Dominic Cummings: ein Revolutionär in Westminister?
Dominic Cummings – der Chefberater von Premierminister Boris Johnson – sehnt Krise und Zerüttung herbei. Darin sieht er die Gelegenheit zur Gründung einer neuen politische Organisation. Was der Aufstieg dieses Anti-Parteien-Politikers über Großbritannien und die Tories aussagt.
Chaos, Krise und Zerrüttung – für Dominic Cummings, den Berater des britischen Premierministers Boris Johnson, ist das der Zustand, in dem er sich wohl fühlt. Die unerwarteten Wendungen der britischen Politik sind nach seiner Ankunft in der Downing-Street noch dramatischer geworden. Cummings’ Einfluss wird etwa hinter den Entscheidungen von Johnson vermutet, das Parlament in den Zwangsurlaub zu schicken oder im September 21 Abgeordnete der Konservativen Partei aus der Fraktion auszuschließen. Für seine Anhänger ist er ein genialer Stratege, der alles dafür tut, um sich in einem Machtkampf durchzusetzten. Für seine Gegner ist er ein impulsiver und gefährlicher Chaot, der alles aufs Spiel setzt.
Wenn er seine technokratische Utopie beschreibt, spricht er immer wieder von Effizienz und Hochleistung. Um Demokratie geht es ihm dabei weniger.
Sein Aufstieg ist für die Konservative Partei ein Risiko. Der Ausschluss von 21 Abgeordneten, von denen allerdings zehn später wieder in die Partei aufgenommen wurden, war eine Kampfansage an die moderaten Mitglieder. Der ehemalige konservative Premierminister John Major nannte Cummings daraufhin einen „politischen Anarchisten“ und rief Johnson dazu auf, solche Berater loszuwerden, „bevor sie die politische Atmosphäre irreparabel vergiftet haben“. Bei den Tories wird Cummings mit seiner kriegerischen Bereitschaft, die Regeln zu brechen, von vielen mit Misstrauen betrachtet. Er ist nie Parteimitglied gewesen und stellte sich als Politiker nie zur Wahl. Er hat aber immer wieder die Regierungseliten kritisiert, die aus seiner Sicht ineffizient und inkompetent sind. Und er sieht Krisen grundsätzlich als Chancen, etwas Neues aufzubauen, auch wenn dafür das alte System zerstört werden muss. Sollten die Tories an der jetzigen Krise zerbrechen, würde Cummings das in Kauf nehmen und müsste dafür keine politische Verantwortung tragen.
Will Cummings das politische System sprengen?
In seinem letzten Blogeintrag vom Juni, der vor seinem Wechsel in das Team von Johnson veröffentlicht worden ist, beschrieb er etwa die jetzige Situation in Großbritannien, als eine Krise, die einmal in 50 oder 100 Jahren vorkomme. Solche Krisen seien „die Wellen, die einer reiten kann, um die Dinge zu verändern, die normalerweise unveränderbar sind“. Weiter schrieb er, ein zweites Referendum – oder sogar zwei Referenden (über den Brexit und die schottische Unabhängigkeit) seien 2020 unter dem Labour-Chef Jeremy Corbyn als Premierminister möglich – und das wäre eine ideale Startrampe für eine komplett neue politische Organisation, nicht zuletzt weil die Konservative Partei in so einem Fall praktisch nicht mehr existieren werde.
Cummings pflegt das Image eines Rebellen. Ob am Regierungssitz an der Downing-Street oder bei der jüngste Parteikonferenz der Tories erscheint er demonstrativ lässig gekleidet – in einer Sportjacke, einem T‑Shirt und Jeans oder einem Hemd über der Hose und ohne Krawatte. Regeln im politischen Betrieb sind für Cummings nicht in Stein gemeißelt, sondern lediglich Konventionen, die man brechen kann, wie es einem passt. Und außerdem bringt er mit diesem Kleidungsstil seine Missachtung gegenüber der politischen Elite zum Ausdruck.
Begeisterung für Mathematiker
Immer wieder kritisierte er die mangelnde Effizienz der Politiker. Ihnen fehle Erfahrung in der Verwaltung von großen und komplexen Projekten, schrieb er 2014 in einer Kolumne in der Zeitung The Times. Und überhaupt müsse man aufhören, Politiker aus einer Gruppe von Egomanen mit Oxford- und Cambridge-Abschlüssen in geisteswissenschaftlichen Fächern auszuwählen. Dass Cummings selbst eigentlich in diese Gruppe passt – er studierte Geschichte an der Oxford-Universität – scheint ihn nicht zu stören. Dafür unterstreicht er gerne seine Begeisterung für Mathematiker, Physiker, Informatiker und Ingenieure.
Die technologischen Ideen müsse man in der Regierung zum Einsatz bringen, um die effizientesten Entscheidungen zu treffen, schrieb Cummings in seinem Blog. Am liebsten hätte er die gewählten Politiker in der Regierung durch Fachleute ersetzt. Wenn er seine technokratische Utopie beschreibt, spricht er immer wieder von Effizienz und Hochleistung. Um Demokratie geht es ihm dabei weniger. So zählt er China zu den „wenigen Hochleistungsregierungen“, die das Potenzial von neuen Kommunikationstechnologien nutzen – er meint damit die Kombination von Überwachungstechnologien, künstlicher Intelligenz und Sammlung von genetischen Daten. Er klingt beinahe fasziniert von der chinesischen Fähigkeit, die großen technischen Projekte des 20. Jahrhunderts wie der Entwicklung der ersten Atombombe, die Mondlandung oder die Erfindung des Internets zu analysieren und Lehren daraus ziehen – etwas, was moderne westlichen Demokratien angeblich verlernt hätten.
