Wer rasselt mit dem Säbel?

Foto: kremlin.ru/Wikimedia: Zapad 2013, CC BY 4.0

Zapad 2017 und die prekäre Sicher­heitslage im Osten Europas

Vorbe­merkung

Wer würde nicht liebend gern dem Krieg ein für allemal eine Absage erteilen und den Rüstungs­haushalt auf Null fahren? Die folgende Analyse des Militär­ex­perten Gustav Gressel negiert nicht den Wunsch nach Frieden. Sie stellt aller­dings die Vorstellung in Frage, dass der Frieden in Europa gesichert wird, wenn nur die NATO radikal abrüstet.  Gressel analy­siert die Logik hinter den jüngsten russi­schen Großma­növern an der Ostflanke der NATO, und seine Schluss­fol­ge­rungen sind beunru­higend: Russland demons­triert seine Fähigkeit, innerhalb kurzer Frist die balti­schen Staaten und Polen zu überrollen. Ob dieses Szenario ernsthaft erwogen wird, wissen wir nicht. Es dient aber so oder so zur Einschüch­terung der Länder in der „näheren Nachbar­schaft“ Russlands. Es geht um die Demons­tration, wozu Russland in der Lage wäre, wenn es will – und um den Test, wie ernst es die NATO mit ihrer Beistands­ga­rantie für alle ihre Mitglieder meint. Gressel analy­siert detail­liert die militä­ri­schen Kapazi­täten auf beiden Seiten. Dabei geht es nicht nur um die Zahl der Soldaten, Panzer und Flugzeuge, sondern um die tatsäch­liche Kampf­fä­higkeit dieser Truppen. Dabei schält sich ein klarer Vorteil der russi­schen Seite heraus. Welche Schluss­fol­ge­rungen sollten wir daraus ziehen? Muss der Westen seine militä­ri­schen Fähig­keiten wieder stärken, um die russische Führung schon im Vorfeld abzuschrecken, die Operation Krim und die Inter­vention in der Ostukraine anderswo zu wieder­holen? Und was sind wir der Sicherheit unserer mittel-osteu­ro­päi­schen Nachbarn schuldig? Die Debatte ist eröffnet.


Gustav C. Gressel

Wer rasselt mit dem Säbel?
Zapad 2017 und die prekäre Sicher­heitslage im Osten Europas

Vom 14. bis zum 20. September 2017 übten russische und weißrus­sische Soldaten an der polnisch-litaui­schen Grenze den „Vertei­di­gungsfall“. Das offizielle Manöver­skript ist bizarr, passt jedoch in die üblichen Narrative russi­scher Manöver: „Separa­tisten“ aus drei fiktiven Nachbar­staaten dringen nach Weißrussland vor, unter­stützt von starken Luftstreit­kräften der NATO. Der Russi­schen Armee gelingt es durch die rasche Mobili­sierung schnell verleg­barer Kräfte, den Angriff zu stoppen, die „Terro­risten“ einzu­kreisen und den russi­schen Luftraum gegen Feind­an­griffe abzuschotten. Dass im Zuge dieses „rein defen­siven“ Manövers die drei fiktiven Staaten, aus denen die vermeint­lichen „Terro­risten“ stammen (welche nicht zufällig an Polen, Litauen und Lettland erinnern), zerschlagen und besetzt werden, wird nur am Rande erwähnt.

Dieses Drehbuch ist nicht nur aus politi­schen Gründen bizarr – wer glaubt im Ernst, dass die NATO polnisch-litaui­schen „Separa­tisten“ in Weißrussland militä­risch beispringen und damit einen Krieg mit Russland riskieren würde?  Es ist auch militä­risch unstimmig. Sinn macht es erst, wenn man das offizielle Narrativ genauer durch­leuchtet : Die balti­schen Separa­tisten sind eine reine Erfindung der Kreml-Propa­ganda und dienen nur der Legiti­mation für einen Angriffs­krieg. Die schnell verlegten Luftlande- und Spezi­al­kräfte erwischen die NATO auf kaltem Fuße und erobern blitz­artig die balti­schen Staaten und Ostpolen. Die russi­schen Luftver­tei­di­gungs­kräfte schlagen dann NATO-Luftan­griffe zurück, die wohl die erste Reaktion des Bündnisses auf die handstreich­artige Besetzung einiger ihrer Mitglieds­länder gewesen wären. Dann ist das Szenario wieder stimmig und macht auch militä­risch „Sinn“. Aller­dings verliert dann das Manöver auch jedes defensive Feigen­blatt. Die angeb­liche Bedrohung aus dem Westen ist nur der Vorwand für eine offensive, auf terri­to­riale Eroberung ausge­richtete Militärstrategie.

