„Wer Freiheit und Sicher­heit gegen­ein­ander ausspielt, wird am Ende beides verlieren.“

Foto: Anne Hufnagl

Warum Libe­ra­lismus und liberale Demo­kra­tien in die Defensive geraten sind und wie sie sich für die Bewäl­ti­gung aktueller und zukünf­tiger Heraus­for­de­rungen erneuern können und müssen: Ralf Fücks im Interview – und am 24.11. auf unserer öffent­li­chen Konferenz “Rethin­king Libe­ra­lism“.

Herr Fücks, der Satz „die Freiheit ist bedroht“ läuft nicht erst seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs als rheto­ri­sche Endlos­schleife. Auch Sie verwenden ihn – und wollen mit Ihrem „Zentrum Liberale Moderne“ dage­gen­halten. Reden wir zu viel über Freiheit und denken zu wenig über Freiheit nach?

Zumindest gibt es große Span­nungen zwischen jenen, die sich alle mitein­ander als „Freunde der Freiheit“ verstehen. Die einen vertreten einen radikal indi­vi­dua­lis­ti­schen Begriff von Freiheit – im Sinne der Freiheit von staat­li­chen Eingriffen in das Leben des Einzelnen. Die anderen betonen mehr die gesell­schaft­li­chen Bedin­gungen von Freiheit und die gleiche Freiheit aller.

Ist es in der Pandemie gut gelungen, beides auszutarieren?

Es gab viel­leicht zu lange einen Primat der Präven­tion. Die Lockdown-Politik hat die Kolla­te­ral­schäden insbe­son­dere für Kinder und Jugend­liche nicht genügend mitbe­dacht. Gerade in der Anfangs­phase der Pandemie stocherte die Politik im Nebel. Es fehlten empi­ri­sche Daten über Infek­ti­ons­ver­läufe und Anste­ckungs­ketten. In einer solchen Situation muss Politik extrem lernfähig sein, muss sich korri­gieren können, neue Erkennt­nisse aufzu­nehmen und in ihr Handeln einbeziehen.

Wir haben in der Pandemie auch gesehen, dass ein verständ­li­ches Sicher­heits­be­dürfnis der Menschen die Frei­heits­rechte zeit­weilig fast als zu vernach­läs­si­gende Größe hat dastehen lassen.

Wer Freiheit und Sicher­heit gegen­ein­ander ausspielt, wird am Ende beides verlieren. Das ist das grund­le­gende Dilemma moderner Gesell­schaften. Sie sind hoch verwundbar und in einem ständigen Wandel. Das ruft das Bedürfnis nach Sicher­heit, Stabi­lität und Konti­nuität hervor. Man sollte das weder igno­rieren noch verdammen. Das Kunst­stück besteht in der Balance zwischen legitimen Sicher­heits­in­ter­essen und dem Schutz von Frei­heits­rechten, die nicht einge­tauscht werden können gegen ein Sicher­heits­ver­spre­chen. Den Kipppunkt muss man immer konkret bestimmen und gesell­schaft­lich aushandeln.

Wo sehen Sie heute die wesent­li­chen Bedro­hungen unserer Freiheit?

Die Frage der Bedrohung von außen ist einfach zu beant­worten: Wir erleben den Aufstieg zunehmend selbst­be­wusst auftre­tender auto­ri­tärer Mächte mit China und Russland an der Spitze. Auch Iran gehört zu dieser Achse, die nicht von ungefähr mili­tä­risch zusam­men­ar­beitet. Diese Regime haben den Spieß umgekehrt: Lange Zeit hat der Westen Demo­kratie-Export betrieben und für eine Ausdeh­nung des liberalen Gesell­schafts­mo­dell gesorgt. Ab 2005  etwa ist eine Trend­um­kehr einge­treten: Die Zahl der demo­kra­ti­schen Staaten schrumpft, es gibt selbst in der EU mit Staaten wie Ungarn einen Rückfall in auto­ri­täres Fahr­wasser, und die ohnehin auto­ri­tären Regime marschieren schnur­stracks in Richtung Diktatur – China steht für einen neuen digitalen Tota­li­ta­rismus. Diese Bedrohung der Freiheit von außen hat mit dem Krieg Russlands gegen die Ukraine ihren vorläu­figen Höhepunkt erreicht.

Zuletzt auch Italien?

