Wer rasselt mit dem Säbel?
Zapad 2017 und die prekäre Sicherheitslage im Osten Europas
Vorbemerkung
Wer würde nicht liebend gern dem Krieg ein für allemal eine Absage erteilen und den Rüstungshaushalt auf Null fahren? Die folgende Analyse des Militärexperten Gustav Gressel negiert nicht den Wunsch nach Frieden. Sie stellt allerdings die Vorstellung in Frage, dass der Frieden in Europa gesichert wird, wenn nur die NATO radikal abrüstet. Gressel analysiert die Logik hinter den jüngsten russischen Großmanövern an der Ostflanke der NATO, und seine Schlussfolgerungen sind beunruhigend: Russland demonstriert seine Fähigkeit, innerhalb kurzer Frist die baltischen Staaten und Polen zu überrollen. Ob dieses Szenario ernsthaft erwogen wird, wissen wir nicht. Es dient aber so oder so zur Einschüchterung der Länder in der „näheren Nachbarschaft“ Russlands. Es geht um die Demonstration, wozu Russland in der Lage wäre, wenn es will – und um den Test, wie ernst es die NATO mit ihrer Beistandsgarantie für alle ihre Mitglieder meint. Gressel analysiert detailliert die militärischen Kapazitäten auf beiden Seiten. Dabei geht es nicht nur um die Zahl der Soldaten, Panzer und Flugzeuge, sondern um die tatsächliche Kampffähigkeit dieser Truppen. Dabei schält sich ein klarer Vorteil der russischen Seite heraus. Welche Schlussfolgerungen sollten wir daraus ziehen? Muss der Westen seine militärischen Fähigkeiten wieder stärken, um die russische Führung schon im Vorfeld abzuschrecken, die Operation Krim und die Intervention in der Ostukraine anderswo zu wiederholen? Und was sind wir der Sicherheit unserer mittel-osteuropäischen Nachbarn schuldig? Die Debatte ist eröffnet.
Gustav C. Gressel
Wer rasselt mit dem Säbel?
Zapad 2017 und die prekäre Sicherheitslage im Osten Europas
Vom 14. bis zum 20. September 2017 übten russische und weißrussische Soldaten an der polnisch-litauischen Grenze den „Verteidigungsfall“. Das offizielle Manöverskript ist bizarr, passt jedoch in die üblichen Narrative russischer Manöver: „Separatisten“ aus drei fiktiven Nachbarstaaten dringen nach Weißrussland vor, unterstützt von starken Luftstreitkräften der NATO. Der Russischen Armee gelingt es durch die rasche Mobilisierung schnell verlegbarer Kräfte, den Angriff zu stoppen, die „Terroristen“ einzukreisen und den russischen Luftraum gegen Feindangriffe abzuschotten. Dass im Zuge dieses „rein defensiven“ Manövers die drei fiktiven Staaten, aus denen die vermeintlichen „Terroristen“ stammen (welche nicht zufällig an Polen, Litauen und Lettland erinnern), zerschlagen und besetzt werden, wird nur am Rande erwähnt.
Dieses Drehbuch ist nicht nur aus politischen Gründen bizarr – wer glaubt im Ernst, dass die NATO polnisch-litauischen „Separatisten“ in Weißrussland militärisch beispringen und damit einen Krieg mit Russland riskieren würde? Es ist auch militärisch unstimmig. Sinn macht es erst, wenn man das offizielle Narrativ genauer durchleuchtet : Die baltischen Separatisten sind eine reine Erfindung der Kreml-Propaganda und dienen nur der Legitimation für einen Angriffskrieg. Die schnell verlegten Luftlande- und Spezialkräfte erwischen die NATO auf kaltem Fuße und erobern blitzartig die baltischen Staaten und Ostpolen. Die russischen Luftverteidigungskräfte schlagen dann NATO-Luftangriffe zurück, die wohl die erste Reaktion des Bündnisses auf die handstreichartige Besetzung einiger ihrer Mitgliedsländer gewesen wären. Dann ist das Szenario wieder stimmig und macht auch militärisch „Sinn“. Allerdings verliert dann das Manöver auch jedes defensive Feigenblatt. Die angebliche Bedrohung aus dem Westen ist nur der Vorwand für eine offensive, auf territoriale Eroberung ausgerichtete Militärstrategie.
