„Scheiß auf den Brexit“

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Boris Johnson hat die Kontrolle über die Brexit-Agenda im Parlament verloren. Jetzt will er noch im Oktober vorge­zogene Parla­ments­wahlen abhalten. Davon profi­tieren aktuell die Liberal­de­mo­kraten mit ihrem proeu­ro­päi­schen Kurs.

Am Ende waren es die Rebellen aus der Konser­va­tiven Partei, die Boris Johnson eine Niederlage zufügten. Die 21 abtrün­nigen Tories stimmten zusammen mit der Opposition dafür, die Kontrolle über die Parla­mentsagenda zu übernehmen. Am heutigen Mittwoch wollen die Abgeord­neten über ein Gesetz abstimmen, das einen harten Brexit verhindern und eine neue Verlän­gerung der Verhand­lungs­frist mit der EU garan­tieren soll. 

Portrait von Julia Smirnova

Julia Smirnova ist freie Journa­listin und Studentin am King’s College London. 

Zuvor, am Diens­tag­abend, hatte Johnson endgültig die Mehrheit im Unterhaus verloren. Während der Premier­mi­nister seine Rede hielt, lief der Abgeordnete Philip Lee demons­trativ in die Fraktion der Liberal­de­mo­kraten über. Die Tories seien mit der „Krankheit des Populismus und des Engli­schen Natio­na­lismus“ infiziert, schrieb er, um zu erklären, warum er die Partei nach 27 Jahren Mitglied­schaft verlasse. Die Liberal­de­mo­kraten dagegen seien „am besten dafür geeignet, eine einigende und inspi­rie­rende politische Kraft zu bilden, die unsere Spaltungen heilen kann.“

Die kleine Fraktion der Liberal­de­mo­kraten ist damit auf 15 Abgeordnete angewachsen. Nicht nur für Lee scheinen sie die letzte Hoffnung zu sein. Politisch haben die Liberal­de­mo­kraten vom Brexit profi­tiert und gerade in den letzten Monaten stark an Popula­rität gewonnen. Bei der Europawahl waren sie mit 20 Prozent der Stimmen die zweit­stärkste Kraft nach der Brexit-Partei. Auch bei den Lokal­wahlen im Mai haben sie hunderte neue Sitze hinzu­ge­wonnen. Im August nahmen sie bei einer Nachwahl in Wales den Konser­va­tiven einen Parla­mentssitz weg. Die Zahl der Mitglieder kletterte anschließend auf ein Rekordhoch von 115.000.

Die Liberal­de­mo­kraten erleben ein Comeback – dank ihrer klar proeu­ro­päi­schen Linie

Die jüngsten Erfolge kommen zu einem Zeitpunkt, an dem viele die Partei für so gut wie tot hielten. 2015 war die Zahl der Abgeord­neten der Parla­ments­fraktion auf nur noch acht gesunken. Die Liberal­de­mo­kraten wurden von den Wählern dafür abgestraft, dass sie zwischen 2010 und 2015 Junior­partner in der Regierung von David Cameron gewesen waren und seine Austeri­täts­po­litik unter­stützt hatten. Gerade die jungen und sozial­ori­en­tierten Wähler wandten sich ab. Doch jetzt erlebt die Partei ein Comeback – vor allem dank der klaren proeu­ro­päi­schen Linie in der Brexit-Frage.

Während die beiden großen Parteien in Großbri­tannien beim Thema Brexit gespalten sind, machen die Liberal­de­mo­kraten Wahlkampf mit dem Slogan „Bollocks to Brexit“, „Scheiß auf den Brexit“. Klarer geht es nicht. Damit hatten sie mehr Erfolg als etwa Change UK, eine proeu­ro­päische Gruppe von Ex-Abgeord­neten der Tories und Labour, die ihren Parteien den Rücken gekehrt hatten. Der Sprecher von Change UK, der ehemalige Labour-Abgeord­neter Chuka Umunna, wechselte später in die Fraktion der Liberaldemokraten.