Italien würde ich nicht in die Reihe der auto­ri­tären Staaten einordnen, weil dort noch kein Angriff auf die demo­kra­ti­schen Insti­tu­tionen erkennbar ist. Typisch für auto­ri­täre Herr­schaft ist ja die Aushe­be­lung von Gewal­ten­tei­lung und Macht­kon­trolle, der demo­kra­ti­schen „Checks and Balances“ mit der Unab­hän­gig­keit der Justiz und der Medien.

Und von innen?

Von innen sehen wir den Aufstieg popu­lis­ti­scher, meist rechter Parteien. Wir erleben die Rückkehr des „starken Mannes“, einer Figur aus den 1930er Jahren, mit Figuren wie Trump, Orban, Xi Jinping in China oder Modi in Indien. Und wir stellen ein schrump­fendes Vertrauen in die Demo­kratie fest. Auch in Deutsch­land zweifelt etwa ein Drittel der Bevöl­ke­rung an der Hand­lungs­fä­hig­keit der demo­kra­ti­schen Insti­tu­tionen. Das alles hat viel zu tun mit dem Tsunami der Verän­de­rungen, denen unsere Gesell­schaft zeit­gleich und mit hohem Tempo ausge­setzt sind. Eine wachsende Kluft zwischen Gewinnern und Verlie­rern ruft massive Ängste hervor. Auf solchem Boden gründet die anti­li­be­rale Bewegung.

Was führt Sie dann zu der These, diese anti­li­be­rale Welle habe unter­dessen ihren Schei­tel­punkt überschritten?

Ich mache das an zwei aktuellen Ereig­nissen fest: dem Ukraine-Krieg und den Protesten in Iran. Ihre Bedeutung für den Grund­kon­flikt zwischen Freiheit und Auto­ri­ta­rismus reicht weit über die jewei­ligen Länder hinaus. Mir ist die Unter­stüt­zung des Westens für die Frei­heits­be­we­gung im Iran bislang zu schwach, und auch die Ukraine könnte gut ein bisschen mehr Empathie gebrau­chen. Wir haben noch nicht ausrei­chend erkannt, was auch für uns auf dem Spiel steht. Positive Signale gibt es auch in etablierten Demokratien.

An welche Signale denken Sie?

Die US-Demo­kraten konnten sich in den Midterms-Wahlen deutlich besser als erwartet behaupten; die Trum­pisten haben einen empfind­li­chen Dämpfer erlitten. Das gibt Hoffnung auf eine erfolg­reiche Vertei­di­gung demo­kra­ti­scher Grund­werte und Insti­tu­tionen. Ich vertraue, anders gesagt, auf die Robust­heit und die Erneue­rungs­fä­hig­keit der Demokratien.

Haben die liberalen Demo­kra­tien west­li­cher Prägung ihre Strahl­kraft als poli­ti­sches Heils­mo­dell und zugleich ihre Stand­fes­tig­keit überschätzt?

Es gab in der Tat eine doppelte demo­kra­ti­sche Selbst­ge­fäl­lig­keit: Zum einen als Illusion, die ganze Welt bewege sich unum­kehrbar in Richtung Demo­kratie und Markt­wirt­schaft. Francis Fukuyamas These vom „Ende der Geschichte“ bedeutete ja nicht, dass von nun an alles still steht, sondern dass es keine Syste­mal­ter­na­tive zur Kombi­na­tion von Markt­wirt­schaft und Demo­kratie mehr gibt. In dieser Selbst­ge­wiss­heit ging verloren, dass die Dinge schon Mitte der 90er Jahre in eine ganz andere Richtung liefen.

Was war die andere demo­kra­ti­sche Selbstgefälligkeit?

Wir haben uns zu wenig ange­strengt, unsere Inno­va­ti­ons­fä­hig­keit zu stärken und die Moder­ni­sie­rung von Staat und Wirt­schaft konse­quent voran­zu­treiben, etwa mit Blick auf Digi­ta­li­sie­rung und Klima­neu­tra­lität. Aber auch die neuen sozialen Fragen wurden nicht konse­quent ange­gangen:  Wohnen, wachsende Kluft in der Vermö­gens­ver­tei­lung und die Bildungs­de­fi­zite, die durch die PISA-Studien offen­ge­legt wurden.

Und all das dekli­nieren Sie weniger als Gerech­tig­keits­frage, sondern als Frei­heits­pro­blem. Warum?

