Zwischen Angst und Alltag – eine israe­lische Mutter im Krieg

Der Gaza-Krieg hinter­lässt tiefe Spuren in der israe­li­schen Gesell­schaft: Fast jede Familie hat einen Angehö­rigen im Einsatz, viele trauern um Gefallene, alle leben in ständiger Sorge. Für die Soldaten bedeutet der Krieg schwere seelische Belas­tungen – und dennoch müssen sie immer wieder kämpfen. Richard C. Schneider berichtet über das Leben einer Mutter, deren Sohn im Gaza-Krieg dient.

Über das Leid der Paläs­ti­nenser in diesem schreck­lichen Gaza-Krieg wird beinahe täglich geschrieben und berichtet. Ebenso über die Äußerungen und Entschei­dungen der israe­li­schen Regierung rund um Premier Benjamin Netanyahu. Was inzwi­schen beinahe aus dem Blickfeld der auslän­di­schen Öffent­lichkeit gerutscht ist: Die Stimmungslage in der israe­li­schen Gesellschaft.

Kriegs­folgen: Körper­liche und seelische Verwun­dungen, Jobverlust, Verzweiflung

Immer mehr israe­lische Soldaten kommen aus dem Krieg mit schwersten PTBS (Posttrau­ma­tische Belas­tungs­stö­rungen) zurück, mehr als 10.000 sind verletzt oder gar schwer­ver­letzt, Familien stehen die Belas­tungen kaum noch durch, Reser­ve­sol­daten, die im Schnitt zwischen 200 bis 400 Tagen im Krieg waren, verlieren ihre Jobs. 46 Prozent der sogenannten Klein­ge­schäfte sind seit Kriegs­beginn pleite gegangen.

Hinzu kommt die totale Frustration mit der Politik der Regierung: Mehr als 70 Prozent der Israelis sagen konstant in Umfragen aus, dass sie den Krieg sofort beenden möchten, die Rettung der noch verblie­benen 58 Geiseln in den Händen der Hamas sei wichtiger als die Hamas „völlig zu besiegen“, wie Netanyahu immer wieder ankündigt. An letzteres glaubt sowieso kaum noch jemand. Und mehr als 58 Prozent sind überzeugt, auch das sagen Umfragen, dass Netanyahu den Krieg nur noch aus politisch-persön­lichen Motiven fortführt, kurz: Die Israelis sind verzweifelt, depressiv, krank und ohne Hoffnung für sich und ihr Land.

Um zu verstehen, was das tatsächlich bedeutet, möchte ich von einer Mutter erzählen, deren Sohn dieser Tage erneut als Reservist einge­zogen wurde und nun „im Süden“ Dienst machen muss. Es ist eine euphe­mis­tische Umschreibung für einen möglichen Kampf­einsatz in Gaza, die ausblendet, um was es dabei wirklich geht. Die Mutter, aus Rücksicht auf ihre Anony­mität nenne ich sie Varda, weiß nicht wie sie mit diesem erneuten Einsatz ihres Sohnes Doron (auch dieser Name ist nicht der richtige) umgehen soll. Bereits im Oktober 2023 war er einge­zogen worden, unmit­telbar nach dem grausamen Massaker der Hamas am 7. Oktober. Mit kurzen Unter­bre­chungen war er bis Februar 2024 in Gaza – er war also fast fünf Monate im Einsatz. Was genau er dort machen musste, wie sehr er im Kampf­ge­schehen direkt einge­bunden war – seine Mutter weiß es nicht. Und er selbst kann und darf darüber nicht sprechen. Doron wollte so schnell wie möglich wieder aus dem Krieg nach Hause kommen, kurz vor dem Überfall der Hamas am 7. Oktober war er damit beschäftigt gewesen, seine Hochzeit für den Februar 2024 vorzubereiten.

Schweigen über die Realität des Krieges: „Alles easy, Mama!“

Mit seiner Einheit wurde er im Februar tatsächlich vorzeitig entlassen, um heiraten zu können. Seine Frau, nennen wir sie Chava, war seit Kriegs­beginn ebenfalls im Dauer­einsatz. Nicht als Soldatin, aber im Rahmen einer anderen Sicher­heits­or­ga­ni­sation. Zwei junge Menschen, noch keine dreißig Jahre alt, die diesen Krieg nicht wollten, die verliebt waren und einfach nur ihre Liebe mit dem Ehever­sprechen feiern und ihr Leben führen wollten. Und plötzlich sind sie mittendrin in einen Kampf auf Leben und Tod, im Dauer­stress, physisch und psychisch zugleich. Doron durfte über eine WhatsApp Gruppe, die die Armee genehmigt hatte, seiner Familie ab und zu Fotos schicken: Er und seine Kameraden in Armee­zelten, unrasiert, verschwitzt, aber lachend. Wo genau sie waren, war auf den Fotos – natürlich – nicht zu erkennen. Und wenn er seine „Ima“ (Mama auf Hebräisch) anrief, lachte er nur und erzählte ihr, dass alles ganz easy sei: Sie brauche sich keine Sorgen zu machen, er sei nicht in Gefahr, alles gut… Varda spielte dieses Spiel mit. Sie wusste, dass er sowieso nicht sagen dürfte, geschweige denn sagen wollte, wie die Lage wirklich ist. Sie musste auch nicht fragen, sie hörte die Anspannung in der Stimme ihres Sohnes. Und nach jedem Anruf fragte sie sich, ob es bald wieder einen Anruf geben wird, oder ob...

