Ukraine: Warum Corona in den „Volks­re­pu­bliken“ besonders gefähr­lich ist

Desin­fek­tion von huma­ni­tären Hilfs­gü­tern des Roten Kreuzes bei seiner Ankunft an der DNR, © Alexander Rekun/​ Imago

Im Osten der Ukraine liegt eine der gefähr­dets­ten Regio­nen für die Coronapan­de­mie über­haupt. In den von Russ­land abhän­gi­gen „Volks­re­pu­bli­ken“ sind fast 50 Prozent der Ein­woh­ner im Ren­ten­al­ter – so viele wie wohl nir­gends sonst auf der Welt.

In den von Russ­land kon­trol­lier­ten „Volks­re­pu­bli­ken“ in den ukrai­ni­schen Regionen Donezk und Luhansk könnte die Seuche ver­hee­rende Aus­wir­kun­gen haben. Bisher (Stand 27. April) gibt es dort gerade mal 148 bestä­tigte Fälle – 78 in Donezk und 70 in Luhansk – und drei Tote. Bei einer ange­nom­menen Bevöl­ke­rungs­zahl von 2,5 Millionen (die genaue Zahl ist wegen des großen Exodus seit Konflikt­be­ginn unbekannt) entspricht das 6 Fällen pro 100.000 Einwohner. Zum Vergleich: In der Ukraine sind es 22 Fälle pro 100.000, in Russland 55. Aber das Risiko eines unkon­trol­lier­ba­ren Aus­bruchs ist groß. 

Portrait von Nikolaus von Twickel

Nikolaus von Twickel ist Redak­teur der Web­site „Russ­land ver­ste­hen“ im Zentrum Libe­rale Moderne.

Zum einen ist die Bevöl­ke­rung extrem über­al­tert. Offi­zi­ell leben in den zwei „Repu­bli­ken“ mehr als eine Million Rentner, fast 50 Prozent der Ein­woh­ner – wahr­schein­lich Welt­re­kord. Zum Ver­gleich: In Deutsch­land beträgt der Anteil der über 65-Jäh­ri­gen 22 Prozent, in der Ukraine sind es zwi­schen 20 und 25 Prozent. Diese Alters­struk­tur ist eine direkte Folge des seit 2014 andau­ern­den Kon­flikts mit Russ­land und der von Moskau orga­ni­sier­ten Macht­über­nahme der Sepa­ra­tis­ten im selben Jahr – beides hat viele arbeits­fä­hige Men­schen zum Wegzug genö­tigt, während Alte und Kranke oft zurückblieben.

Gleich­zei­tig sind die Gesund­heits­sys­teme vor Ort von Krieg und Armut aus­ge­zehrt, Ärzte ver­die­nen umge­rech­net weniger als 150 Euro im Monat, was zu einem mas­si­ven Brain-Drain geführt hat: Die „Gesund­heits­mi­nis­te­rin­nen“ in Donezk und Luhansk klagen offen darüber, dass ihnen jeweils 5.000 Ärzte fehlen. In den Kran­ken­häu­sern sind Schutz­klei­dung und Masken Mangelware.

Aber damit nicht genug. Die Sepa­ra­tis­ten wei­ger­ten sich wochen­lang, ange­mes­sen auf die Gefahr zu reagie­ren. Teil­weise tun sie es immer noch. Während in der Ukraine und Russ­land Kinder­gärten, Schulen und Uni­ver­si­tä­ten ab Mitte März geschlos­sen wurden, ging das Leben in den „Volks­re­pu­bli­ken“ zunächst weiter wie bisher. Die De-facto-Behör­den wurden nicht müde zu betonen, dass es bei ihnen keinen ein­zi­gen bestä­tig­ten Coro­na­fall gebe.

COVID-19 Maß­nah­men in den „Volks­re­pu­bli­ken“

Qua­ran­tä­ne­re­geln wurden in Donezk ab Mitte März ein­ge­führt, Schüler und Stu­den­ten mussten ab 19. März zu Hause bleiben. In Luhansk wurden zunächst prak­tisch gar keine Maß­nah­men ein­ge­führt. Erst am 28. März wurden plötz­lich Restau­rants, Läden, Theater und Museen geschlos­sen, Schulen und Uni­ver­si­tä­ten ab 30. März. Dafür dürfen in Donezk Restau­rants und Cafés bis auf wei­te­res offen­blei­ben – jeden­falls tags­über bis 18:00 Uhr. Kinder­gärten bleiben weiterhin geöffnet.

