Zehn Gründe für eine entschiedenere Ukrainepolitik
Die Offensive der Ukraine steckt fest in einem Stellungskrieg. Der Westen kann jetzt nicht nachlassen: Kiew braucht mehr Waffen sowie eine klare Beitrittsperspektive für die EU und die Nato. Denn Putin muss den Krieg verlieren. Ein Gastbeitrag für den Spiegel von Ralf Fücks.
Die ukrainische Gegenoffensive ist in den russischen Befestigungsanlagen und Minenfeldern stecken geblieben. Der Ukrainefehlt es nicht an Kampfmoral, wohl aber an den militärischen Ressourcen für einen strategischen Erfolg: Minenräumer, Artilleriemunition, Kampfflugzeuge, Lenkraketen großer Reichweite und Kontrolle des elektronischen Kampffelds. Derweil wirft Russland neue Reserven an die Front und weitet die Rüstungsproduktion massiv aus. Putin setzt nach wie vor auf Sieg. Er spekuliert auf die Ermüdung des Westens und die Erschöpfung der Ukraine.
Dagegen bleibt der Westen – im Kern Washington und Berlin – weiterhin merkwürdig unentschlossen: keine klare Nato-Perspektive für die Ukraine, keine Lenkwaffen größerer Reichweite, kein hinreichender Nachschub an militärischem Gerät. Die EU hält ihre Zusagen zur Lieferung von Artilleriemunition wohl nicht ein. Entscheidungen über neue Waffensysteme werden über Monate hinausgezögert. Wenn endlich entschieden wird, reichen die Stückzahlen nicht aus, um das Kräfteverhältnis zugunsten der Ukraine zu verschieben.
»Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.«
Setzt man diese Puzzleteile zusammen, ergibt sich ein Muster. Entscheidende Akteure im Westen unterstützen die Ukraine so weit, dass sie sich unter hohen Verlusten gegen die russische Aggression behaupten kann. Aber sie werfen nicht alle Ressourcen in die Waagschale, damit sie die Oberhand gewinnt und die besetzten Territorien befreien kann. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Um es mit Kanzler Scholz zu sagen: Die Ukraine soll nicht verlieren, Russland nicht gewinnen. Das läuft auf einen blutigen Abnutzungskrieg hinaus, bis beide Parteien einsehen müssen, dass sie den Krieg nicht für sich entscheiden können. Was dann folgt, ist ein »frozen conflict« mit einer faktischen Teilung der Ukraine oder ein Verhandlungsfrieden, bei dem sie zu substanziellen territorialen und politischen Zugeständnissen gezwungen wird.
Hört man genauer hin, setzt der Kanzler darauf, dass Putin irgendwann »zur Einsicht kommt«. Macron spricht von einem neuerlichen Arrangement mit dem Kreml über die europäische Sicherheitsordnung. Zugleich fürchten Berlin und Washington, dass Putin die Schwelle zur nuklearen Eskalation überschreiten wird, wenn er vor einer militärischen Niederlage steht. Das gilt insbesondere für den Verlust der Krim. Dass die Ukraine Taurus-Lenkraketen nutzen könnte, um die Verbindungen zwischen der Krim und Russland zu zerstören, dürfte ein entscheidender Grund sein, sie nicht zu liefern. Dazu kommt die Sorge vor einer Destabilisierung Russlands im Gefolge einer Niederlage in der Ukraine. Für Putin wäre ein krachendes Scheitern seines Ukraine-Feldzugs vermutlich der Anfang vom Ende. Aber weder die Bundesregierung noch die US-Administration setzen auf ein Russland nach Putin.
Nicht zuletzt bestimmen innenpolitische, genauer: wahlpolitische Faktoren die zögerliche Haltung vieler westlicher Regierungen. Die Furcht vor einer militärischen Konfrontation mit Russland ist weitverbreitet; andere Krisen und Probleme schieben sich in den Vordergrund; die Unterstützung für die Ukraine erodiert mit der Dauer des Krieges; der Ruf nach einem »Verhandlungsfrieden« wird lauter. Während Putin aufs Ganze geht, scheuen Joe Biden wie Olaf Scholzdavor zurück, ihre politische Zukunft mit der Ukraine zu verknüpfen. Auch in dieser Hinsicht haben wir es mit einem asymmetrischen Krieg zu tun.
»Für Putin wäre ein krachendes Scheitern seines Ukraine-Feldzugs vermutlich der Anfang vom Ende.«
Spätestens im nächsten Frühjahr wird der Kampf um die Ukraine in eine entscheidende Phase treten. Dann wird sich zeigen, welches der drei Szenarien Wirklichkeit wird: eine neuerliche Offensive Russlands, eine erfolgreiche Gegenoffensive der Ukraine oder ein festgefahrener Stellungskrieg. Noch ist ein ukrainischer Erfolg möglich. Er setzt voraus, dass die demokratische Welt versteht, was auf dem Spiel steht.
Zehn Argumente für eine entschiedene Ukrainepolitik
Zehn Gründe sprechen für eine entschiedenere Politik des Westens:
- Ein Einfrieren des Krieges entlang der heutigen Frontlinie wäre für die Ukraine eine bittere Niederlage. Das gilt vor allem für den Verlust der Südostukraine mit den Häfen am Asowschen Meer. Mariupol hat hier eine besondere Bedeutung. Ein solches Ende eines aufopferungsvollen Krieges würde ein demoralisiertes Land hinterlassen. Ökonomisch wäre diese Rumpf-Ukraine kaum lebensfähig. Das Vertrauen in die freie Welt wäre weitgehend zerstört. Weitere Millionen Ukrainer und Ukrainerinnen würden sich auf den Weg nach Westen machen, weil sie keine Zukunft mehr in ihrem Land sehen.
