Zwei Jahre Krieg in der Ukraine: „Der deutsche Mittelweg ist gescheitert“

In den medien, Marie, Ralf, Beck, Fücks
Foto: Julia Baier

Die Ukraine droht zu kolla­bieren, wenn der Westen bei seiner zöger­lichen Unter­stützung bleibt. Dabei ist das auch unser Krieg, ob wir es wollen oder nicht. Was folgt daraus? Ralf Fücks und Marie­luise Beck im Gastbeitrag für den SPIEGEL.

Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine histo­rische Zäsur. Sie kam nicht aus heiterem Himmel. Es gab genug Warnzeichen, spätestens seit der russi­schen Militär­in­ter­vention in Georgien im Jahr 2008. Die deutsche Politik hat sie geflis­sentlich ignoriert. Die sicher­heits­po­li­ti­schen, finan­zi­ellen, energie­po­li­ti­schen Konse­quenzen waren zu unbequem. Man hielt lieber an einem Weltbild fest, in dem es keine bedroh­lichen Gegner mehr gab und keine Konflikte, die nicht mit Diplo­matie und Geld zu befrieden sind.

Als Olaf Scholz am 27. Februar 2022 an das Rednerpult des Bundestags trat, wehte ein neuer Ton, ein neuer Ernst, eine neue Entschlos­senheit durch den Raum. Was auf die Rede des Kanzlers folgte, hielt aller­dings nicht, was sie versprach. Die Zeiten­wende blieb auf halbem Wege stecken. Putin wittert Morgenluft, der Ukraine geht die Munition aus. Immerhin: Aus dem Kanzleramt dringen neue Signale. Während das Karne­valsvolk Rosen­montag feierte, ließ sich Olaf Scholz bei der Grund­stein­legung für eine neue Muniti­ons­fabrik vor einer Artil­le­rie­granate ablichten. Unüber­hörbar sind auch die Appelle an andere europäische Staaten, mehr für die Ukraine zu tun.

Man spürt die Sorge, die westliche Unter­stützung könnte so stark erodieren, dass die Ukraine kolla­biert. Scholz warnt zu Recht vor den fatalen Folgen einer ukrai­ni­schen Niederlage. Der sprin­gende Punkt ist aber, dass unsere Politik dazu beigetragen hat, dass die Ukraine heute in einer so kriti­schen Lage ist.

Mit jedem Tag deutlicher, dass die Ukraine entweder gewinnen oder verlieren wird.

Die Linie des Kanzlers zielt darauf ab, die Ukraine so weit zu unter­stützen, dass sie der russi­schen Aggression einiger­maßen stand­halten kann. Das ist der kaum verhüllte Sinn des Mantras „Die Ukraine darf nicht verlieren, Russland nicht gewinnen“. Am Ende sollen Kiew wie Moskau einsehen, dass sie den Krieg nicht gewinnen können. Dann schlägt die Stunde für Verhand­lungen, bei denen der Status der Krim und der anderen russisch besetzten Gebiete ebenso zur Dispo­sition steht wie die Nato-Mitglied­schaft der Ukraine.

Diese Politik des Mittelwegs ist gescheitert. Sie hat verhindert, dass die Ukraine das Momentum vom Herbst 2022 nutzen konnte und Russland ermög­licht, wieder zur Offensive überzu­gehen. Sie hat versäumt, recht­zeitig die Weichen für den konti­nu­ier­lichen Nachschub an Waffen und Munition für die Ukraine zu stellen. Und sie geht nach wie vor von einer Fehlein­schätzung der Motive und Ziele des Putin-Regimes aus in der Hoffnung, den Kreml durch Zugeständ­nisse befrieden zu können.