Es ist nicht das erste Mal, dass die russi­schen Streit­kräfte den Angriffs­krieg gegen Europa üben. 2009 und 2013 lief das jeweilige „Zapad“-Manöver nach sehr ähnlichem Manöver­skript ab und endete ebenso mit der Besetzung der Balti­schen Staaten. „Lagoda 2012“ widmete sich der exakten Wieder­holung des Angriffes auf die Balti­schen Staaten und Finnland aus dem Jahr 1939 – nur unter Bedin­gungen des 21. Jahrhun­derts. „Baltic 2015“ simulierte die Inbesitz­nahme Aalands, Gotland und Bornholms als Reaktion auf die angeb­liche Unter­stützung skandi­na­vi­scher Staaten für einen „Maidan“ in Moskau. Das Manöver „Kavkas 2012“ probte den Angriffs­krieg gegen Georgien. „Kavkas 2008“ endete tatsächlich mit der militä­ri­schen Inter­vention in diesem Land. Blitzin­spek­tionen „zu Manöver­zwecken“ im Frühjahr 2014 verschlei­erten die Vorbe­rei­tungen zur Inter­vention in der Ukraine. In diesem Sinne ist es kaum verwun­derlich, dass „Zapad 2017“ für erhöhte Nervo­sität in Kiew, Riga, Tallin und Warschau führte. Hinzu kommt das Problem der geringen Trans­parenz russi­scher Manöver­tä­tig­keiten. Offizielle Manöver der russi­schen Streit­kräfte im europäi­schen Teil bleiben stets klein, um sich um die Zulassung von Beobachtern zu drücken. Aller­dings werden parallel zahlreiche andere Manöver, Blitzin­spek­tionen, und Mobili­sie­rungen durch­ge­führt, die in Summe eine weit höhere Zahl übender Truppen ergeben. Diese paral­lelen Übungen erfolgen meistens ohne Anmeldung oder genauere Infor­ma­tionen. Jenseits von Satel­li­ten­auf­klärung und elektro­ni­scher Überwa­chung hat der Westen kaum Möglich­keiten sich ein Bild der Lage zu machen. Auch fanden gleich­zeitig zu Zapad 2017 weitere Manöver im Nordkau­kasus und nahe der ukrai­ni­schen Grenze statt. In Westeuropa wird dieser latenten militä­ri­schen Unsicherheit der Staaten in Russlands „naher Nachbar­schaft“ wenig Aufmerk­samkeit geschenkt. Gerade in Deutschland erfreut sich das Argument, eine militä­rische Konfron­tation Russlands mit der NATO sei für Moskau suizidal und daher auszu­schließen, großer Beliebtheit. Man verweist gerne darauf, dass die summierten Vertei­di­gungs­budgets der NATO (zusammen USD 884,9 Milli­arden) das Russlands (USD 46,6 Milli­arden) bei weitem übersteige.[1] Doch diese Rechnung macht es zu einfach. Ausge­ge­benes Geld sagt noch nichts über vorhan­denes militä­ri­sches Potential aus. Gerade in Europa versi­ckert überpro­por­tional viel Geld inVer­tei­di­gungs­mi­nis­terien, Beschaf­fungs­kom­mis­sionen, Quartier­meis­ter­ab­tei­lungen, Militär­aka­demien, Planungs­stäben aller 28 Mitglied­staaten – ein bürokra­ti­scher Überbau, den sich Russland nur einmal leisten muss. Gerade in Europa sind nach dem Kalten Krieg einige Armeen derart klein geschrumpft bzw. jeder seriösen Übungs- und Kampf­fä­higkeit beraubt, dass für das verfügbare Vertei­di­gungs­budget keine ernst­zu­neh­mende militä­rische Leistung erworben wird. Es bleibt ein unifor­mierter Verwal­tungs­ap­parat mit ein paar Rumpf­truppen für innere Assis­tenz­leis­tungen und Tradi­ti­ons­pflege zurück.