Die Lib Dems kämpfen für ein zweites Referendum. Doch zunächst gilt es, zusammen mit anderen Parteien einen harten Brexit zu verhindern. Bis zum Ende der Woche will die Opposition ein Gesetz verab­schieden, das die Regierung dazu verpflichtet, eine weitere Verlän­gerung der Verhand­lungen mit der EU zu beantragen. Die Zeit dafür ist knapp, doch der Brexit-Sprecher der Liberal­de­mo­kraten, Tom Brake, glaubt, dass es machbar ist. „Wir sind uns sicher, dass wir das Gesetz in der Zeit, die uns dafür bleibt, durch die Commons bringen können“, sagt er. Auch aus dem Oberhaus höre man positive Signale.

Johnson will die Tories zu einer Brexit-Partei machen

Johnson insis­tiert, dass dies seine Verhand­lungs­po­sition unter­grabe. Die abtrün­nigen Tories – darunter Schwer­ge­wichte wie der frühere Verteidigungs‑, Außen- und Finanz­mi­nister Philip Hammond und altge­diente Parla­men­tarier wie Nicholas Soames, der Enkel von Winston Churchill – wurden aus der Fraktion ausge­schlossen. Mit dieser beispiel­losen Aktion will Johnson die Tories zu einer klaren Brexit-Partei machen.

Davon hofft Johnson bei den vorge­zo­genen Parla­ments­wahlen zu profi­tieren, die er jetzt anstrebt. Für vorge­zogene Parla­ments­wahlen braucht er eine Zweidrit­tel­mehrheit – und die Opposition ist nur bereit zuzustimmen, wenn ein harter Brexit per Gesetz ausge­schlossen wird. Der Ausgang der Wahl wäre äußerst ungewiss. Johnson speku­liert darauf, eine Mehrheit zu bekommen, was seine Verhand­lungs­po­sition stärken würde. Falls die republi­ka­nisch-unionis­tische Partei DUP nicht mit in die Regierung käme, könnte er beispiels­weise eine Backstop-Option in Kauf nehmen, die nicht für das ganze Land, sondern nur für Nordirland Geltung hätte.

Es könnte aber passieren, dass er schlecht abschneidet und nicht alleine die Regierung bilden kann. Die moderaten Wähler unter den Konser­va­tiven dürfte er eher abschrecken. Viele von ihnen könnten ausge­rechnet die Liberal­de­mo­kraten unter­stützen, die derzeit in den Umfragen mit 16 Prozent auf Platz drei liegen.

Doch falls es tatsächlich irgendwann zu einem Brexit kommt, würde das die Liberal­de­mo­kraten vor ein Dilemma stellen. Sollen sie dafür kämpfen, der EU wieder beizu­treten oder nicht? Tom Brake gibt zu, dass es hierzu noch keine Entscheidung gibt. „Wir werden unsere Position noch entwi­ckeln müssen“, sagt er: „Wir müssen vor allem verstehen, unter welchen Bedin­gungen die EU uns wieder­auf­nehmen würde und ob man diese Bedin­gungen den Menschen in Großbri­tannien verkaufen kann.“

Die Gefahr ist, dass die Partei wieder an Profil verlieren könnte, wenn Großbri­tannien die EU verlässt und die Brexit-Frage als entschieden gilt. Denn in anderen Politik­be­reichen kann die zentris­tische sozial­li­berale Partei den beiden großen Parteien keine Konkurrenz machen. Gegen die Liberal­de­mo­kraten spricht auch das britische Mehrheits­wahl­recht, bei dem nur ein Kandidat im Wahlkreis gewinnt.

Brake glaubt aber, dass der Brexit noch lange ein wichtiges Thema in der briti­schen Politik bleiben wird, egal ob er geregelt oder ungeregelt abläuft. In jedem Fall wird man früher oder später über die künftigen Handels­be­zie­hungen mit der EU und über die Grenze in Nordirland verhandeln müssen. „Bedau­ernswert für die Menschen in Großbri­tannien ist, dass der Brexit in den nächsten fünf Jahren noch nicht zu Ende sein wird“, sagt Brake.

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