Nein, nicht alles ist düster – Appelfeld, Levi, Glucksmann, Sperber und all die anderen: Erinnerung braucht kein Ornament

Foto: Copyright Marianne Fleitmann

Die neue Folge der Kolumne „On the road“ von Marko Martin: Eine Erinnerung an den jüdischen Schrift­steller Aharon Appelfeld. Martin stellt ihn in eine Reihe mit anderen Überle­benden des Holocaust, deren zentrale Botschaft lautet: „Es ist geschehen, folglich kann es wieder geschehen.“ Sie sind Zeugen der Fragi­lität der Zivili­sation, die nie davor sicher ist, in Barbarei zu kippen.

Seltsame Koinzidenz: Gleich zu Beginn des Jahres, das die haupt­be­ruf­lichen Kommen­ta­toren der Republik bereits jetzt in abzuar­bei­tende Gedenktage (1918–1938-1968) einge­teilt haben, starb in Israel der Schrift­steller Aharon Appelfeld. 1932 in der Nähe von Czernowitz geboren, war Appelfeld das, was man allzu gern einen „Jahrhun­dert­zeugen“ nennt. Der sanft­mütige Mann mit den freundlich-wachen Augen unter der jungenhaft wirkenden Schirm­mütze, die er bis ins hohe Alter hinein trug, hätte freilich einen solchen Podest­namen verschmäht – so wie ihm alles suspekt war, was mit pompöser Rhetorik vom Konkreten wegflutschte.

„Es ist das Schicksal von Abstrak­tionen, dass sie dich für einen Moment packen und sich dann verflüch­tigen. Nur Wörter, die Bilder auslösen, merkst du dir.“ Als er acht Jahre alt war, zerbrach die bildungs­bür­ger­liche Idylle seiner Kindheit; die Mutter wurde von rumäni­schen Faschisten erschossen, er selbst wurde während der Depor­tation von seinem Vater getrennt und überlebte den Krieg in den ukrai­ni­schen Wäldern als angeblich arisches Kind, das vergessen musste, um zu überleben. Als ich Aharon Appelfeld letzten Herbst in Rechavia besuchte, in Westje­ru­salems wohl europä­ischstem Stadtteil, saß vor mir ein 85jähriger Autor von knapp fünfzig auf Hebräisch geschrie­benen und in nahezu alle Weltsprachen übersetzten Romanen, die jene damalige Zeit wieder und wieder umkreisen. Weshalb aber ist keines seiner Bücher geschwätzig und redundant, sondern im Gegenteil berührend sensua­lis­tisch, getragen vom Vertrauen, dass Vergan­genes eben sehr wohl lebendig erzählbar ist? „Ich habe zeitlebens versucht, meinen Stil von Floskeln freizu­halten und auch auf Botschaften zu verzichten. Zu viel Reden über Gefühle führt uns in ein Labyrinth der Senti­men­ta­li­täten, zu abgedro­schenen Phrasen. Ein Gefühl aber, das aus einer Tat herrührt, ist klar wie Kristall.“

Wenn am 27. Januar überall in Deutschland erneut die erwart­baren Holocaust-Reden gehalten werden, wird wohl auch diesmal wieder der Name Aharon Appelfeld fehlen – die üblichen, längst ihres Wider­haken-Sinns entklei­deten Vergan­gen­heits-Sentenzen von  George de Santayana („Wer sich nicht an die Vergan­genheit erinnern kann, ist dazu verdammt, sie zu wieder­holen“) und William Faulkner („Das Vergangene ist nicht tot, es ist nicht einmal vergangen“), tun’s ja vermeintlich auch.

Wer jedoch auch nur eines von Appel­felds Büchern gelesen hat, erhält genau eine Ahnung von dem, was all die wohlbe­stallten Redner (bzw. ihre Wikipedia-sozia­li­sierten Reden­schreiber) vergeblich zu erhaschen suchen. Es geht um das Entschei­dende, um die Fragi­lität von Gesell­schaften und indivi­du­eller Existenz, um die Vorläu­figkeit von Stabi­lität und humaner Balance, um die stets präsente Gefahr des „Kippens“. André Glucksmann (auch er ein jüdisches Kriegskind, auch er – aufgrund seines erfah­rungs­ge­sät­tigten Nicht-Pazifismus – beinahe eine Unperson im juste milieu der deutschen Aufar­bei­tungs-Plapperer) hatte just diesem Kippen eine ganze Philo­sophie gewidmet, während der aus Galizien stammende Manès Sperber, in den achtziger Jahren ein vehementer Kritiker der bundes­deut­schen Friedens­be­wegung, dies zur Lebens-Maxime erkor: „Immer von der Möglichkeit des Bruchs her denken.“

Primo Levi, ein anderer Luzider, dessen Bücher hierzu­lande viel weniger feuil­le­to­nis­ti­sches Interesse finden als die zigste Dechif­frierung herme­ti­scher Paul-Celan-Lyrik, brachte es ebenso lapidar auf den Punkt: „Es ist geschehen, und folglich kann es wieder geschehen: Darin liegt der Kern dessen, was wir zu sagen haben. Es kann geschehen, überall. Weder kann ich noch will ich behaupten, dass es geschehen wird.“

Der gegen­wärtige deutsche Blick – zumindest was die kommen­tie­rende Klasse betrifft – ist ein anderer. Jahrestags-Fetischismus, selbst­ver­liebte Volten der Erinne­rungs-Reflexion zwischen KZ-Sakra­li­sierung und einer alles mit allem gleich­set­zenden Banali­sierung, dazu ein wenig Klezmer-Kitsch, Glasperlen-Polemik über „die Probleme heutiger Vermit­tel­barkeit“ und inzwi­schen sogar ein dank „Dritt­mitteln“ boomender akade­mi­scher Zweig, der „das Holocaust-Narrativ reflek­tiert“. Doch spätestens, wenn in solchen Texten die forsch gegen­derte Rede ist von „Juden und Jüdinnen mit verba­li­sierter Genozid-Erfahrung“, schleicht sich der Verdacht ein, dass die Nachkommen der Täter („und Täterinnen“) nichts begriffen haben. Freilich führt die Polemik gegen solch insti­tu­tio­na­li­siertes Geschwätz selbst auf Abwege der Selbst­ge­rech­tigkeit. Denn zumindest dieses “Problem“ ist ja in Wirklichkeit gar keines: Jeder, der (wie es etwa in italie­ni­schen Schulen Usus ist) Primo Levis schnör­kel­losen Auschwitz-Bericht „Ist das ein Mensch?“ wirklich gelesen hat, wird ab da ein erkennt­nis­för­derndes Erschrecken spüren, ein Unbehagen, das konkret genug ist, um danach nicht in nihilis­tische, pseudo-kritische Regie­theater-Mätzchen zu flüchten.

Die entschei­denden Bücher sind nämlich bereits geschrieben. Es braucht lediglich immer wieder Leser, die Empathie nicht mit Senti­men­ta­lität verwechseln, Gegen­warts-Wachsamkeit nicht mit Unter­gangs-Rhetorik. „Das Fundament“, hatte Aharon Appelfeld zum Abschied gesagt und ermutigend gelächelt, „ist immer in Gefahr, und die Menschen sind schwach. Doch nur ein Mensch, der seine Schwächen kennt, kann sie manchmal überwinden. Nein, nicht alles ist düster.“


Die Romane von Aharon Appelfeld sind auf Deutsch im Rowohlt-Verlag erschienen, zuletzt „Meine Eltern“ (2017), „Ein Mädchen nicht von dieser Welt“ (2017) und „Alles, was ich liebte“ (2016).

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