- Auch international wäre ein solcher Etappensieg für Putin ein fatales Signal: Der Westen ist schwach. Er weicht vor der Androhung militärischer Eskalation zurück. Er steht nicht zu denen, die seine Werte teilen und zu ihm gehören wollen. Die Zerstückelung eines Nachbarlandes wird hingenommen, wir akzeptieren das Recht des Stärkeren. Welche Botschaft senden wir damit an China und Iran? Und das in einer Situation, in der die Gegner der liberalen Weltordnung überall Morgenluft wittern.
- Für den Zusammenhalt von EUund der Nato wäre ein »Kompromissfrieden«, der die Fundamente des Völkerrechts und der europäischen Friedensordnung unterspült, verheerend. Die Botschaft wäre: Wir können uns nicht aufeinander verlassen. Es wird gegenseitige Schuldzuweisungen geben, insbesondere in Mittel-Osteuropa wird das Misstrauen gegenüber Berlin weiter Nahrung bekommen. Das wird zentrifugale Tendenzen im westlichen Bündnis vertiefen – ein gefundenes Fressen für den Kreml und vor allem für China.
- Nicht zuletzt: Was bedeutet das Abtreten großer Territorien an Russland für die dortige Bevölkerung? Sie liefert weitere Millionen Menschen der nackten Willkürherrschaft und der Zwangs-Russifizierung aus, flankiert von massiver Verfolgung aller, die sich dem widersetzen. Das berührt den Kern unserer Glaubwürdigkeit als Anwälte von Demokratie und Menschenrechten.
- Neben den Folgen für die Ukraine erschreckt vor allem der Mangel an Selbstbewusstsein, der Unglaube an die eigene Stärke, wenn Washington und Berlin davon ausgehen, dass die Allianz Ukraine–Nato-EU diesen Krieg nicht gewinnen kann. Die russische Aggression entschieden zurückzuweisen – das erfordert andere Prioritäten in unserer Politik. Nicht »Blut, Schweiß und Tränen« – das gilt nur für die Ukraine. Aber doch die Bereitschaft, ein wenig unseres Wohlstands, unserer Finanzkraft, unseres industriellen Potenzials in die Waagschale zu werfen – im Interesse unserer eigenen Sicherheit und eines starken Europa.
- Der Ukraine eine klare Nato-Beitrittsperspektive zu verwehren, ist eine Ermutigung für Putin. Es spricht ihm ein Vetorecht über die Erweiterung des Bündnisses im postsowjetischen Raum zu. Es ist das Signal, dass wir auch künftig nicht bereit sind, eine Beistandspflicht für die Ukraine zu übernehmen. Wenn er sich stark genug fühlt, kann er einen neuen Anlauf unternehmen, die ganze Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Und weshalb nicht Georgienoder Moldau, die sich noch viel weniger wehren können?
- Den Nato-Beitritt in der Schwebe zu lassen ist die Botschaft an die Ukraine: Ihr kämpft für unsere Sicherheit, aber wir keinesfalls für eure. Und es ist ein Signal an Putin, dass er sein Ziel nicht abschreiben muss, die Ukraine wieder in den russischen Orbit zu zwingen. Selbst wenn die Ukraine am Ende territoriale Abstriche machen muss, ist der Nato-Beitritt für den freien Teil der Ukraine umso wichtiger. Wir sollten nicht vergessen, dass die BundesrepublikMitglied der Nato wurde, als Ostdeutschland von russischen Truppen besetzt war.
- Auch, wenn man Verhandlungen mit Putin-Russland für unabdingbar hält, haben wir anderes in die Waagschale zu werfen als die territoriale Amputation der Ukraine: in erster Linie die Sanktionen, die nach überwiegender Einschätzung Russland auf Dauer doch empfindlich treffen; breiter gefasst die Frage, unter welchen Bedingungen eine Wiederaufnahme wirtschaftlicher Zusammenarbeit möglich ist. Die modernen Segmente der russischen Gesellschaft, inklusive der Mehrheit der Oligarchen, wollen keinen endgültigen Bruch mit Europa.
- Dazu kommt die Frage von Entschädigungszahlungen für die Zerstörungen in der Ukraine. Wieso sollten wir von vorneherein signalisieren, dass Russland davon freigestellt wird? Ganz zu schweigen von der strafrechtlichen Verfolgung der russischen Kriegsverbrecher, und zwar bis in die Spitze der Machtpyramide. Wir haben sehr viel mehr Hebel zur Verfügung, um Druck auszuüben und den russischen Funktionseliten zu verdeutlichen, dass das jetzige Regime das Land gegen die Wand fährt.
- Zu guter Letzt: der Zeitfaktor. Unser chronisches Zögern gab Russland immer wieder Zeit, sich neu aufzustellen, die Sanktionen zu umgehen, seine Reserven aufzufüllen und Kraft für neue Vorstöße zu sammeln. Die Ukraine hat es viel Blut gekostet. In einem langwierigen Abnutzungskrieg liegen die Vorteile bei Russland, auch wegen der politischen Unwägbarkeiten aufseiten des Westens und der Probleme, die Unterstützung der Ukraine über Jahre hinweg aufrechtzuerhalten.
Daraus folgt: Wir müssen jetzt – in den kommenden Monaten – alles in die Waagschale werfen, um die Kräfteverhältnisse zugunsten der Ukraine zu wenden, die russische Kriegsfähigkeit zu dezimieren und die Ukraine in eine Position der Stärke für mögliche Verhandlungen zu bringen. Je weiter sie die russischen Truppen zurückwerfen kann, desto besser. Scheuen wir davor zurück, wird nicht nur die Ukraine einen hohen Preis bezahlen. Dass der Bundestag eine Verdoppelung unserer Militärhilfe beschlossen hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung.
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