Weil es um die gleiche Freiheit und gleiche Chancen für alle geht. Auf die Frage „Wie viel Ungleich­heit verträgt Demo­kratie?“ gibt es bislang keine befrie­di­gende Antwort.

Haben Sie eine?

Zunächst einmal kann Ungleich­heit, die Ergebnis des Leis­tungs­prin­zips ist, durchaus ein Motor für ökono­mi­sche Dynamik sein, für Inno­va­tion und Eigen­in­itia­tive. Wo heute Selbst­kritik bei liberalen Geistern angesagt wäre, ist die Unter­schät­zung öffent­li­cher Güter. Dazu gehört auch die öffent­liche Infra­struktur: Die Misere der Deutschen Bahn ist doch einer modernen Demo­kratie unwürdig – auch im Vergleich zu anderen Ländern. Zu den öffent­li­chen Güter zählen auch das Bildungs­system, kultu­relle Einrich­tungen und nicht zuletzt die öffent­liche Sicher­heit. Wenn man diese im besten Sinne repu­bli­ka­ni­schen Insti­tu­tionen und deren auskömm­liche Finan­zie­rung zu stark vernach­läs­sigt und nur auf die private Einkom­mens- und Vermö­gens­bil­dung abhebt, dann schlägt das irgend­wann zurück.

Und unver­se­hens wird ein Begriff wie „Libe­ra­lismus“ zum Schimpfwort?

Wenn der Libe­ra­lismus als Denk­schule aus der Defensive kommen will, muss er eigene blinde Flecken selbst­kri­tisch hinter­fragen, insbe­son­dere eine fatale Verengung auf Markt­li­be­ra­lismus und ökono­mi­sche Freiheit. Der Libe­ra­lismus ist – durchaus nicht ohne eigenes Zutun – in die Ecke der Status-quo-Wahrer und Privi­le­gien-Vertei­diger geraten. Dabei hat er einmal als revo­lu­tio­näre Bewegung begonnen mit dem Ziel, auto­ri­täre Herr­schaft und Stan­des­pri­vi­le­gien zu über­winden. Dieses Element einer produk­tiven Unruhe, eines erneu­erten progres­siven Selbst­ver­ständ­nisses wäre als liberale Botschaft zentral.

Was sind denn frei­heit­liche Antworten auf die großen Herausforderungen?

Wir können das am Beispiel Klima­po­litik durch­buch­sta­bieren. Ich glaube, dass Liberale hier noch immer im Abwehr­modus wahr­ge­nommen werden: keine Staats­ein­griffe in die private und unter­neh­me­ri­sche Freiheit, keine Kosten­be­las­tung für Verbrau­cher und Betriebe, kein Tempo­limit. Tatsäch­lich gibt es eine Gefahr, schlei­chend in eine Art Öko-Diri­gismus zu rutschen mit einem immer strik­teren staat­li­chen Reglement. Aber ohne eigene Antworten gerät der Libe­ra­lismus schnell ins Abseits, und dann demons­trieren „Fridays for Future“ oder die „Letzte Gene­ra­tion“ vor der FDP-Zentrale und erklären die Liberalen zum Haupt­feind, was eine tragische Verkeh­rung ist.

Als „typisch liberale“ Antwort auf die Heraus­for­de­rung des Klima­wan­dels gilt der Ruf nach tech­no­lo­gi­scher Inno­va­tion, mit der die Probleme zu meistern seien. Ist das mehr als eine Selbstsuggestion?

Ange­sichts einer in Richtung zehn Milli­arden Menschen wach­senden Welt­be­völ­ke­rung haben wir gar keine andere Chance, als ökono­mi­sche Wert­schöp­fung und Natur­ver­brauch zu entkop­peln. Das geht nur über eine grüne indus­tri­elle Revo­lu­tion – nicht als Abschied von der modernen Indus­trie­ge­sell­schaft, sondern als Sprung in eine ökolo­gi­sche Moderne, die nicht mehr auf Raubbau an der Natur beruht. Dazu gehört aber auch, dass die Preise für Energie und Konsum­güter die ökolo­gi­sche Wahrheit sagen müssen, weil daraus der entschei­dende Anreiz zu ökolo­gisch bewusstem Verhalten und ökolo­gi­scher Inno­va­tion kommt – für Produ­zenten wie für Konsumenten.

Haben unsere Gesell­schaften die Fähigkeit zum Umsteuern?