Selbst dort, wo für Geld tatsächlich auch militä­rische Leistung angeschafft wird, heißt das noch lange nicht, dass diese auch zu jener Zeit und an jenem Ort abgerufen werden kann, an dem sich eine militä­rische Bedrohung aufbaut.  Der Großteil des militä­ri­schen Poten­tials der NATO liegt in den USA. So es nicht gebunden ist – etwa durch militä­rische Opera­tionen im mittleren Osten oder Bündnis­ver­pflich­tungen in Asien – muss es erst über den Atlantik nach Europa verlegt werden. In Europa stehen etwa die Hälfte aller NATO-Landstreit­kräfte unter türki­scher Flagge. Wie sich Ankara im Falle einer militä­ri­schen Konfron­tation mit Russland im Baltikum verhält, ist angesichts der sprung­haften Außen­po­litik Erdogans eine offene Frage. Doch selbst wenn Ankara wollte, besitzt es nicht über die Kapazität, militä­rische Kräfte rasch in den Norden Europas zu verlegen. Nach der Türkei unterhält Griechenland die zweit­größten Landstreit­kräfte in Europa – zumindest auf dem Papier.

Das führt zur nächsten Frage: wie hoch ist die Einsatz­be­reit­schaft europäi­scher Armeen tatsächlich? Russland hat durch zahlreiche Manöver und Mobili­sie­rungs­übungen gezeigt, dass es den Bereit­schaftsgrad von etwa 60% seiner Landstreit­kräfte durchwegs halten konnte. Nach Angaben der European Defense Agency waren 2014 etwa 57% der in Landstreit­kräften aller EU Mitglied­staaten angestellten Soldaten in verle­gungs­fä­higen Verbänden organi­siert. Aber nur 19% dieser Verbände waren für eine längere Operation geeignet, wobei sich starke Unter­schiede zwischen einzelnen Mitglieds­staaten auftun.

Noch drasti­scher wird die Dispa­rität an der Ostflanke der NATO. Im Militär­bezirk West unterhält Russland 212 Bataillone an Kampf- und Unter­stüt­zungs­truppen, 261 Kampf­flug­zeuge, über 100 Kampf- und Trans­port­hub­schrauber[1]. In den angren­zenden EU bzw. NATO Staaten Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen und Schweden befinden sich zusammen 154 Bataillone, 314 Kampf­flug­zeuge, 28 Kampf- und 202 Trans­port­hub­schrauber[2], zu denen sich noch drei NATO Bataillone in den balti­schen Staaten und drei US Bataillone in Polen gesellen. In den balti­schen Staaten selbst stehen 19 Batail­lonen Kampf- und Unter­stüt­zungs­truppen (zu Hochzeiten des Kalten Krieges standen 19 NATO Bataillone allein in Westberlin, welches flächen­mäßig doch kleiner ist als die drei balti­schen Staaten) sowie acht Kampf­flug­zeuge der NATO Air Policing Mission. Am Schwarzen Meer stehen in Rumänien und Bulgarien zusammen 59 Bataillone Kampf- und Unter­stüt­zungs­truppen, 75 Kampf­flug­zeuge, sechs Kampf­hub­schrauber und 90 Trans­port­hub­schrauber[3] russi­schen Streit­kräften von[4] 98 Bataillone Kampf und Unter­stüt­zungs­truppen, 278 Kampf­flug­zeuge, 99 Kampf und über 72 Trans­port­hub­schrauber auf der Krim und im Raum Rostow gegenüber (letztere hätten aller­dings das Schwarze Meer amphi­bisch zu überwinden). Dass sich die unmit­tel­baren Anrai­ner­staaten der Ostflanke technisch nicht auf dem Stand westeu­ro­päi­scher NATO-Staaten befinden – und schon gar nicht auf dem der USA – , kommt zur numeri­schen Unter­le­genheit hinzu.

