Zehn Gründe für eine entschie­denere Ukrainepolitik

Foto: Anne Hufnagl

Die Offensive der Ukraine steckt fest in einem Stellungs­krieg. Der Westen kann jetzt nicht nachlassen: Kiew braucht mehr Waffen sowie eine klare Beitritts­per­spektive für die EU und die Nato. Denn Putin muss den Krieg verlieren. Ein Gastbeitrag für den Spiegel von Ralf Fücks.

Die ukrai­nische Gegen­of­fensive ist in den russi­schen Befes­ti­gungs­an­lagen und Minen­feldern stecken geblieben. Der Ukrainefehlt es nicht an Kampf­moral, wohl aber an den militä­ri­schen Ressourcen für einen strate­gi­schen Erfolg: Minen­räumer, Artil­le­rie­mu­nition, Kampf­flug­zeuge, Lenkra­keten großer Reich­weite und Kontrolle des elektro­ni­schen Kampf­felds. Derweil wirft Russland neue Reserven an die Front und weitet die Rüstungs­pro­duktion massiv aus. Putin setzt nach wie vor auf Sieg. Er speku­liert auf die Ermüdung des Westens und die Erschöpfung der Ukraine.

Dagegen bleibt der Westen – im Kern Washington und Berlin – weiterhin merkwürdig unent­schlossen: keine klare Nato-Perspektive für die Ukraine, keine Lenkwaffen größerer Reich­weite, kein hinrei­chender Nachschub an militä­ri­schem Gerät. Die EU hält ihre Zusagen zur Lieferung von Artil­le­rie­mu­nition  wohl nicht ein. Entschei­dungen über neue Waffen­systeme werden über Monate hinaus­ge­zögert. Wenn endlich entschieden wird, reichen die Stück­zahlen nicht aus, um das Kräfte­ver­hältnis zugunsten der Ukraine zu verschieben.

»Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig.«

Setzt man diese Puzzle­teile zusammen, ergibt sich ein Muster. Entschei­dende Akteure im Westen unter­stützen die Ukraine so weit, dass sie sich unter hohen Verlusten gegen die russische Aggression behaupten kann. Aber sie werfen nicht alle Ressourcen in die Waagschale, damit sie die Oberhand gewinnt und die besetzten Terri­torien befreien kann. Zum Sterben zu viel, zum Leben zu wenig. Um es mit Kanzler Scholz zu sagen: Die Ukraine soll nicht verlieren, Russland nicht gewinnen. Das läuft auf einen blutigen Abnut­zungs­krieg hinaus, bis beide Parteien einsehen müssen, dass sie den Krieg nicht für sich entscheiden können. Was dann folgt, ist ein »frozen conflict« mit einer fakti­schen Teilung der Ukraine oder ein Verhand­lungs­frieden, bei dem sie zu substan­zi­ellen terri­to­rialen und politi­schen Zugeständ­nissen gezwungen wird.

Hört man genauer hin, setzt der Kanzler darauf, dass Putin irgendwann »zur Einsicht kommt«. Macron spricht von einem neuer­lichen Arran­gement mit dem Kreml über die europäische Sicher­heits­ordnung. Zugleich fürchten Berlin und Washington, dass Putin die Schwelle zur nuklearen Eskalation überschreiten wird, wenn er vor einer militä­ri­schen Niederlage steht. Das gilt insbe­sondere für den Verlust der Krim. Dass die Ukraine Taurus-Lenkra­keten  nutzen könnte, um die Verbin­dungen zwischen der Krim und Russland zu zerstören, dürfte ein entschei­dender Grund sein, sie nicht zu liefern. Dazu kommt die Sorge vor einer Desta­bi­li­sierung Russlands im Gefolge einer Niederlage in der Ukraine. Für Putin wäre ein krachendes Scheitern seines Ukraine-Feldzugs vermutlich der Anfang vom Ende. Aber weder die Bundes­re­gierung noch die US-Adminis­tration setzen auf ein Russland nach Putin.

