Die antiliberale Revolte: Wie viel Orban steckt in Netanjahu?
Die antiliberale Gegenbewegung ist nicht auf die USA und Europa beschränkt. Auch in Israel sind Tendenzen in Richtung „illiberale Demokratie“ und ethnischem Nationalismus zu beobachten. Die israelische Autorin Dahlia Scheindlin verweist auf Ähnlichkeiten mit der Entwicklung in Polen und Ungarn: nationale Zugehörigkeit folgt dem Abstammungsprinzip, gezielte Angriffe auf die Gewaltenteilung und Intoleranz gegenüber Andersdenkenden. Die fortbestehende äußere Bedrohung Israels verstärkt die Tendenz zu einer nationalen Wagenburg-Mentalität. Dennoch endet der Artikel mit einem zuversichtlichen Ton: man sollte die Widerstandskraft der israelischen Demokratie nicht unterschätzen.
“Die Konservativen im westlichen Teil Europas träumen von einem Kontinent, auf dem die Mehrheit über die Gesellschaft bestimmt; im Osten dagegen träumen sie von Gesellschaften, in denen es gar keine Minderheiten gibt und Regierungen keine Opposition entgegensteht”, schreibt Ivan Krastev, Leiter des bulgarischen Thinktanks „Centre for Liberal Strategies”, in einem Artikel in der New York Times. Darin analysiert er Nationalismus in Europa und differenziert zwischen dem Populismus im Westen Europas und dem im Osten. Daraus lassen sich interessante Verbindungen zur politischen Entwicklung in Israel ziehen.
In Abgrenzung zum liberal-demokratischen System, das Minderheiten schützt, definieren Netanyahu und seine Verbündeten die Demokratie als eine schrankenlose Herrschaft der Mehrheit – genauso wie Viktor Orban, der Ungarn offen als „illiberale Demokratie“ bezeichnet.
Auch Israel wird von einer Regierung geführt, die sich einem nativistischen Nationalismus zuwendet, der über die Zugehörigkeit zur Nation nach dem Abstammungsprinzip entscheidet. Sie schüchtert Minderheiten im Land ein und wendet sich gegen Meinungsfreiheit und nicht-jüdische Einwanderung.
Was hat diese Regierung vor? Wie hängt ihr Vorgehen zusammen mit dem Rechtspopulismus, der sich in Europa ausbreitet?
Der prägende Wesenszug der populistischen Rechten in Israel ist der jüdische Nationalismus. Er hat einen nativistischen Kern, weil er Juden als die einzigen berechtigten Einwohner des Landes betrachtet. Diese Auffassung überschneidet sich mit dem Credo der zionistischen Bewegung, dass Juden vor allen anderen Völkern Anspruch auf das Territorium Israels haben. Es ist deshalb nicht neu, dass israelische Regierungen bemüht sind, die jüdische Mehrheit im Land abzusichern. Obwohl bei der Gründung Israels 1948 in die Unabhängigkeitserklärung eine Bestimmung eingefügt worden ist, die besagt, dass “allen Einwohnern unabhängig von Religion, Rasse oder Geschlecht die Gleichheit der sozialen und politischen Rechte zugesichert wird“, suchen die nationalistischen Kräfte heute zunehmend nach Möglichkeiten, die Stellung des Judentums auf Kosten von Minderheiten auszubauen. Die in der Unabhängigkeitserklärung angelegte Spannung zwischen Israel als jüdischer Nationalstaat und als Staat aller seiner Bürger (also auch der nicht-jüdischen Minderheiten) wird zunehmend in Richtung der jüdischen Identität Israels verschoben.
Avigdor Liebermanns Kampagne ließ die Dämme brechen
Ein Beispiel dafür sind Pläne zur Verschiebung der israelischen Grenze. Im Jahr 2005 begann der aufstrebende Politiker Avigdor Lieberman, für die Idee zu werben, Israels Grenzen neu zu ziehen, um eine große Zahl von arabischen Bürgern – in Israel eine Minderheit von 20% – aus dem Land zu verdrängen. Lieberman nannte das nüchtern eine Grenzanpassung. Jedoch hätte sein Plan die Zwangsausbürgerung von arabischen Israelis zur Folge gehabt, die damit ihre Bürgerrechte verloren hätten.