Es ist nicht das erste Mal, dass die russischen Streitkräfte den Angriffskrieg gegen Europa üben. 2009 und 2013 lief das jeweilige „Zapad“-Manöver nach sehr ähnlichem Manöverskript ab und endete ebenso mit der Besetzung der Baltischen Staaten. „Lagoda 2012“ widmete sich der exakten Wiederholung des Angriffes auf die Baltischen Staaten und Finnland aus dem Jahr 1939 – nur unter Bedingungen des 21. Jahrhunderts. „Baltic 2015“ simulierte die Inbesitznahme Aalands, Gotland und Bornholms als Reaktion auf die angebliche Unterstützung skandinavischer Staaten für einen „Maidan“ in Moskau. Das Manöver „Kavkas 2012“ probte den Angriffskrieg gegen Georgien. „Kavkas 2008“ endete tatsächlich mit der militärischen Intervention in diesem Land. Blitzinspektionen „zu Manöverzwecken“ im Frühjahr 2014 verschleierten die Vorbereitungen zur Intervention in der Ukraine. In diesem Sinne ist es kaum verwunderlich, dass „Zapad 2017“ für erhöhte Nervosität in Kiew, Riga, Tallin und Warschau führte. Hinzu kommt das Problem der geringen Transparenz russischer Manövertätigkeiten. Offizielle Manöver der russischen Streitkräfte im europäischen Teil bleiben stets klein, um sich um die Zulassung von Beobachtern zu drücken. Allerdings werden parallel zahlreiche andere Manöver, Blitzinspektionen, und Mobilisierungen durchgeführt, die in Summe eine weit höhere Zahl übender Truppen ergeben. Diese parallelen Übungen erfolgen meistens ohne Anmeldung oder genauere Informationen. Jenseits von Satellitenaufklärung und elektronischer Überwachung hat der Westen kaum Möglichkeiten sich ein Bild der Lage zu machen. Auch fanden gleichzeitig zu Zapad 2017 weitere Manöver im Nordkaukasus und nahe der ukrainischen Grenze statt. In Westeuropa wird dieser latenten militärischen Unsicherheit der Staaten in Russlands „naher Nachbarschaft“ wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Gerade in Deutschland erfreut sich das Argument, eine militärische Konfrontation Russlands mit der NATO sei für Moskau suizidal und daher auszuschließen, großer Beliebtheit. Man verweist gerne darauf, dass die summierten Verteidigungsbudgets der NATO (zusammen USD 884,9 Milliarden) das Russlands (USD 46,6 Milliarden) bei weitem übersteige.[1] Doch diese Rechnung macht es zu einfach. Ausgegebenes Geld sagt noch nichts über vorhandenes militärisches Potential aus. Gerade in Europa versickert überproportional viel Geld inVerteidigungsministerien, Beschaffungskommissionen, Quartiermeisterabteilungen, Militärakademien, Planungsstäben aller 28 Mitgliedstaaten – ein bürokratischer Überbau, den sich Russland nur einmal leisten muss. Gerade in Europa sind nach dem Kalten Krieg einige Armeen derart klein geschrumpft bzw. jeder seriösen Übungs- und Kampffähigkeit beraubt, dass für das verfügbare Verteidigungsbudget keine ernstzunehmende militärische Leistung erworben wird. Es bleibt ein uniformierter Verwaltungsapparat mit ein paar Rumpftruppen für innere Assistenzleistungen und Traditionspflege zurück.
Selbst dort, wo für Geld tatsächlich auch militärische Leistung angeschafft wird, heißt das noch lange nicht, dass diese auch zu jener Zeit und an jenem Ort abgerufen werden kann, an dem sich eine militärische Bedrohung aufbaut. Der Großteil des militärischen Potentials der NATO liegt in den USA. So es nicht gebunden ist – etwa durch militärische Operationen im mittleren Osten oder Bündnisverpflichtungen in Asien – muss es erst über den Atlantik nach Europa verlegt werden. In Europa stehen etwa die Hälfte aller NATO-Landstreitkräfte unter türkischer Flagge. Wie sich Ankara im Falle einer militärischen Konfrontation mit Russland im Baltikum verhält, ist angesichts der sprunghaften Außenpolitik Erdogans eine offene Frage. Doch selbst wenn Ankara wollte, besitzt es nicht über die Kapazität, militärische Kräfte rasch in den Norden Europas zu verlegen. Nach der Türkei unterhält Griechenland die zweitgrößten Landstreitkräfte in Europa – zumindest auf dem Papier.
