Drei Jahre nach Minsk II: Wo stehen wir heute?

Quelle: Shutter­stock

Rekapi­tu­lation eines stockenden Friedens­pro­zesses: Das zweite Minsker Abkommen von Februar 2015 sollte den Krieg in der Ostukraine beenden und einen politi­schen Prozess einleiten – bisher ohne Erfolg.

Rückblick: Am 27. Februar 2014 besetzen russische Spezi­al­kräfte das Parlament auf der Krim. In einem Parforceritt wird die Annexion der Krim durch­ge­zogen: Dem Pseudo- Referendum, das am 16. März unter vorge­hal­tener Waffe statt­findet, folgt bereits am 18. März die faktische Einver­leibung durch Russland. Das Ganze war minutiös vorbereitet.

Der Westen, vollkommen überrumpelt von dieser unerwar­teten Entwicklung, reagiert verschreckt, aber richtig. Europa und die USA stellen klar, dass es keinerlei militä­rische Antwort geben wird. Statt­dessen werden maßvolle Wirtschafts­sank­tionen verhängt. Insgeheim hoffen manche, dass Putin mit der Annexion der Krim „satt“ sei und den Sprung aufs ukrai­nische Festland nicht wagen würde. Damit unter­schätzte der Westen die Gelüste des Kremls.

Eskalation im Donbas

Die ukrai­nische Armee war weder auf der Krim noch später im Donbas auf einen Angriff vorbe­reitet. Es gab praktisch keine funktio­nie­rende Armee. Offiziere, die noch aus den Zeiten der gemein­samen sowje­tische Armee stammten, eine antike Ausrüstung, Misswirt­schaft und Korruption und keinerlei Erfahrung in der Abwehr eines Angriffs machten die russische Invasion unter Zuhil­fe­nahme von Kolla­bo­ra­teuren aus dem Donbas zu einem militä­ri­schen Spaziergang.

Eine UN-Mission im Donbas muss einen politi­schen Prozess flankieren, der zu freien und fairen Wahlen führt und die Reinte­gration der besetzten Gebiete in die Ukraine sichert. 

So wie Milošević 1991 das Diktum formu­lierte „Wo ein Serbe lebt, ist serbi­scher Boden“, bemühte die Kreml-Propa­ganda den unabweis­baren Schutz von vermeintlich bedrohten „russi­schen“ Bürgern durch einen faschis­ti­schen Maidan. Der Mythos von faschis­ti­schen Aufständen war alles andere als neu – er wurde vom Kreml bereits zur Nieder­schlagung der Freiheits­be­we­gungen in Berlin 1953, Ungarn 1956 und Tsche­chien 1968 benutzt.

Es kam einem kleinen Wunder gleich, dass trotz der drama­ti­schen Desor­ga­ni­sation innerhalb des ukrai­ni­schen Militärs dennoch im August 2014 die sogenannten „Separa­tisten“ weitgehend zurück­ge­drängt werden konnten. Das wollte der Kreml nicht zulassen. Mit einem massiven Einsatz von Truppen und schweren Waffen aus Russland wurde die ukrai­nische Armee zurück­ge­worfen. Zu einem besonders drama­ti­schen Kapitel gehört die Einkes­selung von mehr als 1.000 ukrai­ni­schen Soldaten in Ilowajsk. Die Autorin traf verzwei­felte Soldaten, denen es gelungen war, dem Kessel zu entkommen und bekam eine Idee von dem Grauen, das diese jungen Männer durch­ge­macht hatten.

Minsk I

Vor diesem Hinter­grund kam es am 5. September zu einem ersten Treffen in Minsk. Unter der Hoheit der OSZE mit der anerkannten Diplo­matin Heidi Tagliavini trafen sich der ehemalige ukrai­nische Präsident Leonid Kutschma, der russische Botschafter in der Ukraine, Michail Surabow und die Rebel­len­führer Alexander Sachart­schenko und Igor Plotnizki. Das Ergebnis war ein Maßnah­men­paket aus 12 Punkten, die neben einer Waffenruhe unter anderem einen Gefan­ge­nen­aus­tausch, eine OSZE-Beobach­ter­mission an der ukrai­nische-russi­schen Grenze, einen Sonder­status für den Donbas sowie vorge­zogene Regio­nal­wahlen vorsahen.

