Wie weiter? Thesen zur politische Lage

SEPTEMBER 4, 2017 - BERLIN: an election poster showing Christian Lindner (FDP) and Katrin Goering-Eckart (Green Party) to the upcoming general elections in Germany.
Foto: 360b /​ Shutterstock.com

Jamaika ist gescheitert, weil wesent­liche Akteure den Sturz der Kanzlerin und die Neuauf­stellung der Parteien im Wähler­markt als wichtigste politische Aufgabe ansehen. Dies könnte Verwer­fungen der politi­schen Landschaft nach sich ziehen.

1. Es gibt eine Regierung. Es gibt eine Verfassung. Und die sieht auch und gerade für den jetzt einge­tre­tenen Fall kluge Verant­wor­tungs­ver­teilung der Verfas­sungs­organe vor. Staats­krise? – Fehlanzeige.

2. Man muss jetzt mal verstärkt dem fake entge­gen­treten, die SPD sei in der Opposition. Eine Opposition setzt eine Regierung voraus, die es aber nicht gibt, und die sich auch nicht abzeichnet. Es gibt eine geschäfts­füh­rende Regierung, womöglich noch lange, der die SPD aber angehört. Zu dieser kann sie nicht in Opposition treten. Diese Lage hat die SPD übrigens bewusst herbei­ge­führt, indem ihre Minister (Ausnahme, aus Gründen: Andrea Nahles) vor der Konsti­tu­ierung des neuen Bundes­tages NICHT zurück­ge­treten sind und sich in ihren Ressorts durch Unions­po­li­tiker haben ersetzen lassen.

3. FDP-bashing ist jetzt leicht und natürlich auch angebracht. Aber das Problem um die Regie­rungs­bildung reicht tiefer: Es gibt angefangen von der AfD über die CSU, tief in die CDU hinein und neben der SPD (Opposi­ti­ons­rolle und jetzt Neuwahl­wunsch zur Desta­bi­li­sierung der Kanzlerin) offenbar eben auch in der FDP die Überzeugung, die wichtigste politische Aufga­ben­stellung sei die Besei­tigung einer verirrten, planlosen, antriebs­losen, beratungs­re­sis­tenten etc. etc. Bundes­kanz­lerin. Sowohl zur Eindämmung oder Rückab­wicklung des gewach­senen Rechts­po­pu­lismus als auch zur Wieder­ge­winnung der minimierten eigenen Wähler­schaft (CSU, CDU, SPD) bzw. zu deren weiteren Maximierung (FDP) seien der Sturz der Kanzlerin und die Neuauf­stellung der Parteien im Wähler­markt der richtige und am Ende für alle profi­table Ausgangspunkt.

4. Die Sondie­rungen sind somit nur von der Merkel-Entourage in der Union, Randele­menten der CSU und der übergroßen Mehrheit der Grünen ernsthaft auf Einigung hin verhandelt worden. FDP und größte Teile der CSU (mit oder wahrscheinlich schon ohne Seehofer) hatten von Anfang an vor, die Versuchs­an­ordnung allein zur Herbei­führung von Neuwahlen zu nutzen.

5. Der einzige Weg für die Union, die Kanzler­schaft Angela Merkels zu beenden, ist die Wahl eines neuen CDU-Vorsit­zenden auf einem Bundes­par­teitag mit dem erklärten Willen, in eine Neuwahl zu gehen. Man müsste sich dann im Bundestag auch im dritten Wahlgang der Kanzler(innen)-Wahl enthalten und dem Bundes­prä­si­denten verkli­ckern, dass die Situation erst durch eine Neuwahl stabiler würde. Für die CDU als geborene Staats­partei ein absurdes, hasar­deur­haftes Vorgehen an den Erwar­tungen ihrer Wähler­schaft vorbei, auch wenn Merkel jetzt runter­ge­leit­ar­tikelt wird.

6. Abgesehen davon, dass man erst einmal einen CDU-Chef und Kanzler­kan­di­daten finden müsste, der intern mehrheits­fähig und mindestens so populär und wähler­at­traktiv wie Merkel wäre, müsste dieser ja nach dem Willen der Merkel-Gegner in der Union die Partei­achse nach rechts verschieben, die die Union seit 12 Jahren zur unaus­weich­lichen und vielfältig koali­ti­ons­kom­pa­tiblen Regie­rungs­partei gemacht hat.

7. Egal ob nun Schulz gegen Altmeier, Nahles gegen Spahn, Scholz gegen Bouffier oder was auch immer die nächsten Monate an Konstel­la­tionen ergeben, es wäre der erste Wahlkampf in Deutschland, in dem kein Kanzler­bonus im Spiel ist. Nahles oder Scholz würden die SPD recht rasch auf Augenhöhe mit der Union führen. Dazu tragen die Unruhe in der dann umgewälzten CDU, der wachsende und nicht rasch zu heilende Macht­kampf in der CSU im Landtags­wahljahr, die unheilbar zerstrittene Linke, das Scheitern der Jamaika-Option der Grünen, und mit all dem die Aussicht auf einen echten Macht­wechsel bei. Ihr schlüs­siges Wahlziel könnte also dann eine große Koalition unter SPD-Führung sein.

8. Die CDU-Wähler­schaft würde sich in alle Richtungen fragmen­tieren: Schwarz-grün-Anhänger zu den Grünen, Schwarz-grün-Gegner zur FDP, enttäuschte Frauen nach Merkels Sturz und christlich-soziale nach Recht­s­truck der Union zu Nahles bzw. der SPD, Hater und Frustrierte bleiben großteils bei der AfD oder werden in einem ersten Schritt zurück zu den etablierten Parteien eher erst einmal Nicht­wähler. Generell wird die Wahlbe­tei­ligung gleich­mäßig aber empfindlich sinken, auch oder gerade weil der Wahlkampf vollstän­digen von rechten und linken populis­ti­schen Ansätzen dominiert sein wird.

9. Die Rechts­ver­schieber der Union deuten gerne auf das „Vorbild“ Liste Kurz/​ÖVP. Dessen relativer Wahlsieg ist aber auf einem Niveau erfolgt, das unter Merkels letztem Ergebnis liegt und die FPÖ nur deshalb eingehegt hat, weil mit der Wahl der ÖVP die Regie­rungs­be­tei­ligung der FPÖ sicherer zu erzielen war als mit der Wahl der FPÖ selbst. Davon träumt die AfD.

10. Wie lang kann man auf Rädern ohne Reifen durch die Republik rollen, also eine geschäfts­füh­rende Regierung und anschließend nach Kanzlerwahl in der dritten Runde eine Minder­heits­re­gierung führen? Wahrscheinlich sehr lange.

11. Im jewei­ligen Kern sind CDU und Grüne derzeit die gefühlten „Staats­par­teien“ der Bundes­re­publik, die auch deren europäische Rolle und die inter­na­tionale Positio­nierung in der neo-populis­ti­schen Ära voll im Blick haben. Mit der FDP und zuvor schon der SPD als Mit-mir-nicht-Demokraten, die das Sofa der Regie­rungsbank vorziehen, ist einst­weilen kein Staat zu machen.

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