Das führt zur nächsten Frage: wie hoch ist die Einsatzbereitschaft europäischer Armeen tatsächlich? Russland hat durch zahlreiche Manöver und Mobilisierungsübungen gezeigt, dass es den Bereitschaftsgrad von etwa 60% seiner Landstreitkräfte durchwegs halten konnte. Nach Angaben der European Defense Agency waren 2014 etwa 57% der in Landstreitkräften aller EU Mitgliedstaaten angestellten Soldaten in verlegungsfähigen Verbänden organisiert. Aber nur 19% dieser Verbände waren für eine längere Operation geeignet, wobei sich starke Unterschiede zwischen einzelnen Mitgliedsstaaten auftun.
Noch drastischer wird die Disparität an der Ostflanke der NATO. Im Militärbezirk West unterhält Russland 212 Bataillone an Kampf- und Unterstützungstruppen, 261 Kampfflugzeuge, über 100 Kampf- und Transporthubschrauber[1]. In den angrenzenden EU bzw. NATO Staaten Estland, Finnland, Lettland, Litauen, Norwegen, Polen und Schweden befinden sich zusammen 154 Bataillone, 314 Kampfflugzeuge, 28 Kampf- und 202 Transporthubschrauber[2], zu denen sich noch drei NATO Bataillone in den baltischen Staaten und drei US Bataillone in Polen gesellen. In den baltischen Staaten selbst stehen 19 Bataillonen Kampf- und Unterstützungstruppen (zu Hochzeiten des Kalten Krieges standen 19 NATO Bataillone allein in Westberlin, welches flächenmäßig doch kleiner ist als die drei baltischen Staaten) sowie acht Kampfflugzeuge der NATO Air Policing Mission. Am Schwarzen Meer stehen in Rumänien und Bulgarien zusammen 59 Bataillone Kampf- und Unterstützungstruppen, 75 Kampfflugzeuge, sechs Kampfhubschrauber und 90 Transporthubschrauber[3] russischen Streitkräften von[4] 98 Bataillone Kampf und Unterstützungstruppen, 278 Kampfflugzeuge, 99 Kampf und über 72 Transporthubschrauber auf der Krim und im Raum Rostow gegenüber (letztere hätten allerdings das Schwarze Meer amphibisch zu überwinden). Dass sich die unmittelbaren Anrainerstaaten der Ostflanke technisch nicht auf dem Stand westeuropäischer NATO-Staaten befinden – und schon gar nicht auf dem der USA – , kommt zur numerischen Unterlegenheit hinzu.
Die bloße Gegenüberstellung von Truppenstärken und Waffensystemen verzerrt das Bild. Die Kapazitäten des Westens verteilen sich eine Vielzahl von auf Staaten ohne einheitliche Kommandostruktur, die nicht alle Mitglied der NATO sind.
Das Baltikum sticht dabei besonders als Achillesferse ins Auge. Die Stationierung von drei multinationalen Bataillonen (eines davon unter deutscher Führung) hat zwar das politische Risiko einer militärischen Eskalation für Moskau erhöht (russische Soldaten müssten nicht nur auf Balten schießen, sondern auch auf Amerikaner, Briten, Deutsche und Franzosen), allerdings ändern sie die militärischen Kräfteverhältnisse im Baltikum nicht maßgeblich. Nach intensiven Planspielen und Simulationen kam etwa die RAND Cooperation zu der Erkenntnis, dass die NATO die baltischen Staaten nicht länger als 60 Stunden halten könnte. Die Studie ist durchaus glaubhaft. Sollte es den russischen Streitkräften gelingen, durch ein rasches Absetzen von Luftlandekräften die neuen multilateralen Bataillone in ihren Kasernen zu binden und diese durch rasche mechanisierte Vorstöße zu umgehen – wie in Zapad 2017 geübt – könnte Russland im Baltikum die NATO vor vollendete Tatsachen stellen, bevor deutsche, britische und amerikanische Truppen in die Gefechte eingreifen konnten.
