

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