Die Proteste der Shang­haier gegen Chinas Corona-Regime sind aussichtslos

Foto: VCG /​ Imago Images

Der laute Wider­stand der Bewohner Shanghais gegen die scharfen Corona-Einschrän­kungen weckt Hoffnungen, das Regime in Peking könnte zu Reformen gezwungen werden. Doch diese Vorstellung ist naiv. Im Gegenteil: Chinas autori­tärer Macht­ausbau wird sich nur verstärken, kommen­tiert Christina zur Nedden.

Eltern, die unter Zwang von ihren Kindern getrennt werden. Haustiere, die zu Tode geprügelt werden. Quaran­tä­ne­zentren, in denen Menschen wie Vieh mit Nummern versehen und tagelang bei brennendem Licht auf ihre Freilassung warten. Über der ganzen Stadt Polizeidrohnen, die blechern zur Einhaltung der COVID-Maßnahmen aufrufen. Die Szenen aus Shanghai, wo seit über zwei Wochen 26 Millionen Menschen im Lockdown zu Hause ausharren und aufgrund von schlechter Versorgung zum Teil Hunger leiden sind pure Dystopie.

Doch die Bilder wecken auch Hoffnung: Die Bevöl­kerung wehrt sich, wie man es aus dem autori­tären China nicht kennt. Sie protes­tiert auf ihren Balkonen, ruft „Wir haben Hunger!“ und „Lasst uns frei!“. Das Internet ist voll mit Videos und Bildern der empörten Shang­haier, die sich über das katastro­phale Krisen­ma­nagement der Regierung beschweren. Der Zensur­ap­parat kommt mit dem Besei­tigen der kriti­schen Beiträge kaum hinterher.

Einige Kommen­ta­toren aus dem Westen speku­lieren schon über ein neues Zeitalter im Reich der Mitte: Könnten die Proteste in Shanghai die chine­sische Regierung dazu bewegen, auf ihre Bürger zu hören? Könnten sie einen Stein ins Rollen bringen und China endlich zu einem libera­leren Land machen? Das Gegenteil ist der Fall. Die rund 227.000 Infek­tionen in Chinas Finanz­zentrum seit Anfang März wirken im inter­na­tio­nalen Vergleich lächerlich – für Chinas Null-COVID-Politik sind sie eine Katastrophe. Xi Jinping, der im Herbst eine dritte, histo­rische Amtszeit gewinnen möchte, würde sein Gesicht verlieren, wenn er auch nur einen Zenti­meter von seinem harten Kurs abweichen würde. Obwohl die Proteste die größte Krise seiner Macht­über­nahme im Jahr 2012 bedeuten, wird er an der strengen Virus­po­litik festhalten. Zu oft wurde er in den staats­ei­genen Medien dafür gelobt, auch weil die Sterb­lich­keitsrate in China angeblich weitaus niedriger ist als im Westen. Dies dürfte nicht stimmen: Human Rights Watch berichtet von Menschen in Shanghai mit lebens­be­droh­lichen Krank­heiten, die medizi­nisch nicht versorgt werden und sterben. Sie tauchen in den offizi­ellen Statis­tiken nicht auf.

Die Proteste werden also nichts an dem autori­tären Macht­ausbaus Chinas ändern, sondern ihn noch verstärken. Die mutigen Menschen, die Xi kriti­sieren werden bestraft, es wird noch mehr Propa­ganda auf den Straßen, im Internet und im Fernsehen zu sehen sein, der Überwa­chungs­staat wird ausgebaut werden. Shanghai war vor der Pandemie eine für chine­sische Verhält­nisse offene Stadt mit einer kreativen Szene. Die Shang­haier haben den Ruf Kosmo­po­liten zu sein. Sie ähneln in ihrer Art den Kanto­nesen, von denen viele in Hongkong leben. Was dort in den letzten zwei Jahren passiert ist, dürfte sich in Shanghai wieder­holen, oder die Shang­haier werden bevor es dazukommen kann, unter­drückt und eingesperrt.

FEATURE: WIE SICH SHANGHAI GEGEN DEN LOCKDOWN WEHRT

Desas­tröse Zustände in Quaran­tä­ne­zentren, mangelnde Grund­ver­sorgung der Isolierten: In Shanghai leiden die Menschen massiv unter der No-Covid-Strategie – und wehren sich gegen die autori­tären Regeln. Der Staat lenkt teilweise ein. Aller­dings nicht, weil ihm das Wohl der Menschen am Herzen liegt.

Ein Mann filmt mit seinem Handy eine moderne Hochhaus-Siedlung bei Nacht. Man hört Menschen schreien, pfeifen und demons­trieren. Sie stehen an ihren Fenstern, auf den Balkonen und rufen „Wir verhungern!“ und „Lasst uns frei!“. Darüber kreisen Polizeidrohnen, die per Lautsprecher zur Einhaltung der COVID-Maßnahmen auffordern.

Es sind seltene Bilder aus einem Land, das offene Kritik an seiner Regierung nicht duldet.  Das Video stammt aus Shanghai, wo Millionen von Menschen seit über zwei Wochen in einem strengen Lockdown verweilen. Am Montag wurden die Maßnahmen in einigen Gemeinden gelockert, sodass sich Bewohner wenigstens in ihrem Wohnblock bewegen können. Die meisten Menschen harren weiterhin zu Hause aus, die Polizei hat die Türen zu ihren Gebäuden versiegelt. Viele von ihnen leiden aufgrund der mangelnden Versorgung an Hunger, anderen fehlt es an Medika­menten – in einer der modernsten Städte der Welt.

