Wen soll der Westen in Belarus unterstützen?

„Verschwinde!, Psychose 3%, Freiheit für Babariko, Ich/​Wir 97%“ Anonyme Foto­ak­tion in Belarus: Nur 3% sollen noch Lukaschenka unter­stützen. Foto: t.me/belamova

Die herkömm­li­chen Oppo­si­ti­ons­par­teien in Belarus sind schon lange keine bedeut­same poli­ti­sche Kraft mehr. Es ist an der Zeit, dass sich Entschei­dungs­träger im Westen dieser unan­ge­nehmen Realität stellen und ihre recht spärliche Aufmerk­sam­keit und Ressourcen auf jene Teile der Zivil­ge­sell­schaft richten, die bessere Aussichten bieten.

Seit Aljaksandr Lukaschenka die Macht ergriffen und schritt­weise auto­kra­tisch konso­li­diert hat, sind die Möglich­keiten für oppo­si­tio­nelle Tätigkeit geschwunden: Die Oppo­si­tion wurde aus dem Parlament, der kommu­nalen Selbst­ver­wal­tung, den Wahl­kom­mis­sionen und den landes­weiten Medien gedrängt. Nicht geneh­migte Protest­ak­ti­vi­täten wurden für illegal erklärt und bedeuten persön­liche Gefahren für Gruppen und Anführer, die auf die Straße zu gehen wagen.

Unter­nehmer wurden ausdrück­lich davor gewarnt, die Oppo­si­tion zu unter­stützen. Oppo­si­tio­nelle mussten sich deshalb um auslän­di­sche, meist westliche Unter­stüt­zung bemühen. In einigen Fällen hat dies ihren Motiven einige andere Aspekte hinzu­ge­fügt. Fund­rai­sing im Ausland ist für die Oppo­si­tion über­le­bens­wichtig geworden, während gleich­zeitig die Bindung an die Wähler­schaft nachließ.

Da die Möglich­keiten der Oppo­si­tion schwanden, innerhalb des Lands zu agieren, begann sie – bildhaft gespro­chen – von innen heraus zu faulen. Neben den regel­mä­ßigen Repres­sionen hat auch das Ausbleiben von Erfolgs­ge­schichten dazu geführt, dass in Belarus selbst prode­mo­kra­tisch einge­stellte Menschen zu der einfachen Erkenntnis gelangten: Eine lose Verbin­dung mit der Oppo­si­tion wird – besten­falls – für die Zukunft des Landes nichts bringen oder – schlimms­ten­falls – Schwie­rig­keiten für das eigene Leben bedeuten.

Die Präsi­dent­schafts­wahlen 2010 fanden mit einem Dutzend Oppo­si­ti­ons­kan­di­daten in vergleichs­weise offener Atmo­sphäre statt. Jedoch führte die Nieder­schla­gung der Proteste gegen Fälschungen am Wahlabend zu Verhaf­tungen und Gefäng­nis­strafen für nahezu alle Oppo­si­ti­ons­kan­di­daten. Dies kam einer Enthaup­tung der Oppo­si­tion gleich. Jene Oppo­si­ti­ons­führer, die nicht im Gefängnis landeten, flohen ins Ausland oder zogen sich aus der Politik zurück. Das poli­ti­sche Erbe von 2010 ist die syste­ma­ti­sche Zerschla­gung der tradi­tio­nellen Oppo­si­tion, die sich hiervon nie wieder erholt hat.

Die fehlenden Erfolge der Oppo­si­tion führten zu einem Phänomen, das häufig als negative Selektion beschrieben wird. Ein Großteil der jungen, ehrgei­zigen Fach­kräfte, die in anderen Ländern zu poli­ti­schen Akti­visten geworden wären, bevor­zugen in Belarus andere Wege der Selbst­ver­wirk­li­chung. Seien es Wirt­schaft, Kunst, Zivil­ge­sell­schaft, Wissen­schaft oder Bildungs­auf­ent­halte im Ausland, aber keines­falls Politik. Dies bedeutet auch, dass Kompe­tenzen und erfolg­ver­spre­chendes Personal die Oppo­si­tion verloren gehen. Die Parteien mussten sich haupt­säch­lich auf Akti­visten und Führungs­per­sön­lich­keiten stützen, die zumeist bereits in den 1990er Jahren in die Politik gegangen sind.

Schließ­lich nahmen selbst die Oppo­si­ti­ons­führer die bittere Realität an, dass sie auf absehbare Zeit so gut wie keine Chance auf einen Sieg haben. Das hat alle Anreize beseitigt, mit anderen Oppo­si­tio­nellen die Kräfte zu bündeln. Streit und Zersplit­te­rung sind für viele Oppo­si­ti­ons­gruppen zu einem Daseins­modus geworden.