Bei Grenz­schlie­ßun­gen han­del­ten die Sepa­ra­tis­ten auch zöger­lich und unein­heit­lich. Während die Über­gänge von der „DNR“ zu den regie­rungs­kon­trol­lier­ten Gebie­ten an der „Kon­takt­li­nie“ sowie nach Russ­land schritt­weise ab 17. März geschlos­sen wurden, schloss die „LNR“ den ein­zi­gen Über­gang in die regie­rungs­kon­trol­lierte Ukraine, die Fuß­gän­ger­brü­cke in Stany­zia Luhanska, am 23. März. Noch bis Februar zählten die Vereinten Nationen hier knapp eine Million Über­tritte pro Monat – über­wie­gend Rentner, die sich ihre ukrai­ni­schen Pensionen auf regie­rungs­kon­trol­liertem Gebiet auszahlen ließen.

Die Über­gänge zwi­schen der „LNR“ und den rus­si­schen Grenz­or­ten Donezk und Gukowo blieben dagegen weiter offen. Als ihre Schlie­ßung am 8. April ange­kün­digt wurde, hieß es, dass Busse mit Ein­hei­mi­schen, die ihre neuen rus­si­schen Pässe in der benach­bar­ten Region Rostow abholen, aus­ge­nom­men seien. Erst zwei Tage später erkannte man, dass das wohl keine gute Idee war und teilte mit, dass das Staats­bür­ger­schafts­pro­gramm erstmal aus­ge­setzt sei.

Befürch­tun­gen, dass die Qua­ran­tä­ne­vor­ga­ben der Sepa­ra­tis­ten nicht oder nur teil­weise ein­ge­hal­ten werden, bestä­tig­ten sich am 5. April, als sowohl in Donezk als auch in Luhansk die „Gesund­heits­mi­nis­te­rin­nen“ besorgt mit­teil­ten, dass mehrere infi­zierte Bewoh­ner trotz Fiebers wei­ter­hin zur Arbeit gegan­gen seien. In der „LNR“ wurden dar­auf­hin mehrere Städte kom­plett abge­rie­gelt. Die „DNR“ zog es vor, gar nicht erst mit­zu­tei­len, wo die Erkrank­ten leben. Ab 27. April wurde dann die Region am Asowschen Meer abge­rie­gelt – wohl um eine Verbrei­tung unter Urlaubern während der bevor­ste­henden Maifei­er­tage zu verhindern.

Wie viele COVID-19 Infi­zierte gibt es wirklich?

Wie hoch die Zahl der Infi­zier­ten wirk­lich ist, das ist auch in „nor­ma­len“ Ländern schwer fest­zu­stel­len. Aber da die „Volks­re­pu­bli­ken“ der Ost­ukraine nicht bekannt dafür sind, dass sie bereit­wil­lig über eigene Pro­bleme berich­ten, wird über die Glaub­wür­dig­keit der Zahlen viel spe­ku­liert. So erklärte der ukrai­ni­sche Geheim­dienst SBU am 4. April, dass in der „LNR“ bereits 13 Men­schen mit Ver­dacht auf Coro­na­vi­rus gestor­ben seien.

Und noch einen großen Unter­schied gibt es zwi­schen den beiden „Volks­re­pu­bli­ken“, die zwar beide prak­tisch kom­plett von Moskau abhän­gig sind, sich aber kaum mit­ein­an­der abspre­chen. In Donezk hat Sepa­ra­tis­ten­chef Denis Puschi­lin in meh­re­ren Anspra­chen und Inter­views bei der Bevöl­ke­rung um Ver­ständ­nis für die Maß­nah­men gewor­ben. In Luhansk beschränkt sich sein Kollege Leonid Pas­set­sch­nik dagegen auf wenige Erklä­rungen auf seiner Homepage sowie auf Twitter. Die Absage der für 9. Mai geplanten Sieges­pa­raden zum 75. Jahres­tages des Endes des Zweiten Welt­kriegs teilten beide Sepa­ra­tis­ten­führer erst mit, als Putin sich am 16. April dazu durch­ge­rungen hatte.