Nicht zuletzt bestimmen innen­po­li­tische, genauer: wahlpo­li­tische Faktoren die zöger­liche Haltung vieler westlicher Regie­rungen. Die Furcht vor einer militä­ri­schen Konfron­tation mit Russland ist weitver­breitet; andere Krisen und Probleme schieben sich in den Vorder­grund; die Unter­stützung für die Ukraine erodiert mit der Dauer des Krieges; der Ruf nach einem »Verhand­lungs­frieden« wird lauter. Während Putin aufs Ganze geht, scheuen Joe Biden wie Olaf Scholzdavor zurück, ihre politische Zukunft mit der Ukraine zu verknüpfen. Auch in dieser Hinsicht haben wir es mit einem asymme­tri­schen Krieg zu tun.

»Für Putin wäre ein krachendes Scheitern seines Ukraine-Feldzugs vermutlich der Anfang vom Ende.«

Spätestens im nächsten Frühjahr wird der Kampf um die Ukraine in eine entschei­dende Phase treten. Dann wird sich zeigen, welches der drei Szenarien Wirklichkeit wird: eine neuer­liche Offensive Russlands, eine erfolg­reiche Gegen­of­fensive der Ukraine oder ein festge­fah­rener Stellungs­krieg. Noch ist ein ukrai­ni­scher Erfolg möglich. Er setzt voraus, dass die demokra­tische Welt versteht, was auf dem Spiel steht.

Zehn Argumente für eine entschiedene Ukrainepolitik

Zehn Gründe sprechen für eine entschie­denere Politik des Westens:

