„Unsere einzige Schuld ist, dass wir Frauen sind“

Foto: Carolina Drüten

20 Jahre lang versuchte der Westen aus Afgha­nistan ein freiheit­liches und demokra­ti­sches Land zu machen. Ein Jahr nach der Macht­über­nahme der Taliban ist davon wenig geblieben – und Frauen trifft es besonders hart.

Die Frau, die noch vor einem Jahr Islamisten und Terro­risten in Afgha­nistan jagte, kniet auf dem Teppich in einem schmuck­losen Zimmer am Rande der Haupt­stadt Kabul. Hier verbringt sie die meisten Stunden des Tages, verborgen vor neugie­rigen Augen. Ihre Identität muss geheim bleiben. Zahra Sama (Name geändert) fürchtet um ihr Leben.

Die 27-Jährige hatte einst vieles erreicht, wovon eine junge ambitio­nierte Frau in Afgha­nistan träumen konnte. Sie hatte einen einfluss­reichen Job, sie war die Haupter­näh­rerin der Familie, ihrer Schwester zahlte sie das Studium an einer Privatuni. Als Staats­an­wältin brachte sie Mitglieder der Terror­or­ga­ni­sa­tionen al-Qaida und IS sowie Taliban ins Gefängnis. Sie ermit­telte in Fällen von Terror, Entführung und Menschen­handel. Sie strebte eine Führungs­po­sition an, wollte den Weg ebnen für andere Frauen. Gerade hatte sie ihren Führer­schein gemacht und sparte auf ein Auto.

Doch im Islami­schen Emirat der Taliban gibt es keinen Platz für Frauen wie Sama. 20 Jahre lang versuchte der Westen, angeführt von den USA, aus Afgha­nistan ein freiheit­liches und demokra­ti­sches Land zu machen. Als die kriegs­müden Ameri­kaner und die anderen westlichen Kräfte vor etwa einem Jahr aus dem Land abzogen, ergriffen die Taliban die Macht. Viele Afghanen, die den Versprechen der Ausländer geglaubt hatten, blieben mit ihren Träumen zurück. Musik ist nun verboten. Seit einem Jahr dürfen viele Mädchen die Schule nicht mehr besuchen. Journa­listen können nicht frei berichten. Frauen müssen ihr Gesicht verschleiern, auch wenn dies bisher nicht überall durch­ge­setzt wird.

An dem Tag, der Samas Leben verändern sollte, nahm die afgha­nische Geschichte einen neuen Verlauf. Am 15. August 2021 eroberten die Taliban die Haupt­stadt. Sie befreiten zahlreiche Insassen aus dem größten Gefängnis Afgha­ni­stans. Und Sama bekam einen anonymen Anruf. „Jetzt sind unsere Leute an der Macht“, sagte eine Männer­stimme. „Die Stadt gehört uns. Wir werden dich finden.“ Sama vermutet, dass der Anrufer einer der Krimi­nellen war, die sie ins Gefängnis gebracht hatte und der nun auf freiem Fuß war – und auf Rache sann. Zwar haben die Taliban eine General­am­nestie für Mitar­beiter der ehema­ligen Regierung ausge­sprochen. Doch immer wieder gibt es Meldungen über außer­ge­richt­liche Tötungen. Die Taliban-Regierung bestreitet solche Fälle.

Sama und ihre Familie tauchten unter. Die nun arbeitslose Staats­an­wältin wollte das Land mit den auslän­di­schen Diplo­maten und Soldaten verlassen. Zunächst bemühte sie sich bei den Briten. Der Versuch schei­terte, als der IS einen Anschlag auf den Kabuler Flughafen beging. Zwei Tage später stellte London seine Evaku­ie­rungs­mission ein – und Sama richtete ihr Leben im Unter­grund ein. Bis heute hofft sie auf die Aufnah­me­zusage einer westlichen Regierung. „Ich sorge mich nicht nur um mich selbst“, sagt Sama. „Ich bin der Grund, dass meine Familie in Gefahr ist. Für sie wünsche ich mir einen sicheren Ort und Seelenfrieden.“

Die Taliban bestreiten, dass sie Frauen vom Berufs­leben ausschließen. „In den Bereichen, in denen Frauen gebraucht werden, arbeiten sie“, sagt der Sprecher der Taliban und stell­ver­tre­tende Minister für Infor­mation und Kultur, Zabiullah Mudschahid. „Auch in jedem anderen Bereich, in dem eine Frau benötigt wird, stellen wir sie ein, zum Beispiel im Hochschul­wesen, im Bildungs- und Gesund­heits­sektor, bei der Polizei, in Gefäng­nissen, bei Passkon­trollen und an Flughäfen.“ In der Arbeitswelt des Emirats ist dort Platz für Frauen, wo sie mit anderen Frauen zusam­men­kommen – als Teil der Geschlechtertrennung.

