Gabriels Grundsatzrede: Abgesang auf Amerika und Abschied von einer normativen Außenpolitik
Nach Ansicht des amtierenden Außenministers geht es heute um nüchterne Realpolitik statt naiven „Rechtsidealismus“. Sollte dies künftig der Kompass deutscher Außenpolitik sein, steht viel auf dem Spiel.
Sigmar Gabriels außenpolitische Grundsatzrede vor dem „Berlin Foreign Policy Forum“ der Körber-Stiftung (die SZ berichtete vorab) hat widersprüchliche Reaktionen hervorgerufen. Manche lesen die Rede in erster Linie als Plädoyer für ein vereinigtes, global handlungsfähiges Europa. Gabriels verbale Referenz an die transatlantischen Allianz („Die USA bleiben unser wichtigster strategischer Partner“) gilt schon fast als Überraschung. Die anderen hörten eher die Töne, die auf eine außenpolitische Neuorientierung abzielen. Gabriel beschwor einen Umbruch der internationalen Ordnung, von dem man nicht weiß, wohin er führt. Ausgelöst wird er durch den relativen Machtverlust der USA. Amerika verliert seine globale Dominanz, verbunden mit dem neuen Selbstverständnis der US-Administration: Sie sieht Amerika nicht mehr als Garant der multilateralen Weltordnung, sondern als Staat, der seine nationalen Interessen mal mit, mal gegen andere Staaten verfolgt. Das Völkerrecht werde durch das „freie Spiel der Kräfte“ abgelöst.
Die Räume, die durch die Abdankung der USA als Ordnungsmacht im Nahen und Mittleren Osten und in Afrika entstehen, werden von selbstbewusst auftrumpfenden autoritären Mächten wie Russland, China, dem Iran und der Türkei gefüllt. Sie sind bereit, eine „Großmachtsteuer“ zu zahlen, also die finanziellen und politischen Kosten aufzubringen, um die Rolle einer Großmacht (zumindest einer Regionalmacht) zu spielen.
Hier sieht Gabriel Nachholbedarf für die EU: Wollen wir Hammer oder Amboss sein? Wenn Europa die Welt nicht mitgestalte, werde es von anderen gestaltet. Ein Europa, das als „reich, aber schwach“ wahrgenommen wird, erweckt Begehrlichkeiten bei denen, die auf eine Politik der Stärke setzen. Es ist nur wenig übertrieben, Gabriels Rede als Aufruf an den europäischen Willen zur Macht zu interpretieren. Das ist nicht verkehrt, wenn damit die Bereitschaft und Fähigkeit verstanden wird, die eigenen Werte und Interessen in der internationalen Arena zu vertreten und die Welt nicht den Skrupellosen zu überlassen.
Gabriel nannte Syrien als Beispiel, wo die Zurückhaltung der USA von Russland genutzt wurde, um sich zur Ordnungsmacht im Nahen und Mittleren Osten aufzuschwingen. Er vermied allerdings jede Konkretisierung, welche Rolle die EU künftig in solchen Konflikten spielen soll. War es nicht ein sozialdemokratischer Außenminister, der gemeinsam mit Kanzlerin Merkel jedes militärische Engagement des Westens in Syrien als bodenloses Abenteuer ablehnte, als dafür noch Zeit und Gelegenheit war? War das von heute aus gesehen ein Fehler, weil damit die Eskalation des Krieges befördert und die Allianz Putin-Assad-Teheran gestärkt wurde? Man wüsste doch gern genauer, was unter dem neu entdeckten internationalen Gestaltungswillen verstanden wird.
Dass es künftig robuster zugehen soll, konnte man der Rede durchaus entnehmen. Gabriel berief sich auf Professor Münkler als Kronzeugen für eine machtbewusste, pragmatisch-realistische Außenpolitik, die Abschied vom Menschenrechtsidealismus nimmt. Wir sollten uns die Welt nicht so interpretieren, wie wir sie gerne sähen, sondern sie so nehmen, wie sie ist. Was heißt das aber für die bisherige Maxime einer „normativen Außenpolitik“, die sich an universellen Werten und am Völkerrecht orientiert? Das blieb im vagen. Deutlich war nur, dass es künftig weniger um Werte als um Interessen gehen soll. Man muss das wohl so interpretieren, dass Demokratie und Menschenrechte in Zukunft noch weniger ein Maßstab für die deutsche (und europäische) Außenpolitik sein sollen, wenn es um „gute Beziehungen“ zu China, Russland, dem Iran etc. geht. Wenn man die Verteidigung universeller Werte, wie sie in der UN-Charta verankert sind, nicht mehr unter die deutschen Interessen fasst, spielt man das eine gegen das andere aus. Das wäre der Abschied von einer normativen Außenpolitik.