  • Ein Einfrieren des Krieges entlang der heutigen Front­linie wäre für die Ukraine eine bittere Niederlage. Das gilt vor allem für den Verlust der Südost­ukraine mit den Häfen am Asowschen Meer. Mariupol hat hier eine besondere Bedeutung. Ein solches Ende eines aufop­fe­rungs­vollen Krieges würde ein demora­li­siertes Land hinter­lassen. Ökono­misch wäre diese Rumpf-Ukraine kaum lebens­fähig. Das Vertrauen in die freie Welt wäre weitgehend zerstört. Weitere Millionen Ukrainer und Ukrai­ne­rinnen würden sich auf den Weg nach Westen machen, weil sie keine Zukunft mehr in ihrem Land sehen.
  • Auch inter­na­tional wäre ein solcher Etappensieg für Putin ein fatales Signal: Der Westen ist schwach. Er weicht vor der Androhung militä­ri­scher Eskalation zurück. Er steht nicht zu denen, die seine Werte teilen und zu ihm gehören wollen. Die Zerstü­ckelung eines Nachbar­landes wird hinge­nommen, wir akzep­tieren das Recht des Stärkeren. Welche Botschaft senden wir damit an China und Iran? Und das in einer Situation, in der die Gegner der liberalen Weltordnung überall Morgenluft wittern.
  • Für den Zusam­menhalt von EUund der Nato wäre ein »Kompro­miss­frieden«, der die Funda­mente des Völker­rechts und der europäi­schen Friedens­ordnung unter­spült, verheerend. Die Botschaft wäre: Wir können uns nicht aufein­ander verlassen. Es wird gegen­seitige Schuld­zu­wei­sungen geben, insbe­sondere in Mittel-Osteuropa wird das Misstrauen gegenüber Berlin weiter Nahrung bekommen. Das wird zentri­fugale Tendenzen im westlichen Bündnis vertiefen – ein gefun­denes Fressen für den Kreml und vor allem für China.
  • Nicht zuletzt: Was bedeutet das Abtreten großer Terri­torien an Russland für die dortige Bevöl­kerung? Sie liefert weitere Millionen Menschen der nackten Willkür­herr­schaft und der Zwangs-Russi­fi­zierung aus, flankiert von massiver Verfolgung aller, die sich dem wider­setzen. Das berührt den Kern unserer Glaub­wür­digkeit als Anwälte von Demokratie und Menschenrechten.
  • Neben den Folgen für die Ukraine erschreckt vor allem der Mangel an Selbst­be­wusstsein, der Unglaube an die eigene Stärke, wenn Washington und Berlin davon ausgehen, dass die Allianz Ukraine–Nato-EU diesen Krieg nicht gewinnen kann. Die russische Aggression entschieden zurück­zu­weisen – das erfordert andere Priori­täten in unserer Politik. Nicht »Blut, Schweiß und Tränen« – das gilt nur für die Ukraine. Aber doch die Bereit­schaft, ein wenig unseres Wohlstands, unserer Finanz­kraft, unseres indus­tri­ellen Poten­zials in die Waagschale zu werfen – im Interesse unserer eigenen Sicherheit und eines starken Europa.
  • Der Ukraine eine klare Nato-Beitritts­per­spektive zu verwehren, ist eine Ermutigung für Putin. Es spricht ihm ein Vetorecht über die Erwei­terung des Bündnisses im postso­wje­ti­schen Raum zu. Es ist das Signal, dass wir auch künftig nicht bereit sind, eine Beistands­pflicht für die Ukraine zu übernehmen. Wenn er sich stark genug fühlt, kann er einen neuen Anlauf unter­nehmen, die ganze Ukraine unter seine Kontrolle zu bringen. Und weshalb nicht Georgienoder Moldau, die sich noch viel weniger wehren können?
  • Den Nato-Beitritt in der Schwebe zu lassen ist die Botschaft an die Ukraine: Ihr kämpft für unsere Sicherheit, aber wir keines­falls für eure. Und es ist ein Signal an Putin, dass er sein Ziel nicht abschreiben muss, die Ukraine wieder in den russi­schen Orbit zu zwingen. Selbst wenn die Ukraine am Ende terri­to­riale Abstriche machen muss, ist der Nato-Beitritt für den freien Teil der Ukraine umso wichtiger. Wir sollten nicht vergessen, dass die Bundes­re­publikMitglied der Nato wurde, als Ostdeutschland von russi­schen Truppen besetzt war.
  • Auch, wenn man Verhand­lungen mit Putin-Russland für unabdingbar hält, haben wir anderes in die Waagschale zu werfen als die terri­to­riale Amputation der Ukraine: in erster Linie die Sanktionen, die nach überwie­gender Einschätzung Russland auf Dauer doch empfindlich treffen; breiter gefasst die Frage, unter welchen Bedin­gungen eine Wieder­auf­nahme wirtschaft­licher Zusam­men­arbeit möglich ist. Die modernen Segmente der russi­schen Gesell­schaft, inklusive der Mehrheit der Oligarchen, wollen keinen endgül­tigen Bruch mit Europa.
  • Dazu kommt die Frage von Entschä­di­gungs­zah­lungen für die Zerstö­rungen in der Ukraine. Wieso sollten wir von vorne­herein signa­li­sieren, dass Russland davon freige­stellt wird? Ganz zu schweigen von der straf­recht­lichen Verfolgung der russi­schen Kriegs­ver­brecher, und zwar bis in die Spitze der Macht­py­ramide. Wir haben sehr viel mehr Hebel zur Verfügung, um Druck auszuüben und den russi­schen Funkti­ons­eliten zu verdeut­lichen, dass das jetzige Regime das Land gegen die Wand fährt.
  • Zu guter Letzt: der Zeitfaktor. Unser chroni­sches Zögern gab Russland immer wieder Zeit, sich neu aufzu­stellen, die Sanktionen zu umgehen, seine Reserven aufzu­füllen und Kraft für neue Vorstöße zu sammeln. Die Ukraine hat es viel Blut gekostet. In einem langwie­rigen Abnut­zungs­krieg liegen die Vorteile bei Russland, auch wegen der politi­schen Unwäg­bar­keiten aufseiten des Westens und der Probleme, die Unter­stützung der Ukraine über Jahre hinweg aufrechtzuerhalten.

Daraus folgt: Wir müssen jetzt – in den kommenden Monaten – alles in die Waagschale werfen, um die Kräfte­ver­hält­nisse zugunsten der Ukraine zu wenden, die russische Kriegs­fä­higkeit zu dezimieren und die Ukraine in eine Position der Stärke für mögliche Verhand­lungen zu bringen. Je weiter sie die russi­schen Truppen zurück­werfen kann, desto besser. Scheuen wir davor zurück, wird nicht nur die Ukraine einen hohen Preis bezahlen. Dass der Bundestag eine Verdop­pelung unserer Militär­hilfe beschlossen hat, ist ein Schritt in die richtige Richtung.

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