Der Waffen­still­stand war von Anfang an löchrig wie ein Schweizer Käse. Die prorus­si­schen Truppen nutzten die Gelegenheit, um die Erobe­rungen fortzu­setzen und ein Gebiet einzu­nehmen, das etwa der Fläche Hamburgs entspricht. Die ukrai­nische Armee befand sich in einer kriti­schen Lage.

Zweiter Anlauf in Minsk

Das rief die deutsche und franzö­sische Regierung auf den Plan, die unter Beisein von Kanzlerin Angela Merkel und Präsident François Hollande einen neuen Anlauf nahmen, um den Krieg mitten in Europa zu beenden. Verhandelt wurde bis morgens um fünf.

Der russische Präsident war zu einem neuen, zweiten Minsker Abkommen bereit, forderte aber den Vertrags­beginn noch zwei Wochen hinaus­zu­zögern. Offenbar hatte er im Blick, dass die prorus­si­schen Truppen bei Debalzewe etwa 8.000 ukrai­nische Soldaten einge­kesselt hatten und dort noch ein militä­ri­sches Finale statt­finden sollte.

Den Normandie-Vertretern gelang es, die zwei Wochen auf 48 Stunden herun­ter­zu­handeln, woraufhin der ukrai­nische Präsident unter­schrieb. Die Leser mögen selbst entscheiden, ob Poroschenko angesichts der verzwei­felten Situation eine andere Wahl hatte. (Den einge­kes­selten Soldaten in Debalzewe nützte dieser Vertrag jeden­falls nichts mehr, denn der Kessel wurde geschlossen und die Grausam­keiten nahmen ihren Lauf.)

Wo stehen wir heute?

Die OSZE-Mission berichtet sorgfältig von militä­ri­schen Aktivi­täten in der umkämpften Region. Russi­sches Militär, Ausrüstung und Soldaten auf „Urlaubs­mission“ überqueren ungehindert die russisch-ukrai­nische Grenze; der Rubel ist das allge­meine Zahlungs­mittel; die Adminis­tration wird aus Moskau gesteuert; mehr als 1.5 Millionen Menschen haben das Gebiet verlassen.

Der Waffen­still­stand wird immer wieder verletzt. Schar­mützel um bereits vom Krieg zerstörte Gebiete, die eher symbo­li­schen Charakter haben, kosten fast täglich neue Menschen­leben. Kinder in der sog. „grauen Zone“ gehen unter Artil­le­rie­be­schuss zum Lernen in die Schulen. Die Kontakt­linie zwischen den sogenannten „Volks­re­pu­bliken“ Donezk und Luhansk zur freien Ukraine wird immer herme­ti­scher abgeriegelt. In Kyjiw kann man einen gefähr­lichen Unterton im neuen „Reinte­gra­ti­ons­gesetz“ heraus­hören, der dieje­nigen, die im Donbas geblieben sind, nicht als Opfer, sondern als poten­zielle Kolla­bo­ra­teure betrachtet. Das jüngst verab­schiedete, hoch umstrittene Gesetz verhängt faktisch ein Kriegs­recht in den ukrai­nisch-kontrol­lierten Gebieten Donezk und Luhansk.

Manchmal durch­brechen positive Meldungen die ansonsten trüben Nachrichten aus der Region: Die vier Unter­ar­beits­gruppen der Trila­te­ralen Kontakt­gruppe der OSZE, die sich auf Fragen der Sicherheit sowie auf politische, wirtschaft­liche und humanitäre Themen konzen­trieren, arbeiten im Stillen weiter. Einer der wenigen sicht­baren Erfolge war kürzlich ein Austausch von 237 russi­schen gegen 73 ukrai­nische Gefangene. Doch noch immer hoffen viele Familien auf ein Lebens­zeichen oder warten mindestens auf die endgültige Nachricht vom Tod ihrer Liebsten.

