„Unsere einzige Schuld ist, dass wir Frauen sind“
20 Jahre lang versuchte der Westen aus Afghanistan ein freiheitliches und demokratisches Land zu machen. Ein Jahr nach der Machtübernahme der Taliban ist davon wenig geblieben – und Frauen trifft es besonders hart.
Die Frau, die noch vor einem Jahr Islamisten und Terroristen in Afghanistan jagte, kniet auf dem Teppich in einem schmucklosen Zimmer am Rande der Hauptstadt Kabul. Hier verbringt sie die meisten Stunden des Tages, verborgen vor neugierigen Augen. Ihre Identität muss geheim bleiben. Zahra Sama (Name geändert) fürchtet um ihr Leben.
Die 27-Jährige hatte einst vieles erreicht, wovon eine junge ambitionierte Frau in Afghanistan träumen konnte. Sie hatte einen einflussreichen Job, sie war die Haupternährerin der Familie, ihrer Schwester zahlte sie das Studium an einer Privatuni. Als Staatsanwältin brachte sie Mitglieder der Terrororganisationen al-Qaida und IS sowie Taliban ins Gefängnis. Sie ermittelte in Fällen von Terror, Entführung und Menschenhandel. Sie strebte eine Führungsposition an, wollte den Weg ebnen für andere Frauen. Gerade hatte sie ihren Führerschein gemacht und sparte auf ein Auto.
Doch im Islamischen Emirat der Taliban gibt es keinen Platz für Frauen wie Sama. 20 Jahre lang versuchte der Westen, angeführt von den USA, aus Afghanistan ein freiheitliches und demokratisches Land zu machen. Als die kriegsmüden Amerikaner und die anderen westlichen Kräfte vor etwa einem Jahr aus dem Land abzogen, ergriffen die Taliban die Macht. Viele Afghanen, die den Versprechen der Ausländer geglaubt hatten, blieben mit ihren Träumen zurück. Musik ist nun verboten. Seit einem Jahr dürfen viele Mädchen die Schule nicht mehr besuchen. Journalisten können nicht frei berichten. Frauen müssen ihr Gesicht verschleiern, auch wenn dies bisher nicht überall durchgesetzt wird.
An dem Tag, der Samas Leben verändern sollte, nahm die afghanische Geschichte einen neuen Verlauf. Am 15. August 2021 eroberten die Taliban die Hauptstadt. Sie befreiten zahlreiche Insassen aus dem größten Gefängnis Afghanistans. Und Sama bekam einen anonymen Anruf. „Jetzt sind unsere Leute an der Macht“, sagte eine Männerstimme. „Die Stadt gehört uns. Wir werden dich finden.“ Sama vermutet, dass der Anrufer einer der Kriminellen war, die sie ins Gefängnis gebracht hatte und der nun auf freiem Fuß war – und auf Rache sann. Zwar haben die Taliban eine Generalamnestie für Mitarbeiter der ehemaligen Regierung ausgesprochen. Doch immer wieder gibt es Meldungen über außergerichtliche Tötungen. Die Taliban-Regierung bestreitet solche Fälle.
Sama und ihre Familie tauchten unter. Die nun arbeitslose Staatsanwältin wollte das Land mit den ausländischen Diplomaten und Soldaten verlassen. Zunächst bemühte sie sich bei den Briten. Der Versuch scheiterte, als der IS einen Anschlag auf den Kabuler Flughafen beging. Zwei Tage später stellte London seine Evakuierungsmission ein – und Sama richtete ihr Leben im Untergrund ein. Bis heute hofft sie auf die Aufnahmezusage einer westlichen Regierung. „Ich sorge mich nicht nur um mich selbst“, sagt Sama. „Ich bin der Grund, dass meine Familie in Gefahr ist. Für sie wünsche ich mir einen sicheren Ort und Seelenfrieden.“
Die Taliban bestreiten, dass sie Frauen vom Berufsleben ausschließen. „In den Bereichen, in denen Frauen gebraucht werden, arbeiten sie“, sagt der Sprecher der Taliban und stellvertretende Minister für Information und Kultur, Zabiullah Mudschahid. „Auch in jedem anderen Bereich, in dem eine Frau benötigt wird, stellen wir sie ein, zum Beispiel im Hochschulwesen, im Bildungs- und Gesundheitssektor, bei der Polizei, in Gefängnissen, bei Passkontrollen und an Flughäfen.“ In der Arbeitswelt des Emirats ist dort Platz für Frauen, wo sie mit anderen Frauen zusammenkommen – als Teil der Geschlechtertrennung.