Die bloße Gegen­über­stellung von Truppen­stärken und Waffen­sys­temen verzerrt das Bild. Die Kapazi­täten des Westens verteilen sich eine Vielzahl von auf  Staaten ohne einheit­liche Komman­do­struktur, die nicht alle Mitglied der NATO sind.

Das Baltikum sticht dabei besonders als Achil­les­ferse ins Auge. Die Statio­nierung von drei multi­na­tio­nalen Batail­lonen (eines davon unter deutscher Führung) hat zwar das politische Risiko einer militä­ri­schen Eskalation für Moskau erhöht (russische Soldaten müssten nicht nur auf Balten schießen, sondern auch auf Ameri­kaner, Briten, Deutsche und Franzosen), aller­dings ändern sie die militä­ri­schen Kräfte­ver­hält­nisse im Baltikum nicht maßgeblich. Nach inten­siven Planspielen und Simula­tionen kam etwa die RAND Coope­ration zu der Erkenntnis, dass die NATO die balti­schen Staaten nicht länger als 60 Stunden halten könnte. Die Studie ist durchaus glaubhaft. Sollte es den russi­schen Streit­kräften gelingen, durch ein rasches Absetzen von Luftlan­de­kräften die neuen multi­la­te­ralen Bataillone in ihren Kasernen zu binden und diese durch rasche mecha­ni­sierte Vorstöße zu umgehen – wie in Zapad 2017 geübt – könnte Russland im Baltikum die NATO vor vollendete Tatsachen stellen, bevor deutsche, britische und ameri­ka­nische Truppen in die Gefechte eingreifen konnten.

Im Baltikum – wie auch anderen exponierten Stellen der Ostflanke – wäre die NATO im Fall der Fälle auf die rasche Heran­führung von Reserven angewiesen. Dabei stellen sich zwei Probleme: das erste ist der Transport selbst. Es fehlt an entspre­chender Planung, an Eisen­bahn­wagons zur Verladung von schwerem Gerät, an Koordi­nation zwischen den Bahnge­sell­schaften, an Trans­port­flug­zeugen, und in vielen Teilen Europas an Infra­struktur (Entla­de­flug­häfen und Bahnhöfe). Zudem fehlt es mittler­weile an Flieger­ab­wehr­ein­heiten, um diese Infra­struktur vor russi­schen Luft- und Raketen­schlägen zu schützen. Das zweite Problem ist zeitlicher Natur. Die russi­schen Streit­kräfte sind auf eine sehr rasche Verlegung und schnellen Angriff ausgelegt. 2012 forderte der damalige russische General­stabschef Geras­simov, binnen sieben Tagen nach Alarmierung ein Corps (ca. 30.000 Mann) in einem Opera­ti­ons­gebiet verfügbar zu haben und nach einem Monat drei Corps (ca. 90.000 Mann). Nach Putins eigenen Angaben fiel der Einsatz­befehl zum Einmarsch in der Krim in der Nacht vom 20. zum 21. Februar 2014, am 27. Februar war die Besetzung der Halbinsel im vollen Gange und dafür etwa 25.000 Mann aller Teilstreit­kräfte im Einsatz. Ende März war der russische Aufmarsch an der ukrai­ni­schen Grenze abgeschlossen. Etwa 90.000 russische Soldaten standen einge­teilt in drei operative Manöver­gruppen (Corps) an den Grenzen der Ukraine. Addiert man die Beiträge der Truppen des Innen­mi­nis­te­riums und des Minis­te­riums für Katastro­phen­schutz zu dem Aufmarsch, steigt die Zahl auf etwa 150.000 Mann. Man hätte Geras­simov 2012 also durchaus ernst nehmen sollen.