Bei ihrer Macht­über­nahme hatten die Taliban versprochen, Frauen­rechte – vom Recht auf Bildung bis zum Recht auf Arbeit – zu achten. Ebenso hatten sie versi­chert, dass von Terror­gruppen wie al-Qaida aus Afgha­nistan heraus inter­na­tional keine Gefahr mehr ausgehen werde. „Für sie ist hier kein Platz“, sagte Mudschahid. „Wir haben uns im Doha-Abkommen mit den USA und ihren Verbün­deten dazu verpflichtet, dass wir nicht zulassen, dass irgendeine Gruppe von afgha­ni­schem Boden gegen sie operiert. Damit ist es uns ernst“, sagte er. An der Fähigkeit oder Bereit­schaft der Taliban, das Terror­netzwerk zu bekämpfen, waren Zweifel aufge­kommen, nachdem die USA den Al-Qaida-Anführer Aiman al-Sawahiri mit einem Drohnen­an­griff in der Haupt­stadt Kabul getötet hatten. „Das Islamische Emirat Afgha­nistan hat ein Exper­tenteam beauf­tragt, diese Angele­genheit zu unter­suchen“, sagte Bilal Karimi, der Vizesprecher der Regierung. Die Ergeb­nisse werde man nach Abschluss der Ermitt­lungen bekannt geben.

Derweil sind in weiten Teilen des Landes die Schulen für Mädchen ab der siebten Klasse seit einem Jahr geschlossen. Die Taliban begründen das mit religiösen und kultu­rellen Aspekten. „Afgha­nistan besteht nicht nur aus den Städten, sondern auch aus großen Stämmen und einer großen Anzahl von Menschen in den Bergen“, sagte Karimi. Diese Menschen hätten ihre eigenen Forde­rungen, die auf religiösen Vorschriften beruhten, sagte er. Sobald man eine Einigung erzielt habe, werde man die Schulen für Mädchen wieder öffnen. Einen genauen Zeitplan bleibt er auf Nachfrage schuldig.

Es stimmt, Kabul war immer ein Ort der Privi­le­gierten, der Modernen, der Visionäre. „Bis zu einem gewissen Grad gediehen die Rechte der Frauen in Kabul. Aber viele dieser Werte waren auf die Haupt­stadt beschränkt“, sagt Ibraheem Bahiss von der Inter­na­tional Crisis Group. Auf dem Land herrschten die strengen Regeln einer konser­va­tiven Gesell­schaft, auch ohne die Taliban. Und doch: Seit die Islamisten an der Macht sind, berauben sie alle Frauen ihrer Freiheits­rechte – auch jene wie Sama, die in dem Glauben aufwuchsen, sie könnten alles erreichen.

Afgha­nische Journa­lis­tinnen dürfen zwar noch arbeiten, stehen aber unter beson­derem Druck. Seit Mai müssen sie ihr Gesicht vor der Kamera verhüllen. Der Privat­sender Tolo News hat bewusst Frauen neu einge­stellt. Ein stiller Protest. Waheeda Hasan moderiert einen Teil der Morgen­sendung. Außerhalb des Studios trägt die 28-Jährige ihr türkises Kopftuch locker auf dem Hinterkopf, Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht. Vor der Kamera sind jedoch nur ihre Augen zu sehen. Schrecklich fühle sich das an, sagt sie. Ihre Stimme sei undeutlich zu hören, es sei warm, und sie könne schlecht atmen.

Die afgha­nische Medien­land­schaft galt als großer Erfolg der westlichen Inter­vention. Nun aber haben zahlreiche Redak­tionen und Radio­sender ihre Arbeit einge­stellt, Journa­listen verließen in Scharen das Land. Einige Reporter wurden verhaftet, wenn sie etwa über Frauen­pro­teste berich­teten. Zirak Faheem, Vizedi­rektor von Tolo News, spricht von der „dunkelsten Periode des Journa­lismus in der Geschichte“. Am schlimmsten sei die recht­liche Unsicherheit unter den Taliban. „Es gibt weder eine Verfassung noch ein Medien­gesetz, noch ein Infor­ma­ti­ons­frei­heits­gesetz“, sagt er. Nach Anschlägen erhielten Reporter oft keinen Zugang; Zahlen zu Verwun­deten und Getöteten hielten die Taliban zurück.

Modera­torin Hasan führt Tagebuch. Sie hofft, dass ihre Aufzeich­nungen eines Tages eine Warnung an künftige Genera­tionen sein können, dass Freiheit nicht selbst­ver­ständlich ist. Einmal sei ein Religi­ons­ge­lehrter der Taliban in den Sender gekommen, erzählt sie. Die beste Verschleierung für Frauen, habe er gesagt, bestehe darin, gar nicht erst Journa­listin zu werden. „Ich glaube, ihr Hauptziel ist es, uns aus den Medien zu verdrängen“, sagt Hasan. „Sie haben uns unsere Identität genommen. Unsere einzige Schuld besteht darin, dass wir Frauen sind.“

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