FDP und Grüne: Gemeinsam können die Kleinen Berge versetzen
Obwohl sie zueinander in Konkurrenz stehen, sollten sich FDP und Grüne inhaltlich annähern: Zusammen könnten sie CDU und SPD bei der nächsten Koalitionsbildung gegeneinander ausspielen – und damit die alten Machtverhältnisse vom Kopf auf die Füße stellen.
In der politischen Landschaft der Bundesrepublik bewegen sich 6, wenn wir CDU und CSU realistischerweise als zwei nicht nur regional abgegrenzte Organisationen betrachten, sogar 7 Parteien. Sie alle werben um Wählergunst und müssen sich dann aufaddieren lassen, weil keine der Parteien – bislang mit Ausnahme der CSU – über ein Fassungsvermögen für Wählerschichten verfügt, in dem 50+x % der Stimmen politisch Platz finden.
Erst wenn Grüne und FDP erkennen, dass sie mit einer teils gemeinsamen, teils wechselseitig akzeptierten Agenda der Union und auch der SPD viel machtvoller gegenübertreten würden, können sie Berge in der politischen Landschaft verschieben.
Diese Einleitung wirkt banal, aber man muss eben feststellen: Weder haben Parteistrategen, noch hat die Wahlberichterstattung diese simple Tatsache und ihre Folgen verinnerlicht. Und das führt zu strategischem Fehlverhalten insbesondere kleinerer Parteien, konkret: Der FDP und der Grünen.
Als ließe sich durch Wählererpressung das alte Parteiensystem wiederherstellen
Worum geht es? – Früher haben sich 40+x %-Großparteien einen kleinen Partner suchen müssen, um eine Mandatsmehrheit zu erhalten. Lagergewohnheiten erleichterten dabei die Koalitionsbildung, wobei die Koch-Kellner-Arroganz der SPD die linke Lagerlust trübte. Die Ampelneigungen der FDP waren und sind schwach ausgeprägt, schwarz-grüne Tastversuche waren und sind fragil, große Koalitionen sind oft der letzte, von allen Beteiligten ungeliebte Ausweg. Gleichzeitig sind die Wähler agiler geworden; der sich weiter ausdifferenzierende Lebensstil- und Wertepluralismus (zuletzt angereichert durch den hohlen Stolz der Rechtspopulisten) hat uns bei einem 5‑, 6- und nun eben 7‑Parteiensystem im Parlament angelangen lassen. Das müsste kein Schaden sein, wenn sich die Parteien nicht so anstellen würden, als gäbe es noch ein 3- oder 4‑Parteiensystem – oder als ließe es sich durch Wählererpressung via Koalitionsaussage oder Koalitionsausschlussansage wieder erzeugen: „Wählt so, dass wir unsere Wunschkoalition bilden können, oder Deutschland wird unregierbar, und wenn wir selbst dafür sorgen müssen.“
Aber auch Medien haben die Realität des Vielparteiensystem nicht realisiert und halten an überholten Sichtweisen auf Wahlergebnisse fest. Wenn eine Partei mit 35 % vor einer Partei mit 32 % ins Ziel läuft, wird sie um 18 Uhr zum „Wahlsieger“ erklärt, so als sei die stärkste Fraktion von Hause aus zu mehr berechtigt, als den Vorschlag für den Parlamentspräsidenten zu unterbreiten (und auch das ist nur common sense). Die kleineren Parteien haben sich darauf eingelassen, dieses tote Rennen der ehemaligen Großparteien (CDU/CSU wird man noch so bezeichnen dürfen) mit einem Wettkampf „um Platz 3“ auf der Aschenbahn neben dem großen Stadion zu begleiten. Die TV-Duell-Inszenierung im Wahlkampf inszeniert diese überkommende Betrachtung des politischen Geschehens noch.
Im Vielparteiensystem gewinnt der Flexiblere
Das echte Problem, das daraus entsteht: Der allenfalls relative „Wahlsieger“, also die stimmenstärkste Partei, reklamiert unwidersprochen den „Regierungsauftrag“ für sich. Sie ist damit zugleich der Zeremonienmeister und Moderator des Sondierungsgeschehens, lässt rechnerische Partner alleine oder in Addition zu Gesprächen antanzen und entscheidet sich für die riskante kleine oder die reizarme große Koalition. (So zuletzt in Niedersachsen, zuvor in Schleswig-Holstein, im Jahr zuvor in Rheinland-Pfalz je mit unterschiedlichem Ausgang zu beobachten.)
Im Vielparteiensystem ist die Logik aber eigentlich eine andere: Wahlsieger ist, wer in der Lage ist, mit möglichst vielen Parteien Bündnisse zu bilden, wer also Verhandlungsalternativen hat, und wer zugleich flexibel ist, in diesen Konstellationen politisch anschlussfähig und ausdrucksfähig zu sein. Das geht nur unideologisch und pragmatisch und ist für Mitglieder und die Hardcore-Klientel bisweilen schmerzlich, macht aber das politische System elastisch und zugleich regierbar.
Noch erkennen die Kleinen ihre Chance nicht
Das Verstörende in Deutschland ist nun, dass weniger die vermeintlich so unbeweglichen Großparteien, die den Anspruch einer „Volkspartei“ erheben, ein Problem mit der neuen Unübersichtlichkeit haben, als vor allem ihre vormaligen kleineren Lagergefährten.