Anarchistische Jahre in Russland
Cummings hat ein zwiespältiges Verhältnis zum Establishment. Er ist in Durham aufgewachsen, einer Stadt im Nordosten Englands und weiß seinen nördlichen Akzent bewusst zu nutzen – um sich der Elite entgegenzusetzen. Er kommt nicht aus der Oberschicht, aber auch nicht aus armen Verhältnissen. Sein Vater arbeitete als Projektmanager auf einer Ölplattform, seine Mutter als Lehrerin, später betrieben beide einen Bauernhof. Cummings ging auf die beste Privatschule in Durham, auch wenn sie nicht zu den britischen Eliteschulen wie Eton oder Westminster gehört. An der Oxford-Universität wirkte er als Eigenbrötler, der zunächst nichts mit den anderen Erstsemestern zu tun haben wollte, wie ihn seine Kommilitonin, die Journalistin Lebby Eyres, in einer Kolumne für den Telegraph beschrieb. In Oxford kam er unter dem Einfluss von Norman Stone, einem schottischen Geschichtsprofessor, der für seine rechten politischen Ansichten, Euroskeptizismus und unkonventionelles Verhalten bekannt war.
Nach dem Ende des Studiums ging Cummings 1994 nach Russland, das ihm gleich nach dem Zerfall der Sowjetunion wie ein perfektes anarchistisches Umfeld für Experimente vorgekommen sein dürfte. Der junge Brite arbeitete dort unter anderen für eine österreichische Firma, die eine regionale russische Fluggesellschaft ausbauen wollte. Sein Ex-Chef beschrieb ihn später in der Zeitung Mirror als amüsant, gebildet, aber unnötig kriegslustig und nicht zuverlässig. Inzwischen ruft die britische Opposition dazu auf, zu überprüfen, was genau Cummings in Russland gemacht hat und welche Kontakte daraus entstanden sind.
Zurück in Großbritannien, arbeitete er für „Business for Sterling“, eine politische Kampagne gegen die Einführung des Euro. Beeindruckt vom Erfolg der Kampagne, heuerte Iain Duncan Smith, der damalige Parteiführer der Tories, Cummings 2002 als seinen Direktor für Strategie an. Schon damals fiel der junge Berater mit seiner bewusst nachlässigen Kleidung und machiavellistischen Zügen auf – er bestand etwa darauf, dem Parteivorsitzenden David Davis unerwartet sein Amt zu entziehen, während dieser im Urlaub war. Britische Zeitungen sahen darin damals einen Machtkampf zwischen dem Traditionalisten Davis und dem Störer Cummings. Doch nach acht Monaten musste Cummings seinen Job auch räumen – weil er sich zu viele Feinde in der Partei gemacht hat.
Spindoctor der Brexit-Kampagne
Doch bei aller Verachtung dem Establishment gegenüber hätte Cummings nie Karriere gemacht ohne die Fähigkeit, doch mit den Vertretern der politischen Elite zusammen zu arbeiten. Etwa aus der gleichen Zeit stammt Cummings’ Freundschaft mit Michael Gove, einem Times-Journalisten und konservativen Politiker. Als Gove 2007 zum Bildungsminister wurde, holte er Cummings als Berater ins Ministerium. Die Bewertungen seiner Arbeit im Bildungsministerium gehen auseinander. Für einige Kollegen war er leidenschaftlicher Reformer, für andere ein unorganisierter Kämpfer gegen das bestehende bürokratische System. Immerhin soll laut der Zeitschrift „New Statesman“ die Strategie, die Cummings ihm vorschlug, Gove vor einem Rücktritt gerettet haben. Das habe die Verbindung zwischen den beiden Männern gestärkt.
Weithin bekannt wurde er durch seine Rolle im Brexit-Referendum. Er leitet die Kampagne für den Austritt aus der EU, verhalf den Brexit-Anhängern zum Sieg und trug so dazu bei, dass in Großbritannien das politische Chaos der letzten Jahre ausbrach. Er setzte dabei auf einfache Botschaften sowie auf Werbung im Internet. Es war eine Kampagne, die Großbritannien stark polarisierte – und im Sinne von Cummings sehr effizient war. Ein Video, das später auf Twitter verbreitet wurde, zeigt wie Cummings euphorisch auf den Tisch springt und mit der Faust ein Stück aus der Decke schlägt, als die Ergebnisse des Referendums verkündet werden.
Zum Start der jetzigen Kampagne vor den Parlamentswahlen, die im Dezember stattfinden, machte Cummings publik, dass er für den Wahlkampf der Konservativen Partei nicht zuständig sein wird. Ihm stehe ein medizinischer Eingriff bevor. Und ob er nach der Wahl weiter Johnson beraten wird, sollte er gewinnen, steht noch nicht fest. Schließlich wollte Cummings keine Karriere in der öffentlichen Politik machen, sondern sah die Politik eher als Instrument, um seine Ziele zu erreichen. Doch egal, wie sein Weg weiter geht – er hat schon heute einiges an Unruhe in der britischen Politik angerichtet.
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