2024: Das polnische Jahr?
Auch nach dem Regierungswechsel in Warschau wird die Kulturpolitik der PiS nachwirken, Schlüsselpositionen sind auf Jahre hinaus besetzt. Deutschland muss sich auf veränderte Realitäten in deutsch-polnischen Kooperationen einstellen – und neue Akzente in der Erinnerungskultur setzen.
Nach der Vereidigung von Donald Tusk als Premierminister stimmten die Abgeordneten der Regierungsmehrheit im polnischen Parlament die Hymne an: „Noch ist Polen ist nicht verloren.“ Die oppositionellen Fraktionen von PiS und Konfederacja mussten sich als Patrioten von ihren Sitzen erheben und vier Strophen mitsingen. Nach dem offiziellen Ende der Sitzung ging der Unterlegene Jarosław Kaczyński zum Rednerpult und sagte zu Donald Tusk: „Ich weiß nicht, wer ihre Großeltern waren. Aber ich weiß genau, dass Sie ein deutscher Agent sind.“
In dieser Sequenz fallen Aufbruch und Bruch zusammen, denn der Wahlsieg vom 15. Oktober öffnete ein Fenster der Möglichkeiten, auf das die eine Hälfte Polens gewartet hatte. Der jetzt anstehende Regierungswechsel ist für viele in Europa ein Zeichen der Zuversicht, dass Polen trotz Umbau des Rechtsystems, Schwächung der Gewaltenteilung und Dauerhassrede im staatlichen Fernsehen eine Demokratie bleibt. Der verschwörungstheoretische I‑Tupfer am Ende eines Tages deutet darauf hin, mit welcher Härte die innenpolitischen Auseinandersetzungen weitergeführt werden – und dass Deutschland dabei auch in Zukunft eine zentrale Rolle als Projektionsfläche spielen wird.
Neuanfang in den deutsch-polnischen Kulturbeziehungen?
Nach der Neubesetzung der Ministerien scheint Ende 2023 auch in den deutsch-polnischen Kulturbeziehungen ein Neuanfang möglich. Dabei werden die Auswirkungen von acht Jahren Kulturpolitik unter der Ägide der PiS nicht innerhalb weniger Wochen enden. Die wichtigsten Kulturinstitutionen auf nationaler Ebene wurden auf Jahre im Voraus mit ideologischen Weggefährten besetzt. In der Warschauer Kunstgalerie Zachęta wurde erst 2022 der PiS-nahe Maler Janusz Janowski als Direktor gewählt. Das Institut für Nationales Gedenken erhielt mit dem vormaligen Direktor des Museums des Zweiten Weltkriegs, Karol Nawrocki, erst im Juli 2021 einen neuen Präsidenten, der noch weit über zwei Jahre Amtszeit vor sich hat. Und das 2017 neu gegründete Pilecki Institut, das in seiner wichtigen Filiale am Berliner Platz gerade eine neue Dauerausstellung eingeweiht hat, ist noch bis Anfang 2026 unter der Leitung der Ideengeberin Magdalena Gawin.
Unbequemes Erbe der PiS-Regierung
Wenn die neue, demokratisch gewählte Regierung in Warschau nicht den Weg der Partei von Jarosław Kaczyński einschlagen will, bleiben diese Personalien als Ergebnisse öffentlicher Ausschreibungen unangefochten. Es bleibt in diesen Fällen den neuen Entscheidern in Warschau allein die Option, das Budget einzelner Institutionen zu kürzen. Die wenigen Experten für das Deutschland der Gegenwart werden auf polnischer Seite auch unter einem Premierminister Donald Tusk weiterhin unbequeme Positionen einnehmen. Zudem können institutionelle Änderungen, für die ein Gesetz notwendig ist, bis 2025 durch das Veto des Präsidenten Andrzej Duda verhindert werden. Sein politisches Rückgrat wird auch nach der Wahl einer neuen Regierung brüchig bleiben, sodass der Handlungsspielraum der neuen Regierung sehr gering sein wird.
