Die CDU braucht kein Programm! Sie braucht Personen mit Prinzipien.
Die CDU gilt oft als bloßer Kanzler- und Wahlverein, zusammengehalten durch den Willen zur Macht. Für Markus Schubert greift das zu kurz. Er steigt auf den Dachboden und entstaubt das normative Erbe der Union: Christliche Soziallehre und christliches Menschenbild, Solidarprinzip und Subsidiarität. Wir werden sehen, ob der CDU nicht nur eine personelle, sondern auch eine ideelle Erneuerung gelingt. Ein „must read“ nicht nur für Anhänger der Union.
In Windeseile hat die Bundeskanzlerin und CDU-Vorsitzende, deren baldiger Untergang als einsame Staatsfrau ohne Gespür für die emotionalen Bedürfnisse ihrer Partei bereits abschließend herbeikommentiert worden war, die personellen Weichen neu gestellt: Horst Seehofer dürfte im Hobbykeller bei der Rekonstruktion des Merkel‘schen Schaltplans mit der Zunge schnalzen.
Das Kabinett ist nun zumindest auf CDU-Seite weiblicher und jünger angelegt. Der zum Merkel-Herausforderer hochgejazzte Jens Spahn ist als Fachminister auf einem verminten Politikfeld zu umsichtigen Schritten gezwungen. Er hat damit weniger Gelegenheit, sich als freischaffender Politkünstler zu profilieren – und zugleich mit Julia Klöckner und den CSU-Youngstern im Kabinett Konkurrenten um Aufmerksamkeit und Zuneigung der Unionsbasis um sich. Wie er muss auch Horst Seehofer nun „liefern“, aber nicht mehr aus der Position des Zaunkönigs in der Provinz, sondern in 24/7‑Zuständigkeit. Seehofer muss sich ab sofort an seinen Drohungen, Ankündigungen und Versprechen in der Zuwanderungs- und Integrationspolitik messen lassen.
Das Kabinett war aber für Angela Merkel die kleinere Baustelle. Die entscheidende Neuerung nahm sie als CDU-Vorsitzende vor: Sie eröffnete ihrer Wunschnachfolgerin eine veritable Plattform in der Bundespolitik und installierte Annegret Kramp-Karrenbauer quasi als geschäftsführende CDU-Bundesvorsitzende. Der Parteitag spielte dabei die ihm zugedachte Rolle bei Applaus und Wahlergebnis perfekt. Innerhalb von zwei Jahren wird die Saarländerin nun einerseits die CDU als Partei nach außen wahrnehmbarer und erkennbarer machen und zugleich ihre Mitglieder und Gremien in einer ausgreifenden Debatte über ein neues Grundsatzprogramm zu produktiver Stillarbeit animieren.
Merkel hat mit dieser Personalentscheidung den Fokus in der Nachfolgedebatte in die Partei verschoben. Offenkundig will sie den Übergang bei Parteivorsitz und Kanzlerschaft selbst gestalten und ihrer Wunschnachfolgerin dabei einen risikoarmen Weg eröffnen: Wenn Angela Merkel zu einem selbstgewählten Zeitpunkt einen Wahlparteitag einberuft, ihre Nicht-Wiederkandidatur ankündigt und den Wunsch ausdrückt, dass Regierungs- und Parteiamt im Sinne der Schlagkraft der CDU weiter in einer Hand bleiben sollen, wird sich keine Mehrheit gegen Kramp-Karrenbauer formieren. Nicht auf jenem Parteitag, und danach auch nicht mehr in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, die bei der Kanzlerin-Wahl in der laufenden Legislaturperiode formal am Zug ist. Um in diese Entwicklung eingreifen zu können, hätte Jens Spahn entweder – so wie Andrea Nahles in der SPD – in der Schockphase direkt im Anschluss an die Bundestagswahl nach dem CDU/CSU-Fraktionsvorsitz greifen oder sich dies durch Verzicht auf einen Kabinettsposten für die turnusmäßige Neuwahl der Fraktionsspitze 2019 offenhalten müssen. Aber hier hätte sich das Wuchern mit der Reservekanzlerschaft eben auch rasch als Luftbuchung erweisen können.