Seit 1996, als Lukaschenka die Beschrän­kungen seiner Macht besei­tigte, hat die Oppo­si­tion fast 20 Versuche unter­nommen, Koali­tionen oder poli­ti­sche Blöcke unter­schied­li­cher Art zu bilden. Selbst die viel­ver­spre­chendsten davon, etwa der Koor­di­na­ti­onsrat der demo­kra­ti­schen Kräfte (1999 gegründet), die Verei­nigten demo­kra­ti­schen Kräfte (ODS; 2004), der Bela­rus­si­sche unab­hän­gige Block (2009) und das Volks­re­fe­rendum (2013) endeten sämtlich mit einem emotio­nalen Zerwürfnis.

Um dies klar­zu­stellen: Die Schuld ist hier nicht allein bei der Oppo­si­tion zu suchen. Objektiv gesehen ist es schwer, lebhafte Oppo­si­ti­ons­ar­beit zu betreiben, wenn man einem konso­li­dierten und häufig brutalen, auto­ri­tären Regime gegen­über­steht. Diese Unge­rech­tig­keit ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass die herkömm­liche Oppo­si­tion kaum mehr im Stande ist, zum Anstoß eines Wandels in Belarus zu werden.

Die Präsi­dent­schafts­wahlen 2020 sind der beste Beleg hierfür. Der Cocktail aus Wirt­schafts­krise und Lukaschenkas herab­las­sender Haltung gegenüber der Covid-19-Pandemie hat zu einer beispiel­losen Zunahme der poli­ti­schen Aktivität im Land geführt. Die Führungs­fi­guren, die diese Unzu­frie­den­heit der Bevöl­ke­rung kana­li­siert haben, sind alles poli­ti­sche Novizen: der ehemalige Bankier Viktar Babaryka, der ehemalige, hoch­ran­gige Beamte Waleryj Zepkala und der YouTube-Blogger Sjarhej Zichanouski.

Und wo war die Oppo­si­tion? Ein Teil von ihr beschloss, die Wahlen zu boykot­tieren. Einige Gruppen innerhalb der Mitte-Rechts-Koalition disku­tieren über das Verfahren zur Nomi­nie­rung eines gemein­samen Kandi­daten und schei­terten schließ­lich damit, dies recht­zeitig zu tun. Einige Gruppen und Führungs­fi­guren schlossen sich der Bewegung von Zich­anouski an und erfuhren gemeinsam mit diesem die gegen ihn gerich­teten Repres­sionen. Nur zwei promi­nente Oppo­si­ti­ons­führer, die frühere Parla­ments­ab­ge­ord­nete Anna Kana­paz­kaja und der Leiter der gemä­ßigten Kampagne „Sag die Wahrheit!“, Andrej Dsmit­ryjeu, bean­tragten eine Regis­trie­rung als Kandidat bei den Präsi­dent­schafts­wahlen. Sie wurden aber von den neuen alter­na­tiven Führungs­per­sön­lich­keiten in den Schatten gestellt.

Die westliche Politik, einschließ­lich der poli­ti­schen Stif­tungen und natio­nalen Regie­rungen, hatte selten allzu viel Mittel oder poli­ti­sche Aufmerk­sam­keit für Belarus übrig. Gerade deshalb ist es so wichtig, die verfüg­baren Ressourcen und Energien auf jene Teile der Zivil­ge­sell­schaft zu konzen­trieren, die lang­fristig das Potenzial haben, eine positive Verän­de­rung und Demo­kra­ti­sie­rung des Landes zu bewirken.

Der Anstoß zu einem Wandel kann nur organisch aus dem Land selbst kommen. Es gibt nahezu keinen gangbaren Weg, den gesell­schaft­li­chen Reife­pro­zess zu beschleu­nigen oder die Gesell­schaft dazu zu bringen, Plura­lismus und Eigen­ver­ant­wort­lich­keit zu fordern. Solche Verän­de­rungen werden gewöhn­lich von tekto­ni­schen internen Entwick­lungen wie Urba­ni­sie­rung, Entwick­lung des privaten Sektors, Gene­ra­tio­nen­wandel, wach­sendem Bildungs­ni­veau oder einer Erosion des herr­schenden Regimes vorangetrieben.

Ande­rer­seits sind einige Zivil­ge­sell­schafts­or­ga­ni­sa­tionen in Belarus unge­achtet der regel­mä­ßigen Repres­sionen sehr lebendig und nehmen noch Fahrt auf. Hierzu gehören Netzwerke von Gras­wur­ze­l­in­itia­tiven für Frei­wil­lige, Crowd­sour­cing- und Crowd­fun­ding-Platt­formen, Menschen­rechts­gruppen usw.