„Ich wache jeden Tag um sechs Uhr morgens auf und versuche mit zehn verschie­denen Liefer­service-Apps Gemüse, Obst, Reis oder Fleisch zu bestellen – vergeblich“ schreibt Jared Nelson auf Twitter. Der ameri­ka­nische Anwalt und seine Familie dürfen nur zum Testen ihre Wohnung verlassen. Einmal bestellt Nelson testweise Geburts­tags­torte, eine der wenigen Produkte, die online nicht ausver­kauft sind. „Sollen sie doch Kuchen essen? Was wir wirklich brauchen, sind verläss­liche Lebens­mit­tel­lie­fe­rungen für den Grund­bedarf“, schreibt Nelson auf Twitter.

Die mangelnde Essens­ver­sorgung treibt einige Menschen so sehr in die Verzweiflung, dass sie sich öffentlich über die Maßnahmen beschweren, obwohl man in China dafür festge­nommen werden kann. In einem Video, das mittler­weile von den Behörden gelöschten wurde, geht ein Mann auf einer menschen­leeren Straße auf und ab und brüllt in sein Handy: „Wenn der Super­markt zu ist, was soll ich essen? Was soll ich trinken? Ihr treibt Menschen in den Tod!“. Er habe nur Vorräte bis zum 5. April gehabt, der Tag, an dem der Lockdown eigentlich enden sollte, bevor er aufgrund der steigenden Infek­ti­ons­zahlen verlängert wurde. „Soll die kommu­nis­tische Partei mich doch abführen! Wo ist der Kommu­nismus?“, schreit er, während eine Nachbarin versucht ihn zu beruhigen.

Das Video kann von WELT nicht verifi­ziert werden, es ist jedoch Teil einer Flut von Aufnahmen im chine­si­schen und westlichen Internet, die allesamt die Empörung der 25 Millionen Shang­haier und die Härte, mit der die Regierung darauf reagiert, zeigen.

Die harten Maßnahmen scheinen noch nicht zu wirken. Am Dienstag wurden rund 22.000 Neuin­fek­tionen gemeldet. Seit dem 1. März meldete Chinas Finanz­zentrum etwa 227.000 lokal übertragene Infek­tionen, von denen 96 Prozent asympto­ma­tisch waren. Todes­fälle gäbe es keine. Human Rights Watch berichtet jedoch von Menschen mit lebens­be­droh­lichen Krank­heiten, die medizi­nisch nicht versorgt werden und sterben. Diese Menschen tauchen in den offizi­ellen Statis­tiken nicht auf.

Vergangene Woche wurden all 26 Millionen Bewohner Shanghais in sechs Runden getestet. Jeder positive COVID-Fall wird in einem Krankenhaus oder einem der neu errich­teten Quaran­tä­ne­zentren behandelt. Selbst Menschen, die asympto­ma­tisch sind, dürfen sich nicht zu Hause auskurieren.

Eine Studentin aus Shanghai veröf­fent­lichte auf der chine­si­schen Social-Media-Plattform „WeChat“ einen detail­lierten Bericht mit Fotos aus einer der Quarantäne-Hallen. „Wir sind nur ein Akten­zeichen“, schreibt sie darin. Tag und Nacht habe das Licht gebrannt, es habe keinerlei Absper­rungen zwischen den Betten, keine Privat­sphäre, keine sauberen Sanitär­an­lagen und keine richtige Behandlung für Menschen mit Symptomen gegeben. Dreizehn Tage habe sie dort verbracht. Ihr Bericht wird kurz nachdem er online geht, gelöscht, doch sie lädt ihn erneut mithilfe einer VPN-Verbindung auf Facebook hoch. Sie scheint sich nicht vor den Konse­quenzen ihrer offenen Kritik zu fürchten.

Wenn die Videos, die derzeit kursieren, besonders viel Empörung hervor­rufen, lenkt die Regierung in einigen Fällen ein. Berichte positiv getes­teten Kindern, die von ihren Eltern getrennt und in Kranken­häusern festge­halten wurden, sorgten für einen Aufschrei. Genauso wie die Bilder eines Gesund­heits­mit­ar­beiters, der einen Hund erschlägt, weil er ihn für COVID-positiv hält. Der Bürger­meister Shanghais versprach daraufhin, Kinder und Eltern nicht mehr trennen zu wollen und temporäre Tierheime einzurichten.

Auch die Wirtschaft leidet unter dem anhal­tenden Lockdown. In Shanghai werden rund vier Prozent des Brutto­in­lands­pro­dukts Chinas erwirt­schaftet. Trotzdem dürfte China an der strikten Null-COVID-Strategie, die seit Beginn der Pandemie keinen einzigen positiven Fall toleriert, auch in naher Zukunft festhalten. „Zero Covid war eine politische Entscheidung Xi Jinpings, daher wird er nicht zulassen, dass sie als gescheitert darge­stellt wird“, sagt Professor Steven Tsang. Er ist Direktor des China Institute der Londoner SOAS-Univer­sität. „Die COVID ‑Maßnahmen haben dazu geführt, dass der chine­sische Staat die Überwa­chung und Kontrolle seiner Bürger ausgebaut hat. Ist dies einmal geschehen, wird es nicht rückgängig gemacht“, sagt er WELT. Dass die Bevöl­kerung Shanghais nicht davor zurück­schreckt, offen Kritik zu äußern, habe auch histo­rische Gründe. „Die Shang­haier neigen eher zu Eigen­wil­ligkeit, genau wie die Kanto­nesen in Hongkong“, so Tsang. Die Frage sei, ob dies so bliebe, wenn der Staat die Menschen weiterhin unterdrückt.

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