Hochzeits­feier – die Maschi­nen­pistole immer in Reichweite

Sie und ihre zukünftige Schwie­ger­tochter berei­teten unter­dessen die Hochzeits­feier weiter vor, das Datum stand fest, der Vorge­setzte von Doron hatte sein Versprechen gehalten: Die Hochzeit konnte statt­finden. Die Armee­uniform hatte Doron natürlich für einen Anzug einge­tauscht, ebenso seine Kameraden aus dem Platoon. Sie waren selbst­ver­ständlich zur Feier einge­laden. Sie waren in Zivil­kleidung, aber alle hatten zugleich ihre Waffen bei sich: Das war Pflicht, die Lage auch innerhalb Israels war zu volatil. Fotos von Doron beim Tanzen mit seiner frisch angetrauten Frau zeigen ihn glücklich, mit einer Pistole am Gürtel, eine Maschi­nen­pistole ebenfalls gleich in der Nähe, griff­bereit. Israe­li­scher Alltag im Krieg.

Und danach? Doron versuchte, ins normale Leben zurück­zu­kehren, doch er musste eine Therapie beginnen. Er litt an schwerstem PTBS und sprach nicht über seine Erleb­nisse. „HaKol Tov“, alles gut, rief er immerzu. Doch Varda und Chava und alle anderen in seinem Umfeld wussten natürlich: Nichts war gut. Unter­dessen tobte der Krieg immer weiter.

Varda konnte zumindest für einige Zeit etwas ruhiger sein, einen frisch­ge­ba­ckenen Ehemann ruft die Armee nicht so schnell wieder zurück zum Dienst, außerdem ging es Doron psychisch wirklich schlecht. Sehr schlecht. Irgendwann aber wollte die Armee ihn doch. Da schrieb seine Thera­peutin ein Attest, dass er einfach nicht einsatz­fähig sei. Er wurde zurück­ge­stellt. Erst einmal. Glück gehabt.

Erneuter Kriegs­einsatz trotz schweren PTBS

Doch im März dieses Jahres kam dann doch der Aufruf zum erneuten Reser­ve­dienst ab Ende Mai. Es gab keine Möglichkeit mehr, sich dem zu entziehen. Reser­ve­dienst für zwei Monate, „nur“ zwei Monate. Nun ist er wieder irgendwo „im Süden“. Wider besseren Wissens fragt sich seine Mutter: Ist er nur an der Grenze, um die Kibbutzim dort zu beschützen? Ist er doch wieder mittendrin in Gaza? Muss er dort lediglich Wache schieben oder ist er im Kampf­einsatz an vorderster Front? Varda weiß es nicht, aber sie ahnt es. Sie schreibt mir:

„Ich weiß nicht, wie ich mit dieser Situation jetzt umgehen soll. Ich versuche, meinen Alltag zu leben, nicht zu verzweifeln, ich reiße mich zusammen, stehe jeden Morgen auf, führe den Hund spazieren, trinke Kaffee und beginne meine Arbeit.“ Dorons Frau macht dasselbe. Sie geht zur Arbeit, versieht ihren Dienst. Was kann man auch schon anderes tun als einfach weiter­machen? Das Leben geht weiter für sie. Hoffentlich auch für Doron und alle anderen.

Zusam­men­zucken bei jedem Telefonanruf

Die Geschichten über paläs­ti­nen­sische Mütter, die Angst um ihre Kinder haben – man liest sie überall. Die Geschichten über israe­lische Mütter, die Angst um ihre Söhne haben – man liest sie kaum noch. Varda betet und hofft. Und wartet, dass die nächsten zwei Monate schnell vorbei­gehen. Damit sie Doron endlich wieder in ihre Arme schließen kann. Bis dahin wird sie kaum schlafen, wird ständig in Anspannung sein, bei jedem Telefon­anruf zusam­men­zucken. Und warten, dass sich Doron bei ihr meldet.

Inzwi­schen will Premier Netanyahu den Krieg ohne Unter­bre­chung fortsetzen. Inzwi­schen will die Hamas den Krieg ohne Unter­bre­chung fortsetzen. Paläs­ti­nenser und Israelis kommen nicht zur Ruhe. Niemand kommt zur Ruhe. Der Krieg hat sie alle in seiner Gewalt.

Textende

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