Eines der heraus­ste­chenden Beispiele ist die Initia­tive #ByCovid19 („BY“ ist inter­na­tio­nale das Länder­kürzel für Belarus – Anm. d. R.). Sie entstand als ein Zusam­men­schluss von Initia­tiven aus unter­schied­li­chen Bereichen der Zivil­ge­sell­schaft. Die Initia­tive schaffte es, eine ungeahnte Summe an Geldern (hundert­tau­sende Euro) zu sammeln und hunderte Frei­wil­lige zu orga­ni­sieren, um die in vorderster Front tätigen Mitar­beiter des Gesund­heits­we­sens mit dem Nötigsten zu unter­stützen. Während die Regierung wenig unternahm und bisweilen die Bedrohung durch die Pandemie abtat, stellten die Frei­wil­ligen Masken, Plas­tik­schirme zum Gesichts­schutz und andere Schutz­klei­dung her. Sie orga­ni­sierten im ganzen Land die Lieferung von Lebens­mit­teln und Desin­fek­ti­ons­mit­teln an Ärzte.

Der Schlüssel zu ihrem Erfolg war das tief­grei­fende Vertrauen in der Bevöl­ke­rung, das sie durch ihre Aktionen gewannen. Der Aufbau eines solchen Vertrauens ist entschei­dend für die lang­fris­tige Nach­hal­tig­keit von zivil­ge­sell­schaft­li­chen Gruppen, aber auch für landes­weite und lokale unab­hän­gige Medien, Menschen­rechts­ver­tei­diger und Blogger.

Diese Mani­fes­ta­tionen des bürger­schaft­li­chen Akti­vismus mögen auf den ersten Blick ein wenig apoli­tisch oder zahnlos erscheinen. Diese Wahr­neh­mung irrt. Die erwähnte Initia­tive #ByCovid19 ist aus einem anderen Projekt Namens #ByHelp heraus entstanden, das unter anderem Crowd­fun­ding-Aktionen zur Unter­stüt­zung von Akti­visten und Poli­ti­kern unternahm, die wegen Stra­ßen­pro­testen zu Geld­strafen verur­teilt worden waren. Zwei­fellos werden die tech­ni­sche Expertise, die Fähig­keiten zur Netz­werk­bil­dung und Mobi­li­sie­rung, die während des Ausbruchs von Covid-19 gewonnen wurden, auch in Zukunft einge­setzt, womöglich unter Umständen, die poli­ti­scher sind.

Diese neue Bewegung markiert einen Bewusst­seins­wandel in der bela­rus­si­schen Gesell­schaft. Vor 15 Jahren gab es neben der tradi­tio­nellen Oppo­si­tion und einigen tapferen Menschen­rechts­gruppen kaum unab­hän­gige poli­ti­sche oder gesell­schaft­liche Akti­vi­täten. Heute über­nehmen breitere Teile einer selbst­be­wusster gewor­denen Gesell­schaft Verant­wor­tung für ihre Ange­le­gen­heiten und warten nicht länger auf den auto­ri­tären Staat, das öffent­liche Leben zu organisieren.

Auto­kra­ti­sche Systeme, die um eine Führungs­person herum aufgebaut sind, können wie ein Karten­haus in sich zusam­men­fallen, ohne dass dies jemand erwartet hätte. Wenn dann ein Vakuum folgt, könnte sich das nach­fol­gende Regime als noch härter erweisen, als das vorherige war. Um sich auf die unaus­weich­liche Zeit des Wandels in Belarus vorzu­be­reiten, sollten Struk­turen in der Zivil­ge­sell­schaft bereit­stehen und in der Lage sein, Bürger zu koor­di­nieren und Verant­wor­tung für die Zukunft des Landes zu über­nehmen. Leider hat die tradi­tio­nelle bela­rus­si­sche Oppo­si­tion derzeit kaum das Zeug dazu, eine solche Kraft darzustellen.

Es wäre eine lohnende Inves­ti­tion in die lang­fris­tige Wider­stands­fä­hig­keit der bela­rus­si­schen Bürger­ge­sell­schaft, die hori­zon­talen Infra­struk­turen des Akti­vismus gemeinsam mit unab­hän­gigen Medien, Bloggern und Menschen­rechts­ver­tei­di­gern zu unter­stützen. Diese Akteure eines Wandels werden – anders als die herkömm­liche Oppo­si­tion – vermut­lich den Unter­schied ausmachen, wenn es um eine demo­kra­ti­sche Öffnung der Gesell­schaft geht.

Für euro­päi­sche Partner sollte die Lehre sein, dass die bisherige Fokus­sie­rung auf Wahlen und Wahl­kämpfe als Hebel und Indi­ka­toren für demo­kra­ti­schen Wandel keine geeignete poli­ti­sche Strategie für Belarus mehr darstellt. Wahlen können zwar zu einem Kata­ly­sator für eine Poli­ti­sie­rung werden. Aber Demo­kratie ist mehr als halbwegs freie Wahlen. Demo­kratie muss von unten wachsen. Sich für die Öffnung von Räumen für bürger­schaft­li­ches Enga­ge­ment einzu­setzen, könnte auf lange Sicht viel­ver­spre­chender sein.

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