Liebermans politischer Einfluss wuchs vor allem aufgrund seiner offenen Feindseligkeit gegenüber arabischen Israelis. Neben seiner ursprünglichen Anhängerschaft, die vor allem aus ehemaligen sowjetischen Immigranten besteht, fand er in breiteren Wählerschichten Anklang und gewann bei den Wahlen im Jahr 2009 viele Stimmen auf Kosten der Likud-Partei von Benjamin Netanjahu. Trotzdem bildete die Likud-Partei die Regierung, begab sich aber in die Spirale eines sich überbietenden Nationalismus und verfolgt während ihrer Regierungszeit noch extremere jüdisch-exklusive Strategien als Liebermans Partei. Likud trieb erstens ein Gesetz namens „Jüdischer Nationalstaat“ voran, in dem Israel – gegen den Geist der Unabhängigkeitserklärung – als jüdischer Staat festgeschrieben wird. Zweitens verabschiedete Likud ein „Treueeid-Gesetz“, nach dem Minderheiten dem jüdischen Staat explizit die Treue schwören müssen. Und drittens erklärte Netanjahus Partei zur Bedingung für Friedensverhandlungen, dass die Palästinenser Israel als jüdischen Staat anerkennen müssen.
„Ungarn den Magyaren, Israel den Juden“
Die nativistische Politik in Israel erinnert an Krastevs „Nationalismus des Ostens“, wie ihn etwa Ungarn unter Viktor Orban verkörpert. „Wir wollen kein vielfältiges Land sein. Wir wollen so sein, wie wir vor 1100 Jahren hier im Karpatenbecken waren”, zitiert Krastev aus einer Rede des ungarischen Ministerpräsidenten. Ungarn den Magyaren, Israel den Juden – so könnte man den Nativismus in beiden Ländern zusammenfassen.
In Israel nimmt der Nativismus zwei brisante Formen an. Einmal überhöht er die jüdische Mehrheitsidentität beinah kultisch. Darüber hinaus ermutigt er feindselige Angriffe auf jene, der sich außerhalb der Mehrheit befinden.
Etwa seit 2012 haben Vertreter des rechten Flügels in Israel eine Kampagne losgetreten, die die jüdische Bevölkerung gegen Asylsuchende aus den kriegsgebeutelten Gebieten in Eritrea und Sudan aufwiegeln soll. Zunächst ähnelte die Stimmungsmache eher den Abwehrbewegungen gegen Zuwanderung in Österreich, Deutschland und den Niederlanden – also Krastevs „Nationalismus des Westens“. Jedoch zielte die Kampagne bald darauf ab, unerwünschte Migration gänzlich zu unterbinden: Israel baute eine Mauer, um Migranten fernzuhalten, die auf dem Weg nach Israel die Sinai-Wüste zu Fuß durchqueren, woraufhin die Zuwanderung nahezu auf Null schrumpfte. Außerdem drängte der Staat Flüchtlinge mit restriktiven Maßnahmen, das Land zu verlassen. Die Zahl der afrikanischen Migranten im Land sank innerhalb der letzten fünf Jahre von ungefähr 65.000 auf 40.000.
Die israelischen Behörden haben die Bedingungen, unter denen Migranten einen Asylantrag stellen können, verschärft; mitunter dauert es Monate, bis ein Antrag überhaupt gestellt werden kann. Die meisten Anträge werden dann ohne Einzelfallprüfung abgelehnt, im Juli 2017 lag die Anerkennungsquote beispielsweise bei 0,07 Prozent. Schließlich hat die Regierung Anfang 2018 damit begonnen, Migranten unter Androhung einer Haftstrafe in den eigens gebauten Flüchtlingsgefängnissen in Drittländer abzuschieben. Auch in der Flüchtlingspolitik ist es der nativistische Plan einer Gesellschaft ohne Außenseiter, wie ihn die osteuropäischen Nationalisten vorantreiben, den die israelische Regierung verfolgt.