„Wir lähmen uns selbst, indem wir uns den Kopf über Putins „rote Linien“ zerbrechen“

Dabei wird mit jedem Tag deutlicher, dass die Ukraine den Krieg entweder gewinnen oder verlieren wird. Und sie wird ihn gewinnen, wenn der Westen sein ökono­mi­sches und militä­ri­sches Gewicht in die Waagschale wirft. Notfalls muss Europa diese Aufgabe allein schultern. Angesichts der Ungewissheit über die künftige ameri­ka­nische Politik braucht es umso dringender eine europäische „Koalition der Willigen“ unter Einschluss von Großbri­tannien. Statt unsere Politik von Washington abhängig zu machen, sollten wir mit Paris und Warschau ein europäi­sches Gravi­ta­ti­ons­zentrum bilden.

Der ukrai­nische Rückzug aus Awdijiwka hat wie in einem Brennglas gezeigt, was ihr für eine erfolg­reiche Vertei­digung fehlt: Artil­le­rie­mu­nition, eine hinrei­chende Flugabwehr, Kampf­flug­zeuge zur Unter­stützung der Boden­truppen sowie genügend Lenkwaffen großer Reich­weite, um Stütz­punkte, Flughäfen, Muniti­ons­depots und Trans­portwege der russi­schen Armee hinter der Front zu zerstören.

Das Beispiel „Taurus“ zeigt wie unter einem Brennglas die Selbst­fes­selung unserer Politik. Die Argumente, die öffentlich vorge­bracht werden, sind bloße Spiegel­fech­terei. Kein Waffen­system ist allein kriegs­ent­scheidend. Aber Marsch­flug­körper großer Reich­weite und Durch­schlags­kraft sind eine mächtige Waffe. Die Ukraine könnte damit die Brücke von Kertsch zerstören, über die ein Großteil des russi­schen Nachschubs in die Südukraine läuft, und sie könnte strate­gische Ziele weit hinter der Front angreifen. Im Kanzleramt hält man das für zu riskant. Wir lähmen uns selbst, indem wir uns den Kopf über Putins „rote Linien“zerbrechen, statt ihm mit maximaler Stärke entgegenzutreten.

Die deutschen Verbrechen in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs sind nicht vergessen

Gemessen an der Politik und Menta­lität der Merkel-Jahre hat sich die Bundes­re­gierung weit bewegt. Aber gemessen an den Erfor­der­nissen des Krieges sind wir immer noch im Modus Too little, too late. Da hilft es auch nicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen. Deutschland ist die zweit­größte Volks­wirt­schaft im westlichen Bündnis; in Relation zu unserer Wirtschafts­kraft liegen wir nur im europäi­schen Mittelfeld bei der Unter­stützung der Ukraine. Dabei gibt es gute Gründe, mehr zu tun als andere.

„Aufge­wacht ist die deutsche Politik erst, als die russi­schen Panzer schon kurz vor Kiew standen“

Wir haben gegenüber dieser gebeu­telten Nation einiges gut zu machen. Die deutschen Verbrechen in der Ukraine während des Zweiten Weltkriegs sind nicht vergessen. Aber auch unsere Politik in der Zeit vor dem Februar 2022 war kein Ruhmes­blatt, von den Nord-Stream-Pipelines bis zur hartnä­ckigen Weigerung, der Ukraine Waffen zu liefern und ihr eine verbind­liche EU- und Nato-Perspektive zu geben. Wir haben die Ukraine schlicht im Regen stehen lassen.

Aufge­wacht ist die deutsche Politik erst, als die russi­schen Panzer schon kurz vor Kiew standen. Und auch dann haben wir die Waffen­hilfe für die Ukraine immer unter der Schwelle gehalten, die Putin womöglich als Kriegs­er­klärung verstehen könnte. Diese Schwelle hat sich nach und nach verschoben. Aber immer ging es darum, „Putin nicht zu provozieren“.

„Unsere Sicherheit wird am Dnjepr verteidigt. Das auszu­sprechen bedeutet nicht, deutsche Truppen an die Front zu schicken.“

Dabei hat der Allein­herr­scher im Kreml der Nato längst den Krieg erklärt. Für ihn ist der Krieg gegen die Ukraine zugleich ein Krieg gegen den „kollek­tiven Westen“. Unsere Zurück­haltung hat ihn nicht daran gehindert, die ukrai­ni­schen Städte zu bombar­dieren und die Infra­struktur zu zerstören. Statt auf Abschre­ckung zu setzen, lässt unsere Furcht vor Eskalation Putin freie Hand, den Krieg nach Belieben zu eskalieren.