Auf der anderen Seite ist die die Speer­spitze der Eingreif­truppe der NATO (5000 Soldaten) nach fünf Tagen verle­gungs­fähig, die gesamte NATO Response Force (45.000 Mann) nach 30 Tagen. Verle­gungs­fähig heißt aller­dings, dass die Soldaten dann geschlossen und kampf­bereit vor das Kaser­nentor treten – das kann auch in Spanien sein, je nachdem, welche Nation gerade die Response Force stellt. Sie müssten dann erst in den Einsatzraum verlegt werden und sich dort neu formieren – was je nach Große und geogra­fi­scher Lage eine bis vier Wochen dauert. Zudem ist es unwahr­scheinlich, dass die NATO ihre Respose Force synchron zum russi­schen Aufmarsch mobili­siert. Sollte – wie 2008 oder 2014 – Russland seine Mobili­sierung hinter Manövern verschleiern, würden die oben genannten fünf Tage der schnellen Eingreif­truppe erst am Tag vier oder fünf des russi­schen Aufmar­sches beginnen. Das, was die NATO dann nach 30 Tagen an die Ostflanke schicken kann, ist höchstens geeignet, den russi­schen Angriff zu verlang­samen oder aufzu­halten, nicht aber zurück­zu­schlagen und die besetzten Staaten zu befreien. Dafür müsste die NATO weitere Verbände ihrer Mitglied­staaten mobili­sieren, Kräfte aus Übersee nach Europa trans­por­tieren und sich an der Ostflanke neu formieren. Dafür braucht sie sechs Monate Zeit. Erst dann wäre man stark genug, die balti­schen Staaten zurück­zu­ge­winnen. Ob es die politische Bereit­schaft für eine solche militä­rische Kraft­an­strengung gäbe, ist fraglich.

Zapad 2017 gibt auch Aufschluss, wie die Russi­schen Streit­kräfte mit dieser Situation umzugehen denken. Wie schon vergangene Manöver wurden auch diese von Übungen der russi­schen Raketen­truppen bzw. Übungen takti­scher Atomwaf­fen­träger flankiert. Die russische Doktrin des „de-eskala­tiven Einsatzes von Nukle­ar­waffen“ sieht nach geglückter Angriffs­ope­ration die sofortige Androhung bzw. den demons­tra­tiven Einsatz von Nukle­ar­waffen vor, um den Gegner von einer Rückge­winnung der frisch eroberten Gebiete abzuschrecken. Aufgrund der Furcht vor einer weiteren nuklearen Eskalation könnten sich die verblie­benen NATO Staaten dann auf ein „Minsk-Format“ für das Baltikum einigen wollen, das die russische Besetzung des Baltikums zwar nicht anerkennt, aber auch nichts Ernst­haftes unter­nimmt, diese anzufechten. So ist zumindest die Kalku­lation in Moskau.

Nun würde hier der skeptische Kommen­tator einhaken, dass eine solches Vorgehen für Russland selbst ökono­misch ruinös wäre, und alleine der dann zu erwar­tende Abbruch der wirtschaft­lichen Bezie­hungen zur EU für Moskau schwere wirtschaft­liche und soziale Folgen hätte. Moskau wäre wohl kaum an ökono­mi­schem Selbstmord inter­es­siert. Doch diese Einschätzung betrachtet das Interesse der russi­schen Führung in erster Linie mit europäi­schen Augen, nicht mit denen der sowje­ti­schen Silowiki. Der Wohlstand und die soziale Sicherheit der russi­schen Gesell­schaft stehen nicht an der Spitze der Priori­tä­ten­liste des Kremls. Würde Russland mit der Besetzung der balti­schen Staaten davon­kommen, würde dies die NATO und ihre Glaub­wür­digkeit vollkommen zerstören, die Europäische Sicher­heits­ordnung, wie wir sie kannten, endgültig auf den Schei­ter­haufen der Geschichte werfen und Russland kraft seiner nuklearen Mittel zur dominanten Macht in einem de-insti­tu­tio­na­li­sierten Europa machen, das sich aus Furcht vor der militä­ri­schen Eskalation nach den Inter­essen Moskaus ausrichten müsste. Man muss ein solches Szenario russi­scher Außen­po­litik zumindest einkal­ku­lieren. Die militä­ri­schen Planungen sind genau darauf ausge­richtet. Je leichter und risiko­freier ein militä­ri­scher Überra­schungscoup  zu erreichen scheint, desto höher ist die Wahrschein­lichkeit, dass aus militä­ri­schen Planspielen einmal bitterer Ernst wird. Zum Glück betrachtete die russische Führung das mit der Einlösung der militä­ri­schen Option verbundene Risiko in der Vergan­genheit als zu hoch – was wäre, wenn der Westen doch entschlos­sener und wehrhafter reagiert? Europa hatte in der letzten Dekade auch ein gewisses Quäntchen Glück. Die russische Führung schätzte den Westen stets militä­risch stärker ein, als er eigentlich war.