Im Baltikum – wie auch anderen exponierten Stellen der Ostflanke – wäre die NATO im Fall der Fälle auf die rasche Heranführung von Reserven angewiesen. Dabei stellen sich zwei Probleme: das erste ist der Transport selbst. Es fehlt an entsprechender Planung, an Eisenbahnwagons zur Verladung von schwerem Gerät, an Koordination zwischen den Bahngesellschaften, an Transportflugzeugen, und in vielen Teilen Europas an Infrastruktur (Entladeflughäfen und Bahnhöfe). Zudem fehlt es mittlerweile an Fliegerabwehreinheiten, um diese Infrastruktur vor russischen Luft- und Raketenschlägen zu schützen. Das zweite Problem ist zeitlicher Natur. Die russischen Streitkräfte sind auf eine sehr rasche Verlegung und schnellen Angriff ausgelegt. 2012 forderte der damalige russische Generalstabschef Gerassimov, binnen sieben Tagen nach Alarmierung ein Corps (ca. 30.000 Mann) in einem Operationsgebiet verfügbar zu haben und nach einem Monat drei Corps (ca. 90.000 Mann). Nach Putins eigenen Angaben fiel der Einsatzbefehl zum Einmarsch in der Krim in der Nacht vom 20. zum 21. Februar 2014, am 27. Februar war die Besetzung der Halbinsel im vollen Gange und dafür etwa 25.000 Mann aller Teilstreitkräfte im Einsatz. Ende März war der russische Aufmarsch an der ukrainischen Grenze abgeschlossen. Etwa 90.000 russische Soldaten standen eingeteilt in drei operative Manövergruppen (Corps) an den Grenzen der Ukraine. Addiert man die Beiträge der Truppen des Innenministeriums und des Ministeriums für Katastrophenschutz zu dem Aufmarsch, steigt die Zahl auf etwa 150.000 Mann. Man hätte Gerassimov 2012 also durchaus ernst nehmen sollen.
Auf der anderen Seite ist die die Speerspitze der Eingreiftruppe der NATO (5000 Soldaten) nach fünf Tagen verlegungsfähig, die gesamte NATO Response Force (45.000 Mann) nach 30 Tagen. Verlegungsfähig heißt allerdings, dass die Soldaten dann geschlossen und kampfbereit vor das Kasernentor treten – das kann auch in Spanien sein, je nachdem, welche Nation gerade die Response Force stellt. Sie müssten dann erst in den Einsatzraum verlegt werden und sich dort neu formieren – was je nach Große und geografischer Lage eine bis vier Wochen dauert. Zudem ist es unwahrscheinlich, dass die NATO ihre Respose Force synchron zum russischen Aufmarsch mobilisiert. Sollte – wie 2008 oder 2014 – Russland seine Mobilisierung hinter Manövern verschleiern, würden die oben genannten fünf Tage der schnellen Eingreiftruppe erst am Tag vier oder fünf des russischen Aufmarsches beginnen. Das, was die NATO dann nach 30 Tagen an die Ostflanke schicken kann, ist höchstens geeignet, den russischen Angriff zu verlangsamen oder aufzuhalten, nicht aber zurückzuschlagen und die besetzten Staaten zu befreien. Dafür müsste die NATO weitere Verbände ihrer Mitgliedstaaten mobilisieren, Kräfte aus Übersee nach Europa transportieren und sich an der Ostflanke neu formieren. Dafür braucht sie sechs Monate Zeit. Erst dann wäre man stark genug, die baltischen Staaten zurückzugewinnen. Ob es die politische Bereitschaft für eine solche militärische Kraftanstrengung gäbe, ist fraglich.
Zapad 2017 gibt auch Aufschluss, wie die Russischen Streitkräfte mit dieser Situation umzugehen denken. Wie schon vergangene Manöver wurden auch diese von Übungen der russischen Raketentruppen bzw. Übungen taktischer Atomwaffenträger flankiert. Die russische Doktrin des „de-eskalativen Einsatzes von Nuklearwaffen“ sieht nach geglückter Angriffsoperation die sofortige Androhung bzw. den demonstrativen Einsatz von Nuklearwaffen vor, um den Gegner von einer Rückgewinnung der frisch eroberten Gebiete abzuschrecken. Aufgrund der Furcht vor einer weiteren nuklearen Eskalation könnten sich die verbliebenen NATO Staaten dann auf ein „Minsk-Format“ für das Baltikum einigen wollen, das die russische Besetzung des Baltikums zwar nicht anerkennt, aber auch nichts Ernsthaftes unternimmt, diese anzufechten. So ist zumindest die Kalkulation in Moskau.