Innerhalb westlicher EU-Staaten beginnt die Sankti­ons­front zu bröckeln. Zu tief sitzt der Wunsch, endlich zum business as usual mit dem Kreml zurück­kehren zu können. Der Optimist würde sagen: Minsk II stagniert. Der Pessimist würde sagen: Minsk ist gescheitert.

Was will Putin?

Es ist vollkommen unklar, ob Präsident Putin bereit ist, die Wieder­ein­glie­derung des Donbas in die Ukraine zu akzep­tieren, weil die Kosten der Okkupation und der Sanktionen zu hoch sind. Es spricht einiges für die Gegen­these, dass eine vom Krieg befreite, demokra­tische Ukraine, die wirtschaftlich prospe­rieren könnte, die größere Gefahr für die Stabi­lität des autori­tären Regimes in Moskau wäre.

Vor diesem Hinter­grund ist der Vorschlag von Putin zu bewerten, dass ein inter­na­tio­nales Blauhelm­kon­tingent die OSZE-Aktivi­täten überwachen solle. Die Ehrlichkeit von Putins Vorschlag ist leicht überprüfbar: Wird er die Kontrolle über die ukrai­nisch-russische Grenze den UN-Friedens­truppen überlassen und damit eine geordnete Rückkehr des Donbas in die ukrai­nische Souve­rä­nität ermög­lichen? Oder wird er es dabei belassen wollen, ein Blauhelm-Kontingent an der jetzigen Front­linie zu statio­nieren? Damit würde der bewaffnete Konflikt lediglich einge­froren. Die UN-Truppen würden damit unfrei­willig zu Mithelfern für eine Verfes­tigung des Status quo.

Wie auch immer: Den westlichen Regie­rungen empfiehlt sich, die Belast­barkeit von Moskaus Zusagen realis­tisch zu bewerten. So wurde 2008 in Bezug auf die Abtren­nungen Südos­se­tiens und Abcha­siens von Georgien von russi­scher Seite versi­chert, der OSZE und dem Roten Kreuz Zugang in die Region zu gewähren und die russi­schen „Friedens­truppen“ abzuziehen. Russland hat jedoch entgegen der Abmachung auch knapp zehn Jahre nach Beendigung der militä­ri­schen Ausein­an­der­setzung noch nichts davon umgesetzt, im Gegenteil: faktisch wurde die russische Oberhoheit über die abgetrennten Gebiete – immerhin 20 Prozent des georgi­schen Terri­to­riums – verfestigt. Dieses Szenario droht auch der Ukraine.

Es hängt deshalb alles davon ab, mit welchem Mandat eine inter­na­tionale Friedens­truppe für die Ostukraine ausge­stattet ist. Ein Ende der Kampf­hand­lungen schafft noch keinen dauer­haften Frieden. Eine UN-Mission im Donbas muss einen politi­schen Prozess flankieren, der zu freien und fairen Wahlen führt und die Reinte­gration der besetzten Gebiete in die Ukraine sichert.

Wo bleiben die Budapester Garantiemächte?

Man muss daran erinnern, dass die ukrai­nische Regierung 1994 – damals immerhin dritt­größte Atommacht der Welt – voller guten Glaubens bereit war, ihre Atomwaffen abzugeben. Russland, die USA und Großbri­tannien garan­tierten im Gegenzug die Integrität der Grenzen und die politische Souve­rä­nität der Ukraine. Deshalb gehört die Beendigung des Krieges in der Ostukraine auch in die Verant­wortung der Unter­zeich­ner­staaten des Budapester Proto­kolls. Schon vor vier Jahren hätten neben Moskau, Paris und Berlin auch London und Washington an den Verhand­lungs­tisch gehört. Nach fast vier Jahren Krieg und mehr als zehntausend Toten ist es an der Zeit, dass diese Staaten sich ihrer Verant­wortung stellen, den Krieg mitten in Europa endlich zu beenden und dem Völker­recht Geltung zu verschaffen.

Abrüs­tungs­ver­ein­ba­rungen, die das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen, schaden nicht nur der Ukraine, sondern allen Abrüs­tungs­be­mü­hungen – denn Abrüstung setzt Vertrauen voraus.


Eine gekürzte Fassung dieses Artikels ist auf Tages­spiegel causa erschienen.

 

Textende

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.