Vor diesem Hinter­grund erscheint es als erschre­ckend reali­täts­fremd, die defen­siven Manöver der NATO an der Ostflanke als „Säbel­rasseln“ abtun. Solche Signale militä­ri­scher Abstinenz sind gerade nicht friedens­för­dernd. Sie unter­graben die Glaub­wür­digkeit des Bündnisses und erwecken in Moskau den Eindruck, dass ein Teil der Europäer bereits im vorei­lenden Gehorsam der russi­schen Gewalt­an­drohung weichen. Das größte Sicher­heits­risiko in dieser Beziehung ist aber der gegen­wärtige ameri­ka­nische Präsident, der durch launische Tweets und erratische Aussagen den größten Schaden an der Glaub­wür­digkeit trans­at­lan­ti­scher Solida­rität anrichtet.

Die Statio­nierung von drei multi­na­tio­nalen Batail­lonen im Baltikum und die Verlegung von US Truppen (eine Brigade) nach Osteuropa (derzeit in Polen) ist ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es auch an der Gesamtlage der militä­ri­schen Unter­le­genheit der NATO an ihrer Ostflanke wenig ändert. Aber es erhöht das politische Risiko eines militä­ri­schen Abenteuers und das wiederum erzeugt einen Abschreckungseffekt.Damit ist es aber freilich nicht getan. Die Allianz muss auch über weitere Themen dringend nachdenken:

  1. Eine weitere Verstärkung der an der Ostflanke statio­nierten Truppen, insbe­sondere um Flieger­abwehr und weitrei­chen­de­Ar­til­lerie. Diese würden den einge­setzten NATO-Verbänden erlauben, unmit­telbar und über größere Distanzen wirksam zu werden. Es wäre dann für die russi­schen Streit­kräfte schwie­riger diese, zu umgehen oder am Eintritt ins Gefecht zu hindern.
  2. Vermehrte, stärkere, und größere Übungen an der Ostflanke,um das Zusam­men­wirken der einzelnen natio­nalen Kompo­nenten unter­ein­ander zu verbessern. Ein Ausbau der militä­ri­schen Infra­struktur an der NATO-Ostflanke um Truppen rascher in die Region verlegen zu können.
  3. Eine Ausweitung der Kompe­tenzen des Alliierten Oberkom­mandos (SHAPE) in Brunssum und gegebe­nen­falls die direkte Unter­stellung weiterer Verbände unter das Kommando. Gerade vor dem Hinter­grund der knappen Reakti­ons­zeiten wäre es sinnvoll, wenn SHAPE eigen­ständig die Marsch­be­reit­schaft zumindest der NRF anordnen könnte, bzw. die rasche Eingreif­truppe selbst­ständig innerhalb des Bündnis­ge­bietes verlegen könnte. Die Vertei­digung des Baltikums ist in erster Linie ein Rennen gegen die Zeit. Die Möglichkeit, die Vertei­di­gungs­be­reit­schaft noch vor einem formellen Beschluss des NATO Rates zu erhöhen, gewinnt Zeit und verbaut Moskau die Hoffnung, über obstruktive Mitglieder des Bündnisses einen Start­vorteil zu erlangen.
  4. Vertiefung der gemein­samen Aufklärung und Nachrich­ten­ge­winnung Richtung Russland, um gefähr­liche Truppen­be­we­gungen früh zu erkennen und ein einheit­liches Lagebild innerhalb der Allianz herzustellen.
  5. Eine neue Nukle­ar­doktrin sowie das Üben des nuklearen Ernst­falles, um den nuklearen Einschüch­te­rungs- und Erpres­sungs­ver­suchen Russlands ein starkes Signal entge­gen­zu­setzen, verbunden mit dem Angebot über den vollstän­digen Abbau nicht-strate­gi­scher Atomwaffen zu verhandeln.