Nun würde hier der skeptische Kommentator einhaken, dass eine solches Vorgehen für Russland selbst ökonomisch ruinös wäre, und alleine der dann zu erwartende Abbruch der wirtschaftlichen Beziehungen zur EU für Moskau schwere wirtschaftliche und soziale Folgen hätte. Moskau wäre wohl kaum an ökonomischem Selbstmord interessiert. Doch diese Einschätzung betrachtet das Interesse der russischen Führung in erster Linie mit europäischen Augen, nicht mit denen der sowjetischen Silowiki. Der Wohlstand und die soziale Sicherheit der russischen Gesellschaft stehen nicht an der Spitze der Prioritätenliste des Kremls. Würde Russland mit der Besetzung der baltischen Staaten davonkommen, würde dies die NATO und ihre Glaubwürdigkeit vollkommen zerstören, die Europäische Sicherheitsordnung, wie wir sie kannten, endgültig auf den Scheiterhaufen der Geschichte werfen und Russland kraft seiner nuklearen Mittel zur dominanten Macht in einem de-institutionalisierten Europa machen, das sich aus Furcht vor der militärischen Eskalation nach den Interessen Moskaus ausrichten müsste. Man muss ein solches Szenario russischer Außenpolitik zumindest einkalkulieren. Die militärischen Planungen sind genau darauf ausgerichtet. Je leichter und risikofreier ein militärischer Überraschungscoup zu erreichen scheint, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass aus militärischen Planspielen einmal bitterer Ernst wird. Zum Glück betrachtete die russische Führung das mit der Einlösung der militärischen Option verbundene Risiko in der Vergangenheit als zu hoch – was wäre, wenn der Westen doch entschlossener und wehrhafter reagiert? Europa hatte in der letzten Dekade auch ein gewisses Quäntchen Glück. Die russische Führung schätzte den Westen stets militärisch stärker ein, als er eigentlich war.
Vor diesem Hintergrund erscheint es als erschreckend realitätsfremd, die defensiven Manöver der NATO an der Ostflanke als „Säbelrasseln“ abtun. Solche Signale militärischer Abstinenz sind gerade nicht friedensfördernd. Sie untergraben die Glaubwürdigkeit des Bündnisses und erwecken in Moskau den Eindruck, dass ein Teil der Europäer bereits im voreilenden Gehorsam der russischen Gewaltandrohung weichen. Das größte Sicherheitsrisiko in dieser Beziehung ist aber der gegenwärtige amerikanische Präsident, der durch launische Tweets und erratische Aussagen den größten Schaden an der Glaubwürdigkeit transatlantischer Solidarität anrichtet.
Die Stationierung von drei multinationalen Bataillonen im Baltikum und die Verlegung von US Truppen (eine Brigade) nach Osteuropa (derzeit in Polen) ist ein Schritt in die richtige Richtung, wenn es auch an der Gesamtlage der militärischen Unterlegenheit der NATO an ihrer Ostflanke wenig ändert. Aber es erhöht das politische Risiko eines militärischen Abenteuers und das wiederum erzeugt einen Abschreckungseffekt.Damit ist es aber freilich nicht getan. Die Allianz muss auch über weitere Themen dringend nachdenken:
- Eine weitere Verstärkung der an der Ostflanke stationierten Truppen, insbesondere um Fliegerabwehr und weitreichendeArtillerie. Diese würden den eingesetzten NATO-Verbänden erlauben, unmittelbar und über größere Distanzen wirksam zu werden. Es wäre dann für die russischen Streitkräfte schwieriger diese, zu umgehen oder am Eintritt ins Gefecht zu hindern.
- Vermehrte, stärkere, und größere Übungen an der Ostflanke,um das Zusammenwirken der einzelnen nationalen Komponenten untereinander zu verbessern. Ein Ausbau der militärischen Infrastruktur an der NATO-Ostflanke um Truppen rascher in die Region verlegen zu können.
- Eine Ausweitung der Kompetenzen des Alliierten Oberkommandos (SHAPE) in Brunssum und gegebenenfalls die direkte Unterstellung weiterer Verbände unter das Kommando. Gerade vor dem Hintergrund der knappen Reaktionszeiten wäre es sinnvoll, wenn SHAPE eigenständig die Marschbereitschaft zumindest der NRF anordnen könnte, bzw. die rasche Eingreiftruppe selbstständig innerhalb des Bündnisgebietes verlegen könnte. Die Verteidigung des Baltikums ist in erster Linie ein Rennen gegen die Zeit. Die Möglichkeit, die Verteidigungsbereitschaft noch vor einem formellen Beschluss des NATO Rates zu erhöhen, gewinnt Zeit und verbaut Moskau die Hoffnung, über obstruktive Mitglieder des Bündnisses einen Startvorteil zu erlangen.
