Wie umgehen mit einer russischen Niederlage?
Putin ist dabei, den Krieg zu verlieren. Doch Russlands imperialistisches Regime könnte eine Niederlage überleben. Wir müssen uns vorbereiten und strategisch für viele Eventualitäten gerüstet sein, schreibt Edward Lucas in seinem Kommentar.
Russland ist dabei, den Krieg zu verlieren. Wir müssen uns auf die möglichen Folgen vorbereiten.
Wladimir Putin kann den Krieg nicht gewinnen. Aber die Ukraine kann es. Die Frage ist nur, wann, zu welchem Preis und in welchem Ausmaß – und was als nächstes passiert. So lautet das Urteil nach sieben Monaten des blutigsten und zerstörerischsten Krieges, den Europa seit 1945 erlebt hat. Die ukrainische Armee ist bereits größer und schlagkräftiger als die russische. Sie wird jeden Tag stärker. Die Streitkräfte des Kremls zerfallen vor unseren Augen, demoralisiert (im wahrsten Sinne des Wortes) durch ihre schlechte Führung, verpfuschte Planung und schlechte Logistik.
Das ist keine Spekulation. Schauen Sie sich russische Talkshows an, die Resonanzböden für die Propagandamaschine des Kremls. Niemand glaubt mehr, dass es sich nur um eine „spezielle Militäroperation“ handelt. Das Wort „Krieg“ – einst ein Tabu – wird jetzt häufig in den Mund genommen. Auch die jüngsten militärischen Rückschläge werden offen diskutiert. Als Andrej Guruljow, der einstige stellvertretende Kommandeur des südlichen Militärbezirks Russlands, nach einer Erklärung für den Verlust des Logistikzentrums Lyman gefragt wurde, gab er „den ständigen Lügen“ die Schuld, und zwar von ganz unten bis ganz oben. Sekunden später brach seine Skype-Verbindung ab.
Maxim Jusin, ein politischer Redakteur des staatlichen Fernsehens, sagte: „Es ist schwer, mit Träumern zu sprechen, die in ihrer eigenen Welt leben“. Das klingt wie ein kaum verhüllter Angriff auf Putins wahnhaftes Geschwätz. Da militärische Fähigkeiten und politische Ziele auseinanderklaffen, hat der russische Führer eine weltpolitische Premiere aufgeführt: Er reklamiert, ein Gebiet annektiert zu haben, aus dem seine Streitkräfte auf dem Rückzug sind.
Bei all dem ist die unmittelbare Priorität die Unterstützung der Ukraine. Russland kann und wird der Bevölkerung und der Infrastruktur des Landes noch mehr schreckliches Leid und materiellen Schaden zufügen. Aber wie ich mit meiner Freundin Anne Applebaum auf einer Veranstaltung in London diskutiert habe, ist die Antwort klar: „Schickt Geld, Waffen und Anwälte“, um es mit den Worten von Warren Zevon zu sagen. Geld wird die Wirtschaft der Ukraine stabilisieren. Waffen werden den Sieg bringen. Und Gerichtsverfahren werden die Kriegsmaschinerie des Kremls lahmlegen. Wir wissen, was zu tun ist. Wir müssen es nur tun.
Die viel schwierigere Frage ist, was als nächstes kommt. Putin wird eine Niederlage auf dem Schlachtfeld vielleicht nicht überleben. Aber Russlands kleptokratisches, imperialistisches Regime ist weitaus langlebiger als jeder Einzelne. Meine große Sorge ist, dass eine Nach-Putin-Junta den Westen zum Narren hält und im Gegenzug für einen Waffenstillstand in der Ukraine und die Wiederaufnahme der Gaslieferungen einen „Reset“ der Beziehungen anbietet. Die richtige Antwort muss ein klares Nein sein. Der einzig akzeptable Frieden muss Reparationen, Kriegsverbrecherprozesse, eine unangefochtene NATO-Mitgliedschaft der Ukraine und die Rückgabe der besetzten Gebiete beinhalten. Wenn die ukrainische Führung etwas anderes will, ist das ihr gutes Recht. Aber der Westen sollte sich nicht dazu hinreißen lassen, Russlands Agenda zu akzeptieren.
Die Ausrichtung der westlichen Strategie auf die Bedürfnisse und Anliegen unserer Verbündeten an der Front ist längst überfällig. Drei Jahrzehnte lang haben die Entscheidungsträger in Washington DC, Brüssel, Berlin und anderswo viel zu viel Zeit damit verbracht, sich um Russland und die Russen zu sorgen, und viel zu wenig Zeit damit, an die Länder zu denken, die ihren riesigen Nachbarn am besten kennen und am meisten unter seinen Plünderungen gelitten haben. Die Ukrainer (und Tschetschenen, Georgier und andere) haben einen hohen Preis für das kolossale Versagen der westlichen Russland-Strategie seit 1991 bezahlt. Es war keine Demokratie, nicht einmal eine Scheindemokratie. Es war in Wirklichkeit ein Imperium.
Jetzt brauchen wir eine neue Strategie. Sie muss für viele Eventualitäten gerüstet sein. Dazu gehören:
- Ein quälend langsames Ende der Ära Putin – oder sein schneller Abgang.
- Ein scheinbar reibungsloser Machtwechsel – oder ein ungeordneter Übergang.
- Ein (wenn auch nur oberflächlicher) Wunsch nach Annäherung an den Westen – oder eine verstärkte Feindschaft.
- Zentrifugale Kräfte, die Russland auseinanderreißen – oder der Versuch, die zentrale Kontrolle mit Gewalt wiederherzustellen.
Ich kenne die Antworten nicht (obwohl ich an ihnen arbeite). Aber der Schlüssel sollte die Bescheidenheit hinsichtlich unserer Fähigkeit sein, die Entwicklungen in Russland vorherzusagen oder zu bestimmen – und die Entschiedenheit, unsere Verbündeten zu verteidigen.
Der Text ist im englischen Original beim Center for European Policy Analysis (CEPA) erschienen.
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