Bei ihrer Machtübernahme hatten die Taliban versprochen, Frauenrechte – vom Recht auf Bildung bis zum Recht auf Arbeit – zu achten. Ebenso hatten sie versichert, dass von Terrorgruppen wie al-Qaida aus Afghanistan heraus international keine Gefahr mehr ausgehen werde. „Für sie ist hier kein Platz“, sagte Mudschahid. „Wir haben uns im Doha-Abkommen mit den USA und ihren Verbündeten dazu verpflichtet, dass wir nicht zulassen, dass irgendeine Gruppe von afghanischem Boden gegen sie operiert. Damit ist es uns ernst“, sagte er. An der Fähigkeit oder Bereitschaft der Taliban, das Terrornetzwerk zu bekämpfen, waren Zweifel aufgekommen, nachdem die USA den Al-Qaida-Anführer Aiman al-Sawahiri mit einem Drohnenangriff in der Hauptstadt Kabul getötet hatten. „Das Islamische Emirat Afghanistan hat ein Expertenteam beauftragt, diese Angelegenheit zu untersuchen“, sagte Bilal Karimi, der Vizesprecher der Regierung. Die Ergebnisse werde man nach Abschluss der Ermittlungen bekannt geben.
Derweil sind in weiten Teilen des Landes die Schulen für Mädchen ab der siebten Klasse seit einem Jahr geschlossen. Die Taliban begründen das mit religiösen und kulturellen Aspekten. „Afghanistan besteht nicht nur aus den Städten, sondern auch aus großen Stämmen und einer großen Anzahl von Menschen in den Bergen“, sagte Karimi. Diese Menschen hätten ihre eigenen Forderungen, die auf religiösen Vorschriften beruhten, sagte er. Sobald man eine Einigung erzielt habe, werde man die Schulen für Mädchen wieder öffnen. Einen genauen Zeitplan bleibt er auf Nachfrage schuldig.
Es stimmt, Kabul war immer ein Ort der Privilegierten, der Modernen, der Visionäre. „Bis zu einem gewissen Grad gediehen die Rechte der Frauen in Kabul. Aber viele dieser Werte waren auf die Hauptstadt beschränkt“, sagt Ibraheem Bahiss von der International Crisis Group. Auf dem Land herrschten die strengen Regeln einer konservativen Gesellschaft, auch ohne die Taliban. Und doch: Seit die Islamisten an der Macht sind, berauben sie alle Frauen ihrer Freiheitsrechte – auch jene wie Sama, die in dem Glauben aufwuchsen, sie könnten alles erreichen.
Afghanische Journalistinnen dürfen zwar noch arbeiten, stehen aber unter besonderem Druck. Seit Mai müssen sie ihr Gesicht vor der Kamera verhüllen. Der Privatsender Tolo News hat bewusst Frauen neu eingestellt. Ein stiller Protest. Waheeda Hasan moderiert einen Teil der Morgensendung. Außerhalb des Studios trägt die 28-Jährige ihr türkises Kopftuch locker auf dem Hinterkopf, Haarsträhnen fallen ihr ins Gesicht. Vor der Kamera sind jedoch nur ihre Augen zu sehen. Schrecklich fühle sich das an, sagt sie. Ihre Stimme sei undeutlich zu hören, es sei warm, und sie könne schlecht atmen.
Die afghanische Medienlandschaft galt als großer Erfolg der westlichen Intervention. Nun aber haben zahlreiche Redaktionen und Radiosender ihre Arbeit eingestellt, Journalisten verließen in Scharen das Land. Einige Reporter wurden verhaftet, wenn sie etwa über Frauenproteste berichteten. Zirak Faheem, Vizedirektor von Tolo News, spricht von der „dunkelsten Periode des Journalismus in der Geschichte“. Am schlimmsten sei die rechtliche Unsicherheit unter den Taliban. „Es gibt weder eine Verfassung noch ein Mediengesetz, noch ein Informationsfreiheitsgesetz“, sagt er. Nach Anschlägen erhielten Reporter oft keinen Zugang; Zahlen zu Verwundeten und Getöteten hielten die Taliban zurück.
Moderatorin Hasan führt Tagebuch. Sie hofft, dass ihre Aufzeichnungen eines Tages eine Warnung an künftige Generationen sein können, dass Freiheit nicht selbstverständlich ist. Einmal sei ein Religionsgelehrter der Taliban in den Sender gekommen, erzählt sie. Die beste Verschleierung für Frauen, habe er gesagt, bestehe darin, gar nicht erst Journalistin zu werden. „Ich glaube, ihr Hauptziel ist es, uns aus den Medien zu verdrängen“, sagt Hasan. „Sie haben uns unsere Identität genommen. Unsere einzige Schuld besteht darin, dass wir Frauen sind.“
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