- Vertiefung der gemeinsamen Aufklärung und Nachrichtengewinnung Richtung Russland, um gefährliche Truppenbewegungen früh zu erkennen und ein einheitliches Lagebild innerhalb der Allianz herzustellen.
- Eine neue Nukleardoktrin sowie das Üben des nuklearen Ernstfalles, um den nuklearen Einschüchterungs- und Erpressungsversuchen Russlands ein starkes Signal entgegenzusetzen, verbunden mit dem Angebot über den vollständigen Abbau nicht-strategischer Atomwaffen zu verhandeln.
Vor dem Hintergrund der „2 Prozent“-Debatte entsteht leider ein verzerrtes Bild von Nachrüstung. Gerade die Linkspartei wird nicht müde, das Bild einer wettrüstenden und kriegslüsternen NATO zu zeichnen. Nun besteht in einigen Bereichen tatsächlich Nachrüstungsbedarf. Vor allem müssen jene militärischen Fähigkeiten, die nach dem Kalten Krieg abgebaut wurden – Truppenfliegerabwehr, Steilfeuerunterstützung zum Beispiel – wieder aufgebaut werden. Der größte Adaptionsbedarf besteht aber in anderen Bereichen: Einsatzbereitschaften müssen erhöht werden, Reaktionszeiten verkürzt; das Zusammenwirken aller Teilstreitkräfte und der Kampf der Verbundenen Waffen gegen einen ebenbürtigen Gegner müssen stärker und vermehrt geübt werden. Es geht nicht darum, die derzeitigen Armeen stark zu vergrößern. Vielmehr müssen jene am Papier vorhandenen Verbände auch real einsetzbar sein. Auch das kostet Geld. Aber während der finanzielle Nachholbedarf sich in Grenzen hält, ist der Nachholbedarf in den Köpfen politischer Entscheidungsträger und vor allem in der öffentlichen Meinung noch ein erheblicher. Man hält zu sehr fest am Glauben der eigenen Überlegenheit, wie auch am Wunschdenken, die gegenwärtige Bedrohung Europas durch Russland noch durch Dialog und gute Worte aus der Welt schaffen zu können. Das verkennt, dass gegenüber einem Gegner, der auf militärische Machtpolitik setzt, die Fähigkeit zur militärischen Abschreckung immer noch ein unverzichtbares Mittel zur Friedenssicherung ist.
[1] Daten und weitere Angaben über militärische Kräfteverhältnisse sind entnommen: The International Institute for Strategic Studies, The Military Balance 2017, London;
[2] Im Einzelnen: eine Panzer‑, drei Mot.-Schützen- und drei Luftlandedivisionen, vier Luftlandeaufklärungs- bzw. Spezialkräftebrigaden, zwei Panzer‑, sieben Mot.-Schützen‑, zwei Marineinfanteriebrigaden, drei Brigaden taktische Raketentruppen, drei Artillerie und drei Luftverteidigungsbrigaden, sowie ein Marineinfantrieregiment.
[3] Im Einzelnen: eine Panzerkavallerie- und zwei Mechanisierte Divisionen (alle polnisch), zwei Panzer‑, fünf Mechanisierte‑, eine Marineinfanterie‑, zwei Luftlande‑, 13 Infanterie‑, eine Artillerie‑, und eine Luftverteidigungsbrigade, fünf Machanisierte Infantrie‑, zwei Infanterie, ein Spezialkräfte‑, drei Aufklärungs‑, ein Marineinfanterie‑, drei Luftlande- und drei Artilleriebataillone
[4] Im Einzelnen: sieben Mechanisierte‑, zwei Infanterie‑, eine Artillerie- und zwei Brigaden Fallschirmjäger- bzw. Spezialeinsatzkräfte sowie vier Artillerie- und drei Fliegerabwehrregimenter, und vier Aufklärungsbataillone
[5] Im Einzelnen: einer Panzer- und einer Luftlandedivision, drei Panzer‑, drei Mechanisierte‑, zwei Marineinfanterie‑, einer Luftsturm‑, zwei Raketen‑, drei Artillerie‑, drei Fliegerabwehr‑, und einer Aufklärungsbrigade sowie ein Artillerie- und ein Fliegerabwehrregiment. Dabei wurden die ortsgebundenen Kräfte des Militärbezirks Süd nicht mitberechnet. In Abchasien, Südossetien, Tschetschenien, und Armenien eingesetzte Truppen könnten selbst im Konfrontationsfall mit der NATO kaum abgezogen werden, da sie lokale Aufgaben wahrnehmen.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.