Netanjahu regiert wie ein rechter Populist
Eine wichtige Unterscheidung fehlt in Krastevs Artikel: die zwischen moderaten Konservativen und extrem rechts ausgerichteten Populisten. Die Moderaten wollen Wahlen gewinnen und regieren, sie respektieren die ‚checks and balances‘ der Demokratie. Die rechten Populisten hingegen ändern die Spielregeln und nehmen in Ungarn und Polen die Gewaltenteilung ins Fadenkreuz. Als hätten sie erkannt, dass ihre von Wut und Angst getriebene Agenda nur durch antidemokratische Maßnahmen umgesetzt werden kann, untergraben sie die Unabhängigkeit der Gerichte, kontrollieren die Medien, ersticken die Zivilgesellschaft und unterdrücken die Opposition. Womöglich führt Krastevs Unterscheidung zwischen den radikalen Populisten des Ostens und den Moderaten des Westens aber in die Irre: Ist es nicht gut möglich, dass auch extrem-rechte Populisten in Westeuropa, wenn sie an die Macht gelangen, ähnlich handeln?
Es gibt kaum Zweifel, welchem Typ man die Regierung von Israel zuordnen muss: Seit 2009 erließ sie Gesetze gegen die politische Meinungsfreiheit (so zum Beispiel zwei Gesetze, die sich gegen jene Israelis und Ausländer richten, die einen Boykott Israels wegen der Besetzung palästinensischer Gebiete unterstützen); sowie Gesetze, die auf die Finanzierungsquellen der Zivilgesellschaft abzielen (das „NGO-Gesetz“). Die Regierung untergräbt das Gerichtssystem – der amtierende Justizminister spricht sich offen für einen stärkeren Einfluss der Regierung bei der Berufung von Richtern aus und versucht, die Rechte des Verfassungsgerichts zu beschneiden. Die nationale Rundfunkbehörde verlor an institutioneller Absicherung. Der Premierminister drohte öffentlich, er wolle einen privaten regierungskritischen Fernsehsender schließen. Das alles erinnert stark an die politische Entwicklung in Ungarn und Polen.
Andersdenkende Juden werden als Verräter abgestraft
Die israelische Regierung unterminiert die Gewaltenteilung. Damit schafft sie die Bedingung, den liberalen Teil der israelischen Gesellschaft anzugreifen. Die feindseligen Wortmeldungen von Regierungsmitgliedern richten sich zunehmen gegen die Arbeit von Menschenrechtsorganisationen. Erst kürzlich kritisierte der israelische Kultusminister den preisgekrönten Film eines Regisseurs wegen dessen Darstellung der Armee. Auch strich der Bildungsminister das Buch einer Romanautorin von der Leseliste für Oberschulen, weil es von einer jüdisch-arabische Beziehung erzählt. Durch den Versuch, die Redefreiheit zu beschränken, verwandelt sich ein gegen Außenstehende gerichteter Nativismus in eine nach innen gerichtete Intoleranz, die andersdenkende Juden als Verräter abstraft.
In Abgrenzung zum liberal-demokratischen System, das Minderheiten schützt, definieren Netanyahu und seine Verbündeten die Demokratie als eine schrankenlose Herrschaft der Mehrheit – genauso wie Viktor Orban, der Ungarn offen als „illiberale Demokratie“ bezeichnet. Netanjahu und Orban handeln, als wären Wahlen die einzige legitime Kontrollinstanz in einer Demokratie. Sie zählen darauf, von der Mehrheit unterstützt zu werden, wenn sie, von Justiz und Medien unbehelligt, ohne Rücksicht über Minderheiten und Andersdenkende hinweg regieren.
Doch was, wenn ihr Kalkül nicht aufgeht, wenn die Widerstandskraft der israelischen Zivilgesellschaft größer ist als die nationalistische Rechte vermutet? An guten Tagen tun sich zehntausende Israelis zusammen und protestieren gegen die Rechtsbrüche des Premierministers oder gegen die massenhafte Abschiebung von Migranten. An Tagen wie diesen geben die Bürger Anlass zur Hoffnung für die liberale Demokratie in Israel.
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