Die Grünen fanden es mindestens irritierend, ein früher eingespieltes schwarz-gelbes Koalitionsbündnis „anzudicken“. Die FDP fand es anstößig, dass in dieser Dreierkonstellation die Union mehr menschliche und auf wichtigen Feldern auch politische Nähe zu den Grünen entwickelte und sich um den historisch betrachtet entfernteren Partner intensiver bemühte.
Beide, Grüne wie FDP, haben dabei (und früher in diversen Bundesländern) den Fehler gemacht, die Verhandlungssituation nicht vom Kopf auf die Füße zu stellen. Während die beiden Unionsparteien noch wochenlang geschwisterlich stritten und mit Einladungen an Dritte warteten, ehe sie sich vorzeigbar vorkamen, hätten Liberale und Grüne längst losverhandeln müssen. Einerseits um den vermeintlich natürlichen und in Wahrheit allein aus der Geschichte und Gewohnheit abgeleiteten Führungsanspruch der Union zu durchkreuzen. Andererseits um die eigene Verhandlungsposition durch zügige Einigung auf gemeinsame und auch wechselseitig geschützte Essentials zu festigen. In Rheinland-Pfalz 2016 oder Niedersachsen 2017 hätten die beiden Parteien sich dann den genehmeren Ministerpräsidenten aussuchen können. Der hätte seine Partei zu jenen Zugeständnissen zwingen müssen, die in Koalitionsverhandlungen nach Gutsherrenart mit den lieben Kleinen eben nicht zustande kommen.
In Wahrheit ist Rang drei bedeutungslos
Bisher scheitert ein raffinierteres und beherzteres Vorgehen der kleineren Parteien, die in klassischen Vielparteiensystemen vollberechtigte Spielpartner bei Regierungsbildungen sind und eben durchaus den Kurs oder gar den Regierungschef bestimmen können, ebenso an der Konkurrenz um den Rang drei wie an der Angst, von Stammwählern bei Fummeleien über gelernte Lagergrenzen hinweg erwischt zu werden.
In den Bundesländern herrscht inzwischen eine beträchtliche Vielzahl von nicht weniger als 12 Koalitionsvarianten:
- CDU/Grüne in Hessen
- CDU/FDP in Nordrhein-Westfalen
- CDU/Grüne/FDP in Schleswig-Holstein
- CDU/SPD/Grüne in Sachsen-Anhalt
- CDU/SPD in Sachsen und im Saarland
- Grüne/CDU in Baden-Württemberg
- SPD/Grüne in Hamburg und Bremen
- SPD/Linke in Brandenburg
- SPD/Linke/Grüne in Berlin
- SPD/FDP/Grüne in Rheinland-Pfalz
- SPD/CDU in Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern
- Linke/SPD/Grüne in Thüringen.
Das müsste die Koalitionsdebatte doch allmählich lockern, selbst wenn man sich auf die Ausrede einigt, dass es in den Landesregierungen und Landtagen ideologieärmer und pragmatischer (was bedeuten würde: unpolitischer) zugehe.
Wie reagieren aber FDP und Grüne – abgesehen von der Erstabstoßung im Laborexperiment „Jamaika“ auf diese Herausforderung und Chance? Die Grünen stürzen sich in eine Grundsatzprogrammdebatte, die beim Ausgreifen auf neue Fragestellungen und Milieus ein unauffälliges Herausklettern aus Lagergräben ermöglicht. Auf eine Schnittmengensuche mit der FDP deutet dabei aber wenig. Eher geht es darum, auch deren Wähler gezielter zu umwerben, soweit es nicht um rein wirtschaftsliberale oder nationalliberale Positionen geht.
Annäherung in der Opposition?
Bei der FDP ist mehr Bewegung (vielleicht aber auch mehr Verzweiflung). Sie war nicht stark spürbar auf dem Bundesparteitag, eher vernehmbar durch dezente Hinweise im Vorfeld. Generalsekretärin Nicola Beer sagte dem SWR: „In Hessen wird es sicherlich so sein, dass die Freien Demokraten – möglicherweise gemeinsam mit den Grünen – darüber entscheiden, in welche Richtung die Politik in Hessen weiterhin gehen wird, weil sie möglicherweise in der Situation sein werden, gemeinsam mit den Grünen aussuchen zu können, ob eine Koalition mit der CDU oder mit den Sozialdemokraten zustande kommt.“ Und Präsidiumsmitglied Michael Theurer ließ die Stuttgarter Nachrichten wissen: „Wir nutzen die Zeit in der Opposition, um mit den Grünen vertieft ins Gespräch zu kommen. […] Jamaika war da noch sehr stark geprägt von ideologischen Kämpfen der Vergangenheit. […] Das lässt mich hoffen, dass künftig Gestaltungsmöglichkeiten jenseits der großen Koalition doch noch möglich werden.“
Erst wenn Grüne und FDP erkennen, dass sie mit einer teils gemeinsamen, teils wechselseitig akzeptierten Agenda der Union und auch der SPD viel machtvoller gegenübertreten würden, können sie Berge in der politischen Landschaft verschieben. Dann aber wirklich. Dann reichen zwei mal 10 bis 15 % der Stimmen, um Wahlsieger zu sein.
In einem Debattenbeitrag antwortet Karl-Heinz Paqué, stellvertretender Vorsitzender der Friedrich-Naumann-Stiftung, auf Markus Schubert.
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