Neue Realitäten für deutsch-polnische Kooperationen
Das heißt für diejenigen in der Bundesrepublik, denen an einer Kooperation mit polnischen Partnern gelegen ist, dass sie sich trotz des Aufatmens über den Regierungswechsel in Warschau auf eine veränderte Realität einstellen müssen. Es gibt in ganz Polen ein neues Geflecht an kulturellen, geschichtspolitischen und wissenschaftlichen Institutionen, die polnische Perspektiven auf die Gegenwart Europas klarer, effizienter und symmetrischer formulieren werden als vor 2015. Und es gibt neue Akteure, die – auch nach der Abwahl der PiS und ihrem nationalistischen Kurs – 2024 selbstbewusster und fordernder auftreten werden. Zu diesen gehört etwa das Berliner Büro des Warschauer Thinktanks PISM, das im Oktober eine Studie vorgestellt hatte, die zeigte, dass für viele Deutsche Polen unmittelbar an der Tankstelle an der Oder endet und, dass das Wissen in der deutschen Gesellschaft über die während des Zweiten Weltkriegs in Polen verübten Verbrechen sehr gering ist.
Gemeinsame Agenda für die Zukunft Europas
Eine Möglichkeit, den Warschauer Aufbruch von Berlin aus zu unterstützten, besteht darin, an der Spree die eigenen Hausaufgaben im Bezug auf Polen zu erledigen. Zu diesen gehört die Entscheidung, wie 2024 eine Vielzahl historischer Daten zu einer Agenda für die Zukunft Europas verknüpft werden können. So steht bereits im März der 25. Jahrestag der NATO-Erweiterung an, die neben Ungarn und Tschechien auch Polen umfasste und am 1. Mai jährt sich die EU-Osterweiterung zum zwanzigsten Mal. Beide Daten sind wichtige Bezugspunkte für das gesamteuropäische Ringen um eine zukünftige Integration der Ukraine, denn vor dem Beitritt Polens gab es ähnliche Vorbehalte wie im Fall der Ukraine.
Für die Erzählung von Europa als Kontinent demokratischer Selbstbestimmung ist im Vorfeld der nächsten Europawahlen die erinnerungspolitische Verknüpfung der ersten freien Parlamentswahlen östlich des Eisernen Vorhangs am 4. Juni 1989 und des Mauerfall am 9. November desselben Jahres zentral. Neben diesen positiv besetzten Daten stehen 2024 aber auch der 85. Jahrestag des Hitler-Stalin-Paktes sowie des Beginns des deutschen Vernichtungskriegs gegen Polen an. Es ist fatal, dass die Landtagswahlen in Sachsen just am 1. September abgehalten werden und die Möglichkeit im Raum steht, dass die AfD am Jahrestag des Überfalls stärkste politische Kraft in einem Bundesland wird, das an Polen grenzt.
Neue Akzente in der deutschen Erinnerungskultur
Wer trotz dieser symbolischen Unachtsamkeit von Deutschland aus ein deutliches Zeichen nach Warschau senden will, kann schon jetzt andere Akzente planen. Der Bundestag sollte trotz anstehender Kürzungen die Mittel für das Polen-Denkmal im Zentrum Berlins bewilligen. Gemeinden können überall im Land aus eigener Kraft und ohne großen finanziellen Aufwand die Geschichte der Gräberfelder aus der Zeit des Nationalsozialismus auf ihren Friedhöfen beleuchten und erforschen, ob dort neben russischen Soldaten, auch ukrainische, belarusische, kasachische oder usbekische Angehörige der Roten Armee als Kriegsgefangene beigesetzt wurden. Denn oft befindet sich neben dem „Russenfriedhof“ auch ein Gräberfeld mit den sterblichen Überresten von Zwangsarbeitern, die aus Polen und der besetzten Sowjetunion verschleppt wurden und im Deutschen Reich infolge der Sklavenarbeit ums Leben kamen. Das zentrale Denkmalprojekt in Berlin könnte durch dezentrale Stelen der Erinnerung an diese weitgehend unsichtbare Opfergruppe ergänzt werden.
Der neue polnische Außenminister Radosław Sikorski wird die anstehende europapolitische Charmeoffensive nicht mit erneuerten Reparationsforderungen flankieren. Das entbindet die deutsche Seite aber nicht von der Aufgabe zu beantworten, wie 2024 an die umfassende physische Zerstörung der polnischen Hauptstadt und den Tod von 200.000 Menschen bei der Niederschlagung des Aufstandes im August und September 1944 erinnert werden soll. Angehörige von Wehrmacht und SS zerstörten an der Weichsel Haus für Haus und setzten gezielt Bestände der Nationalbibliothek und des Staatsarchivs in Brand. Im Warschauer Krasiński Palais erinnert daran eine gläserne Urne mit der Asche zerstörter Handschriften. Sie ist ein starkes Symbol für den Versuch, eine europäische Hauptstadt und das physische Gedächtnis einer Gesellschaft zu zerstören. Ein solches Zeichen muss es 2024 auch in Berlin geben.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.