Vor dem Hinter­grund der „2 Prozent“-Debatte entsteht leider ein verzerrtes Bild von Nachrüstung. Gerade die Links­partei wird nicht müde, das Bild einer wettrüs­tenden und kriegs­lüs­ternen NATO zu zeichnen. Nun besteht in einigen Bereichen tatsächlich Nachrüs­tungs­bedarf. Vor allem müssen jene militä­ri­schen Fähig­keiten, die nach dem Kalten Krieg abgebaut wurden – Truppen­flie­ger­abwehr, Steil­feu­er­un­ter­stützung zum Beispiel – wieder aufgebaut werden. Der größte Adapti­ons­bedarf besteht aber in anderen Bereichen: Einsatz­be­reit­schaften müssen erhöht werden, Reakti­ons­zeiten verkürzt; das Zusam­men­wirken aller Teilstreit­kräfte und der Kampf der Verbun­denen Waffen gegen einen ebenbür­tigen Gegner müssen stärker und vermehrt geübt werden. Es geht nicht darum, die derzei­tigen Armeen stark zu vergrößern. Vielmehr müssen jene am Papier vorhan­denen Verbände auch real einsetzbar sein. Auch das kostet Geld. Aber während der finan­zielle Nachhol­bedarf sich in Grenzen hält, ist der Nachhol­bedarf in den Köpfen politi­scher Entschei­dungs­träger und vor allem in der öffent­lichen Meinung noch ein erheb­licher. Man hält zu sehr fest am Glauben der eigenen Überle­genheit, wie auch am Wunsch­denken, die gegen­wärtige Bedrohung Europas durch Russland noch durch Dialog und gute Worte aus der Welt schaffen zu können. Das verkennt, dass gegenüber einem Gegner, der auf militä­rische Macht­po­litik setzt, die Fähigkeit zur militä­ri­schen Abschre­ckung immer noch ein unver­zicht­bares Mittel zur Friedens­si­cherung ist.

[1]    Daten und weitere Angaben über militä­rische Kräfte­ver­hält­nisse sind entnommen: The Inter­na­tional Institute for Strategic Studies, The Military Balance 2017, London;

[2] Im Einzelnen: eine Panzer‑, drei Mot.-Schützen- und drei Luftlan­de­di­vi­sionen, vier Luftlan­de­auf­klä­rungs- bzw. Spezi­al­kräf­te­bri­gaden, zwei Panzer‑, sieben Mot.-Schützen‑, zwei Marine­infan­te­rie­bri­gaden, drei Brigaden taktische Raketen­truppen, drei Artil­lerie und drei Luftver­tei­di­gungs­bri­gaden, sowie ein Marineinfantrieregiment.

[3] Im Einzelnen: eine Panzer­ka­val­lerie- und zwei Mecha­ni­sierte Divisionen (alle polnisch), zwei Panzer‑, fünf Mechanisierte‑, eine Marineinfanterie‑, zwei Luftlande‑, 13 Infanterie‑, eine Artillerie‑, und eine Luftver­tei­di­gungs­brigade, fünf Macha­ni­sierte Infantrie‑, zwei Infan­terie, ein Spezialkräfte‑, drei Aufklärungs‑, ein Marineinfanterie‑, drei Luftlande- und drei Artilleriebataillone

[4] Im Einzelnen: sieben Mechanisierte‑, zwei  Infanterie‑, eine Artil­lerie- und zwei Brigaden Fallschirm­jäger- bzw. Spezi­al­ein­satz­kräfte sowie vier Artil­lerie- und drei Flieger­ab­wehr­re­gi­menter, und vier Aufklärungsbataillone

[5]    Im Einzelnen: einer Panzer- und einer Luftlan­de­di­vision, drei Panzer‑, drei Mechanisierte‑, zwei Marineinfanterie‑, einer Luftsturm‑, zwei Raketen‑, drei Artillerie‑, drei Fliegerabwehr‑, und einer Aufklä­rungs­brigade sowie ein Artil­lerie- und ein Flieger­ab­wehr­re­giment. Dabei wurden die ortsge­bun­denen Kräfte des Militär­be­zirks Süd nicht mitbe­rechnet. In Abchasien, Südos­setien, Tsche­tschenien, und Armenien einge­setzte Truppen könnten selbst im Konfron­ta­ti­onsfall mit der NATO kaum abgezogen werden, da sie lokale Aufgaben wahrnehmen.

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