Geschlos­sene Grenzen und posi­tive Propaganda

Hin­ter­grund des Zögerns ist sicher die Erkennt­nis, dass die „Volk­re­pu­bli­ken“ sich lange Quaran­tä­ne­maß­nahmen schlicht nicht leisten können. „DNR“-Chef Puschi­lin hat das offen zuge­ge­ben, als er am 3. April sagte, dass „unsere Wirt­schaft von einer Epi­de­mie sehr viel härter getrof­fen werden würde als andere Länder.“

Schon die Schlie­ßung der Über­gänge zu den regie­rungs­kon­trol­lier­ten Gebie­ten hat zur Folge, dass Hun­dert­tau­sende nicht mehr ihre ukrai­ni­schen Renten abholen können, mit der sie ihre küm­mer­li­chen „repu­bli­ka­ni­schen“ Pen­sio­nen in Höhe von 4,800 rus­si­sche Rubel (58 Euro) auf­bes­sern. Nicht besser sieht es für die Indus­trie­ar­bei­ter aus. Seit der 2017 bestehen­den Wirt­schafts­blo­ckade zwi­schen ihnen und der rest­li­chen Ukraine hängen die „Volks­re­pu­bli­ken“ kom­plett am Tropf Russ­lands, dem ein­zi­gen Markt, wo sie ihre Kohle, Eisen- und Stahl­pro­dukte ver­kau­fen können. Aber Russ­land ist derzeit selbst in einer sich täglich ver­schlim­mern­den Krise.

Dass die Lage ernst ist, geht aus­ge­rech­net aus einem Video des eigent­lich für posi­tive Pro­pa­ganda zustän­di­gen Donez­ker „Infor­ma­ti­ons­mi­nis­te­ri­ums“ hervor. Darin erklärt Wla­di­mir Pasch­kow, ein rus­si­scher Indus­tri­el­ler, der ver­gan­ge­nes Jahr zum ein­fluss­rei­chen stell­ver­tre­ten­den Regie­rungs­chef auf­stieg, unum­wun­den dass die bis­he­ri­gen Absatz­mög­lich­kei­ten ver­siegt sind: „Wir sind eine Koh­le­re­gion, aber wir können keine Kohle ver­kau­fen“. Und er fügt hinzu, dass die „DNR“ lernen müsse, sich künftig selber zu ernähren.

In Luhansk hat Sepa­ra­tis­ten­chef Passet­schnik die „Reor­ga­ni­sa­tion“ des Kohle­sek­tors, also die Schlie­ßung unren­ta­bler Minen, ange­kün­digt, ohne jedoch Einzel­heiten zu nennen.

Wie es für die „Volks­re­pu­bli­ken“ wei­ter­ge­hen wird, ist also völlig unge­wiss. Die rus­si­schen Konvois, die noch 2019 wöchent­lich Hilfs­gü­ter und wohl auch Bargeld nach Donezk und Luhansk brach­ten, sind bereits seit dem Jah­res­wech­sel nicht mehr gesehen worden. Seitdem die Sepa­ra­tis­ten in den Jahren 2015 und 2016 die aus­län­di­schen Hilfs­or­ga­ni­sa­tio­nen Medi­cins sans Fron­tie­res und People in Need raus­ge­schmis­sen haben, sowie seit 2017 die Konvois des ukrai­ni­schen Olig­ar­chen Rinat Ach­me­tow nicht mehr rein­gelas­sen werden, sind das Inter­na­tio­nale Komitee vom Roten Kreuz sowie UN-Orga­ni­sa­tionen die einzigen, die noch Hilfs­lie­fe­run­gen senden. Beim letzten dieser Trans­porte am 3. April wurde der ört­li­che ICRC-Leiter vom „DNR“-Infor­ma­ti­ons­mi­nis­te­rium inter­viewt – ein höchst unge­wöhn­li­cher Vorgang. Viel­leicht ein Zeichen dafür, dass die Sepa­ra­tis­ten ahnen, dass sie künftig mehr Hilfe anneh­men müssen, die nicht aus Russ­land stammt.

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