Wie weiter? Thesen zur politische Lage

Jamaika ist gescheitert, weil wesentliche Akteure den Sturz der Kanzlerin und die Neuaufstellung der Parteien im Wählermarkt als wichtigste politische Aufgabe ansehen. Dies könnte Verwerfungen der politischen Landschaft nach sich ziehen.
1. Es gibt eine Regierung. Es gibt eine Verfassung. Und die sieht auch und gerade für den jetzt eingetretenen Fall kluge Verantwortungsverteilung der Verfassungsorgane vor. Staatskrise? – Fehlanzeige.
2. Man muss jetzt mal verstärkt dem fake entgegentreten, die SPD sei in der Opposition. Eine Opposition setzt eine Regierung voraus, die es aber nicht gibt, und die sich auch nicht abzeichnet. Es gibt eine geschäftsführende Regierung, womöglich noch lange, der die SPD aber angehört. Zu dieser kann sie nicht in Opposition treten. Diese Lage hat die SPD übrigens bewusst herbeigeführt, indem ihre Minister (Ausnahme, aus Gründen: Andrea Nahles) vor der Konstituierung des neuen Bundestages NICHT zurückgetreten sind und sich in ihren Ressorts durch Unionspolitiker haben ersetzen lassen.
3. FDP-bashing ist jetzt leicht und natürlich auch angebracht. Aber das Problem um die Regierungsbildung reicht tiefer: Es gibt angefangen von der AfD über die CSU, tief in die CDU hinein und neben der SPD (Oppositionsrolle und jetzt Neuwahlwunsch zur Destabilisierung der Kanzlerin) offenbar eben auch in der FDP die Überzeugung, die wichtigste politische Aufgabenstellung sei die Beseitigung einer verirrten, planlosen, antriebslosen, beratungsresistenten etc. etc. Bundeskanzlerin. Sowohl zur Eindämmung oder Rückabwicklung des gewachsenen Rechtspopulismus als auch zur Wiedergewinnung der minimierten eigenen Wählerschaft (CSU, CDU, SPD) bzw. zu deren weiteren Maximierung (FDP) seien der Sturz der Kanzlerin und die Neuaufstellung der Parteien im Wählermarkt der richtige und am Ende für alle profitable Ausgangspunkt.
4. Die Sondierungen sind somit nur von der Merkel-Entourage in der Union, Randelementen der CSU und der übergroßen Mehrheit der Grünen ernsthaft auf Einigung hin verhandelt worden. FDP und größte Teile der CSU (mit oder wahrscheinlich schon ohne Seehofer) hatten von Anfang an vor, die Versuchsanordnung allein zur Herbeiführung von Neuwahlen zu nutzen.
5. Der einzige Weg für die Union, die Kanzlerschaft Angela Merkels zu beenden, ist die Wahl eines neuen CDU-Vorsitzenden auf einem Bundesparteitag mit dem erklärten Willen, in eine Neuwahl zu gehen. Man müsste sich dann im Bundestag auch im dritten Wahlgang der Kanzler(innen)-Wahl enthalten und dem Bundespräsidenten verklickern, dass die Situation erst durch eine Neuwahl stabiler würde. Für die CDU als geborene Staatspartei ein absurdes, hasardeurhaftes Vorgehen an den Erwartungen ihrer Wählerschaft vorbei, auch wenn Merkel jetzt runtergeleitartikelt wird.
6. Abgesehen davon, dass man erst einmal einen CDU-Chef und Kanzlerkandidaten finden müsste, der intern mehrheitsfähig und mindestens so populär und wählerattraktiv wie Merkel wäre, müsste dieser ja nach dem Willen der Merkel-Gegner in der Union die Parteiachse nach rechts verschieben, die die Union seit 12 Jahren zur unausweichlichen und vielfältig koalitionskompatiblen Regierungspartei gemacht hat.
7. Egal ob nun Schulz gegen Altmeier, Nahles gegen Spahn, Scholz gegen Bouffier oder was auch immer die nächsten Monate an Konstellationen ergeben, es wäre der erste Wahlkampf in Deutschland, in dem kein Kanzlerbonus im Spiel ist. Nahles oder Scholz würden die SPD recht rasch auf Augenhöhe mit der Union führen. Dazu tragen die Unruhe in der dann umgewälzten CDU, der wachsende und nicht rasch zu heilende Machtkampf in der CSU im Landtagswahljahr, die unheilbar zerstrittene Linke, das Scheitern der Jamaika-Option der Grünen, und mit all dem die Aussicht auf einen echten Machtwechsel bei. Ihr schlüssiges Wahlziel könnte also dann eine große Koalition unter SPD-Führung sein.
8. Die CDU-Wählerschaft würde sich in alle Richtungen fragmentieren: Schwarz-grün-Anhänger zu den Grünen, Schwarz-grün-Gegner zur FDP, enttäuschte Frauen nach Merkels Sturz und christlich-soziale nach Rechtstruck der Union zu Nahles bzw. der SPD, Hater und Frustrierte bleiben großteils bei der AfD oder werden in einem ersten Schritt zurück zu den etablierten Parteien eher erst einmal Nichtwähler. Generell wird die Wahlbeteiligung gleichmäßig aber empfindlich sinken, auch oder gerade weil der Wahlkampf vollständigen von rechten und linken populistischen Ansätzen dominiert sein wird.
9. Die Rechtsverschieber der Union deuten gerne auf das „Vorbild“ Liste Kurz/ÖVP. Dessen relativer Wahlsieg ist aber auf einem Niveau erfolgt, das unter Merkels letztem Ergebnis liegt und die FPÖ nur deshalb eingehegt hat, weil mit der Wahl der ÖVP die Regierungsbeteiligung der FPÖ sicherer zu erzielen war als mit der Wahl der FPÖ selbst. Davon träumt die AfD.
10. Wie lang kann man auf Rädern ohne Reifen durch die Republik rollen, also eine geschäftsführende Regierung und anschließend nach Kanzlerwahl in der dritten Runde eine Minderheitsregierung führen? Wahrscheinlich sehr lange.
11. Im jeweiligen Kern sind CDU und Grüne derzeit die gefühlten „Staatsparteien“ der Bundesrepublik, die auch deren europäische Rolle und die internationale Positionierung in der neo-populistischen Ära voll im Blick haben. Mit der FDP und zuvor schon der SPD als Mit-mir-nicht-Demokraten, die das Sofa der Regierungsbank vorziehen, ist einstweilen kein Staat zu machen.
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