Der Rechtsruck der CDU – also eine Orbanisierung oder Verkurzung – auf den SPD, FDP und CSU hoffen, weil er allen dreien Wählerzuwächse bescheren könnte, fällt damit aus. Für eine Partei, die im Vielparteiensystem einer pluralistischen Gesellschaft stabil 15 Prozentpunkte Vorsprung vor der zweitstärksten Kraft hat und mit vier der sechs anderen Parlamentsparteien koalitionsfähig ist, wäre das auch überaus riskant, ohne vielversprechend zu sein. Und damit ist noch nichts über die programmatische Substanz der CDU gesagt, die Schaden nehmen würde.
Damit sind wir bei der zweiten lauten Beschwerde der letzten Wochen: Die Merkel-CDU hat sich sinnentleert, sie weiß selbst nicht mehr, wofür sie steht, hat sich sozialdemokratisiert, braucht wieder Profil, muss sich inhaltlich erneuern, konservativer werden usf. – Nun, was Konservatismus in einer liberalen Demokratie bedeutet, die erfolgreich Wertschöpfung mit globalisiertem Handel betreibt und dabei universellen Werten verpflichtet ist, bleibt eine offene Frage. Die anstehende Programmdebatte wird es an den Tag bringen, oder den Gedanken eben rasch verwerfen.
Aber braucht die CDU eine Programmdebatte? Oder, frecher gefragt: Braucht sie überhaupt ein Programm? Was soll ein früher auf Jahrzehntelange Gültigkeit angelegtes Grundsatzprogramm in unserer digital beschleunigten Zeit leisten, was über die kurz- und mittelfristige Agenda eines Wahlprogramms hinausginge? Das vorige CDU-Grundsatzprogramm stammte von 1994 und „verarbeitete“ die deutsche Einheit. Zuvor gab es nur einziges CDU-Grundsatzprogramm aus dem Jahr 1978, das allerdings unverminderte Tragweite hat. Denn in seinem Kern werden das christliche Menschenbild und die daraus erwachsenden sozialen Prinzipien dekliniert, die die Haltestangen im gesellschaftlichen Wandel sind.
Die CDU braucht kein Programm, sie hat Prinzipien. Sie braucht Personen, die diese Prinzipien kennen, verstehen, anwenden und sie dabei erkennbar werden lassen. Diese Prinzipien entstammen der fortlaufend erneuerten katholischen Soziallehre. In den großen Sozialenzykliken des 19. und 20. Jahrhunderts systematisch durchdekliniert, geht es um ein (theologisch fundiertes, aber auch außerhalb der Glaubenssphäre anschlussfähiges) philosophisches Denkgebäude, das zugleich einen politischen Bauplan liefert.
Ausgangspunkt ist das immer noch recht häufig erwähnte „christliche Menschenbild“. Es betrachtet den Menschen als „Person“– ein Wesen mit zwei Naturen: Neben die Individualnatur (als Resultat seiner je einzigartigen Geschöpflichkeit, aus der sich seine Menschenwürde ableitet) tritt die Sozialnatur des Menschen, der auf den Austausch und Zusammenschluss mit anderen Menschen wesentlich angewiesen ist, auch weil er zu jedem anderen Menschen ein geschwisterliches Verhältnis hat (wir sind alle „Kinder“ Gottes). Während sich das Individualprinzip in der vertikalen persönlichen Beziehung zwischen Gott und Geschöpf ausdrückt, wird die Sozialnatur – Liebe ist dabei das Kommunikationsmittel – auf der horizontalen Ebene zwischen den Menschen nachgebildet.