Auch wenn der Kanzler gelegentlich vom „russi­schen Neoim­pe­ria­lismus“ spricht, ist unsere Politik immer noch von Verdrängung geprägt. Die Hoffnung, Putin möge doch „zur Einsicht kommen“, ist auf Sand gebaut. Sie verkennt seinen Vernich­tungs­willen gegenüber der Ukraine als eigen­ständige Nation. Und sie nimmt nicht ernst, dass die Motive des Kreml weit über die Ukraine hinaus­reichen. Putin geht es nicht nur um das Einsammeln „russi­scher Erde“. Er will die liberale inter­na­tionale Ordnung umstoßen, die er mit der Hegemonie des Westens gleich­setzt. Sein strate­gi­sches Ziel bleibt die Neuauf­teilung Europas mit Russland als dominie­render Macht und die Entkernung der trans­at­lan­ti­schen Allianz. Wenn Putin in der Ukraine durch­kommt, kommt er auch diesen Zielen näher.

Daraus folgt: Das ist auch unser Krieg, ob wir es wollen oder nicht. Unsere Sicherheit wird am Dnjepr verteidigt. Das auszu­sprechen bedeutet nicht, deutsche Truppen an die Front zu schicken. Aber es bedeutet, dass wir die Komfortzone verlassen und endlich so handeln müssen, wie es ein Krieg erfordert: Hochfahren der Rüstungs­pro­duktion, Anzapfen unserer Reserven an Waffen und Munition zugunsten der Ukraine, Kappen der Wirtschafts­be­zie­hungen mit Russland, Konfis­kation der Guthaben der russi­schen Staatsbank bei westlichen Finanz­in­sti­tuten zur Deckung der Kosten für Krieg und Wieder­aufbau. Auch die Schul­den­bremse kann kein Tabu sein, wenn es darum geht, kriegs­be­dingte Mehraus­gaben zu finan­zieren. Kein Staat hat je einen Krieg aus dem laufenden Steuer­auf­kommen beglichen.

Die jüngst verein­barte Sicher­heits­part­ner­schaft mit der Ukraine ist nur ein Placebo, wenn wir nicht jetzt alles tun, damit der russische Angriff zurück­ge­schlagen wird. Sie ist definitiv kein Ersatz für eine künftige Nato-Mitglied­schaft. Außerhalb des trans­at­lan­ti­schen Bündnisses gibt es keine belastbare Sicherheit für die Ukraine. Umgekehrt gilt: Ohne die Ukraine als Eckpfeiler gibt es keine Stabi­lität an der Südost­flanke der Nato.

Was folgt aus daraus?

  • Wir alle müssen alles tun, um die Ukraine zu befähigen, den Krieg zu gewinnen und die besetzten Terri­torien zu befreien.
  • Wir sollten einen Regime­wechsel in Moskau nicht fürchten, sondern fördern. Die Nicht-Anerkennung der Fake-Präsi­dent­schafts­wahlen im März wäre ein klares Signal, dass Putin kein Partner des Westens mehr sein kann.
  • Wir müssen die Schlupf­löcher des Sankti­ons­re­gimes schließen und die einge­fro­renen Guthaben der russi­schen Zentralbank der Ukraine zur Verfügung stellen.
  • Schließlich sollten wir keine Zweifel lassen, dass sich die russische Führung für den Angriffs­krieg und die fortge­setzten Kriegs­ver­brechen in der Ukraine verant­worten muss.

Die Ukraine ist der Lackmustest für den Selbst­be­haup­tungs­willen der liberalen Demokratien. Versagen wir, brechen nicht nur für die Ukraine dunkle Zeiten an.

Der Text erschien am 24.02.24 bei SPIEGEL Online

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