Auffällig war die beinahe obsessive Abgrenzung von den USA. Trump sei kein Betriebsunfall, sondern Ausdruck einer tiefer liegenden Veränderung der USA, die mit der Abwendung von Europa und der Absage an eine kooperative Weltordnung einhergehe. Es gebe kein Zurück zu den alten Zeiten transatlantischer Partnerschaft, in denen sich die Europäer im Zweifel hinter der Schutzmacht Amerika verstecken konnten. Europa sei für Washington eher ein Konkurrent als ein Partner. Die amerikanische Politik sei in zentralen Fragen diametral gegen europäische Interessen gerichtet. Explizit nannte er den Iran-Deal, die vom Kongress beschlossenen Sanktionen gegen russische Energieexporte in die EU und die Gefahr eines neuen atomaren Wettrüstens auf europäischem Boden. Hier blitzte die alte Pershing II – Rhetorik wieder auf: Deutschland als potenzielles Opfer amerikanischer Rüstungspolitik. Von den Gegenkräften der amerikanischen Politik und Gesellschaft, die bis in das State Department wirksam sind, war allenfalls in einem Nebensatz die Rede, in dem er dafür eintrat, die Verbindungen in andere Sektoren der amerikanischen Politik und Gesellschaft zu stärken. Dennoch war seine Rede viel eher ein Plädoyer für die Abkopplung Europas von den USA als eine Aufforderung, alles zu tun, um die transatlantische Allianz notfalls auch gegen Trump zu verteidigen. Kein Zufall, dass die NATO schlicht nicht vorkam. Dieses Kunststück muss man als deutscher Außenminister erstmal bringen. Der oben zitierte Satz, dass die USA „unser wichtigster strategischer Partner bleiben“, wirkte vor diesem Hintergrund wie ein pflichtgemäßes Lippenbekenntnis ohne jede Überzeugungskraft.
Dass Gabriel die russische Annexion der Krim und die „Einmischung“ (eine milde Umschreibung für einen verdeckten Krieg) in der Ostukraine kritisierte, rechneten ihm manche Zuhörer schon hoch an. Man ist bescheiden geworden. Wer genauer hinhörte, konnte erkennen, wie Gabriel die Sanktionen abwerfen und endlich wieder zu partnerschaftlichen Beziehungen zum Kreml zurückkehren will. Das Zauberwort heißt „Blauhelm-Mission im Donbass“. Eine internationale Friedenstruppe soll einen dauerhaften Waffenstillstand und den Abzug der schweren Waffen von der Frontlinie sichern. Ist das vollbracht, könnten die Sanktionen aufgehoben werden. Die EU stünde dann bereit, den Wiederaufbau des Donbass zu finanzieren. Der springende Punkt ist, dass Gabriel hartnäckig die entscheidende Frage umgeht: wer nämlich künftig die politische Souveränität in den Gebieten innehaben soll, die heute von Putins Stellvertretern kontrolliert werden. Sein „Friedensplan“ ist perfekt mit einer Verfestigung der Spaltung der Ukraine und einem dauerhaften russischen Protektorat im Donbass vereinbar. Vom Minsker Abkommen bliebe dann nur noch der Waffenstillstand, von einem heißen ein eingefrorener Konflikt.
Gabriel zielt auf eine Revision der deutschen und europäischen Politik gegenüber Russland und der Ukraine. Sein Ziel ist ein Arrangement mit Putin auf der Basis des status quo. Das passt zu seinem Gerede von einer nüchternen Realpolitik statt eines naiven „Rechtsidealismus“. Wenn das künftig der Kompass deutscher Außenpolitik sein soll, steht mehr auf dem Spiel als die Unabhängigkeit und territoriale Integrität der Ukraine. Dann kommt die europäische Friedensordnung ins Rutschen: die Unverletztlichkeit der Grenzen, die Anerkennung gleicher Souveränität, der Gewaltverzicht. Man darf auf die Verhandlungen um eine erneute große Koalition gespannt sein.
Der Text wurde am 6. Dezember 2017 im Tagesspiegel veröffentlicht.