Dabei stehen beide Prinzipien natürlich nicht nur ergänzend, sondern auch konkurrierend zueinander. In der darauf fußenden Gesellschaftsordnung unterliegen dann das Solidarprinzip und das Subsidiaritätsprinzip einem ähnlichen Spannungsverhältnis. Die Solidarität baut natürlich auf die Sozialnatur des Menschen; er ist in der Lage, seine persönlichen Interessen und Bedürfnisse zu überschreiten und für andere einzustehen, auch weil er das Gemeinwohl als Ziel verfolgt, was für staatliches Handeln tunlichst ebenso gilt. Das Subsidiaritätsprinzip schützt kleinere gesellschaftliche Einheiten – und letztlich auch die Person in ihrer Individualnatur –vor staatlicher Übergriffigkeit. Es beinhaltet aber (das wird oft ausgeblendet) über diesen dem Liberalismus verwandten anti-staatlichen Reflex hinaus umgekehrt die Pflicht zum Eingriff, wo solidarische gesellschaftliche Gruppen, Familien oder eben Einzelne ansonsten überfordert sind.
Das System aufeinander bezogener, in bewusster Abwägung anzuwendender Prinzipien ist erkennbar kein statisches. Es hat eine innere Dynamik, es ist anschlussfähig an Politikentwürfe von Liberalen, Konservativen und Sozialdemokraten – und eben auch und gerade von Ökologen. Zugleich liefert es eine Imprägnierung gegen Liberalismus, Sozialismus und Nationalismus – gegenüber allen Ideologien, die entweder das Individuum oder eine Spielart von Kollektivismus verabsolutieren. Die soziale Marktwirtschaft, die Europa-Idee und das Anstreben eines globalen Gemeinwohls sind logische politische Projekte einer Politik, die Solidarität immer als sich in konzentrischen Kreisen ausbreitend versteht und geradezu motorisch darauf hinwirkt. Nationalismus ist eine Gegenthese.
Die im 19. Jahrhundert begründete katholische Soziallehre hatte zwei entscheidende Defizite, die sich allerdings als heilbar erwiesen: Sie beachtete erstaunlicherweise nicht den Platz des Menschen in der Gesamtschöpfung, war mithin ökologisch blind. Und sie übersah (auch wenn der Kirchenstaat gewiss in der Forstwirtschaft tätig und kundig war) das Prinzip der Nachhaltigkeit, also die maßvolle Anwendung aller anderen Prinzipien mit Blick auf die über die Generationen hinauswirkende Dauerhaftigkeit des Erwirkten. Das ist umso erstaunlicher, als doch sowohl die Mitgeschöpflichkeit von Tieren und Pflanzen in der Bibel explizit ausgeführt ist und das Denken der Kirche in Ewigkeiten verläuft. In christdemokratischen Parteien hat die Umweltbewegung dennoch oder gerade deswegen im ausgehenden 20. Jahrhundert einen frühen und fruchtbaren Boden gefunden. Bis aber die österreichische ÖVP 1989 in einem Programm erstmals von der „ökosozialen Marktwirtschaft“ sprach, hatten sich längst ökologische, „grüne“ Parteien der Sache angenommen. Für diese „Ergänzungslieferung“ angesichts der verschleppten Aktualisierung der eigenen Soziallehre bedankte sich Papst Benedikt XVI. bei seiner Rede im Bundestag 2011: „[…] Das Auftreten der ökologischen Bewegung in der deutschen Politik seit den 70er Jahren […] ist und bleibt ein Schrei nach frischer Luft. […] Die Bedeutung der Ökologie ist inzwischen unbestritten.“
Man darf begründet annehmen, dass die Katholikin Annegret Kramp-Karrenbauer auf diesem Ohr musikalisch ist. Das „christliche Menschenbild“ platzierte sie als Reizvokabel bereits in ihre sonst bewusst theoriearme Bewerbungsrede – nach dem vielsagenden Hinweis im Vorfeld, sie sei einst wegen Heiner Geißler in die CDU eingetreten.
Eine ‚konservative Revolution‘ ist das nicht, eine überfällige Renaissance aber schon. Wenn die CDU schon eine Programmdebatte führt, und sich dabei hoffentlich nicht in Symboldebatten über muslimische Kleidungsstücke, Fahne und Hymne oder den Umfang des Budgets der Eurozone erschöpfen will, dann muss sie auf den Dachboden gehen und das ererbte Silber polieren. Es taugt auch als Vintage-Geschirr im modernen Alltag.
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