Die Heraus­for­de­rung ist der Umbau komplexer Indus­trie­ge­sell­schaften mitten im laufenden Betrieb. Wenn wir nur den Klima­wandel im Auge haben und die notwen­digen Verän­de­rungen so forciert werden, dass sie zu massiven wirt­schaft­li­chen und sozialen Verwer­fungen führen, geht die Akzeptanz verloren. Wir können das Span­nungs­feld von Ökonomie, Ökologie und sozialer Fairness nicht einseitig auflösen.

Ein anderes Beispiel könnte auch der zunehmend aggres­si­vere Streit über die Iden­ti­täts­po­litik sein: Gender-Debatte, Cancel-Culture – und wie die Stich­worte heißen. Im Grunde handelt es sich dabei doch auch um einen liberalen Impuls: Minder­heiten schützen, den Über­se­henen und Über­hörten Gesicht und Stimme geben. Haben Sie eine liberale Idee für eine Konfliktminderung?

Der Blick in die USA lässt in der Tat die Gefahr eines Kultur­kampfes erkennen, in dem es um kollek­tive Iden­ti­täten geht. Wir müssen unter­scheiden zwischen dem offen­siven Eintreten gegen Diskri­mi­nie­rung, für Minder­hei­ten­rechte, für Teilhabe-Chancen einer­seits und einer Iden­ti­täts­po­litik, die den Parti­ku­la­rismus und die Flieh­kräfte in der Gesell­schaft stärkt, indem sie Indi­vi­duen nur noch nach ihrer Grup­pen­zu­ge­hö­rig­keit betrachtet und bewertet. Das Risiko liegt darin: Wenn man Iden­ti­täts­po­litik von links überzieht, bekommt man den Kultur­kampf von rechts. In den US-Midterms haben die Demo­kraten überall da gewonnen, wo sie stärker auf die Alltags­pro­bleme der Menschen einge­gangen sind und nicht das Spiel der Repu­bli­kaner mitge­spielt haben, Kultur­kampf-Themen ins Zentrum zu stellen. Ein bestimmtes Maß an Konflikt ist unver­meid­lich – etwa in der Geschlech­ter­po­litik, wo es um die Über­win­dung ange­stammter Privi­le­gien geht. Da haben, um es klar zu sagen, Männer natürlich etwas zu verlieren. Aber sie haben auch etwas zu gewinnen, wenn der Kampf für Geschlech­ter­ge­rech­tig­keit und gegen ethnische Diskri­mi­nie­rung nicht als „Kampf gegen alte, weiße Männer“ geführt wird.

Wie kann der Prozess einer Erneue­rung des Libe­ra­lismus überhaupt funktionieren?

Ich bin da recht zuver­sicht­lich. Die Debatte um einen zeit­ge­mäßen Libe­ra­lismus hat bereits an Schwung gewonnen, und liberale Parteien, die sich dem nicht stellen, riskieren, aus dem Spiel geworfen zu werden. Das gilt nicht nur im Hinblick auf die liberale Program­matik, sondern auch auf eine andere Haltung, eine andere Sprache, damit der Libe­ra­lismus wieder als etwas Empa­thi­sches und Passio­niertes wahr­ge­nommen wird.

Wie tönt der Sound eines empa­thi­schen Liberalismus?

Die Begriffe sind gar nicht neu. Sie müssen aber neu mit Leben gefüllt werden: Chan­cen­ge­rech­tig­keit,  Menschen­rechte, gleiche Freiheit für alle. Es geht darum, den huma­nis­ti­schen Charakter des Libe­ra­lismus hervor­zu­kehren und zu verdeut­li­chen, dass es ihm um die Würde des Menschen, seine Selbst­be­stim­mung und seine Entfal­tungs­mög­lich­keiten geht.

Eine Art Gerhart-Baum-Liberalismus?

Der von Baum vertre­tene Bürger­rechts-Libe­ra­lismus ist ein ganz wichtiges Motiv. Aber auch das ist mir noch zu eng. Wenn Sie es mit großen Namen verbinden wollen, würde ich Ralph Dahren­dorf hinzu­fügen – als immer noch aktuellen Vorreiter für einen modernen Libe­ra­lismus. Ich nenne beispiel­haft die Bedeutung, die Dahren­dorf der „Bildung für alle“ beigemessen hat. Dieses liberale Erbe ist ein unge­ho­bener Schatz.

 

Das Gespräch führten Carsten Fiedler und Joachim Frank für Kölner Stadt­an­zeiger, wo dieses Interview zuerst erschienen ist.

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