Fünf Sterne und das Blaue vom Himmel

Nulla [CC BY 3.0 de (https://creativecommons.org/licenses/by-nc/2.0/)], via Flickr

Im ersten Teil des Dossiers legt Thomas Schmid die program­ma­ti­schen Wider­sprüche der italie­nische Fünf-Sterne-Bewegung offen und erklärt, wie „M5S“ trotzdem zur stärksten politi­schen Kraft werden konnte.

Lange Zeit galt der Populismus als eine exklusiv rechte Angele­genheit: Jean-Marie Le Pen und sein „Front National“, Jörg Haider und die FPÖ, Umberto Bossi und die „Lega Nord“. Ein erster Erkennt­nis­gewinn bestand in der Einsicht, dass es so einfach vielleicht doch nicht ist. Denn es gibt auch einen linken Populismus. Für ihn steht beispielhaft Jean-Luc Mélenchon mit seiner Partei „La France insoumise“ (Unbeug­sames Frank­reich). Rechter und linker Populismus, so die vorherr­schende Analyse, träfen sich zwar in ihrem Ressen­timent gegen die liberalen Eliten, im Ruf nach direkter Volks­herr­schaft, in ihrer Ablehnung der USA und ihrer Sympathie für Putins Russland. Ansonsten aber gingen sie höchst unter­schied­liche Wege: Völki­sches versus Aufklärung, Autori­ta­rismus versus Parti­zi­pation, Ja zum Werte­wandel gegenüber einem donnernden Nein zu ihm. Doch auch hier gilt: So einfach ist es nicht.

M5S ist links und rechts zugleich

Das derzeit beste und womöglich wegwei­sende Beispiel dafür ist der „MoVimento 5 Stelle“ (M5S), die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien. In dieser Bewegung mischen sich rechte und linke Positionen bis zur Ununter­scheid­barkeit, die Bewegung ist zugleich rechts und links. Und obwohl das dem analy­ti­schen Blick wider­sinnig erscheint, hat diese Unein­deu­tigkeit entscheidend zum Erfolg von M5S beigetragen. Aus der Parla­mentswahl in diesem März ging sie mit fast einem Drittel der Stimmen, mit 32.68 Prozent, als stärkste Partei hervor.

Die Verachtung des herkömm­lichen Partei­en­wesens ist in Italien derart ins Unermess­liche gestiegen, dass sehr viele ansonsten durchaus pragma­tische Italiener bereit sind, auf eine windige Utopie zu setzen, die wie ein Kinder­glaube daher­kommt und das Blaue vom Himmel verspricht. 

Wie war das möglich? Erstens, weil die Bewegung zu Anfang keine im herkömm­lichen Sinne politische, sondern eine populär­kul­tu­relle war. Und zweitens, weil sie es wie weltweit keine andere Bewegung verstanden hat, das Netz zu nutzen und das Medium zur Botschaft zu machen.

Grillos Charisma verdeckt Widersprüche

Es war der 1948 in Genua geborene Komiker, Satiriker und Schau­spieler Beppe Grillo, der die Bewegung im Alleingang initiiert hat. Bis heute ist es sein Charisma, das fast alle Wider­sprüche der Bewegung schützend umhüllt. Über viele Jahre hinweg war Grillo ein überaus beliebter Fernsehstar. Nicht in Talkshows trat er auf, er hatte im staat­lichen Fernsehen seine eigenen Satire­sen­dungen, in denen er das Recht des Satirikers auf Unaus­ge­wo­genheit und krasse Polemik in vollen Zügen in Anspruch nahm. Er gab den Hofnarren, der die Regie­renden mit Belei­di­gungen überschüttete. Was er tat, war karne­valesk, er akzep­tierte die Regeln bürger­lichen Verhaltens nicht, wie im Karneval stellte er die Welt auf den Kopf. Und er konnte das, weil er aus dem Fundus der populären Kultur schöpfte, weil er nicht die Sprache der Salons und der Insti­tu­tionen, sondern die direkte, gerne das Obszöne strei­fende Sprache der Straße benutzte. 

Thomas Schmid ist Journalist und war zuletzt Chefre­dakteur und Heraus­geber der „Welt“

Als das dem staat­lichen Fernseh­sender RAI zu viel wurde, beging er 1993 den Fehler, Grillo vor die Tür zu setzen – wohl in der Hoffnung, ihn damit mundtot zu machen. Doch dazu war Grillo längst zu populär und zu sehr Überzeu­gungs­täter. Nun trat er mit seinen Programmen in Theatern und auf öffent­lichen Plätzen auf, tourte mit gewal­tigem Erfolg durchs ganze Land – und sah sich nun als Heraus­for­derer: wir gegen die, David gegen Goliath. Im Zentrum stand kein Programm, im Zentrum standen hemmungslose Schmäh­reden vor allem gegen die Parteien und die etablierten Eliten. Er wurde zum medialen und zu politi­schen Unter­nehmer. Immer deutlicher formu­lierte er: „Weg mit euch, haut ab, geht nach Hause!“ Damit traf er einen Nerv sehr vieler Italiener. Denn die Unfähigkeit der Politik, nach dem Zusam­men­bruch des alten Partei­en­systems zu Anfang der 90er-Jahre ein neues zu bilden und das Land voran­zu­bringen, lag ja auf der Hand. Und es kam Beppe Grillo zugute, dass er unter­schiedslos auf alle eindrosch, man ihm also nicht vorwerfen konnte, er sei parteiisch. So schuf er sich eine große Anhän­ger­schaft, die von links bis rechts reichte und die zu einem beträcht­lichen Teil unbeschwert war von politi­schen Erfah­rungen in den herkömm­lichen Parteien.

Der Trug, per Netz sei direkte Demokratie ohne jede Vermittlung möglich

Politisch ließ sich Grillo von dem franzö­si­schen Komiker Coluche inspi­rieren, mit dem er einen Film gedreht hatte. Coluche hatte 1981 seine – später aus persön­lichen Gründen zurück­ge­zogene – Kandi­datur für das Amt des franzö­si­schen Staats­prä­si­denten mit einem Rundum­schlag gegen das gesamte Partei­en­system angekündigt. Er bediente sich der gleichen vulgären Sprache, die später zum Marken­zeichen von Grillo werden sollte. Man solle, schrie er in seinem in „Charlie Hebdo“ veröf­fent­lichten Wahlma­nifest, die politische Elite wahlweise in die Wüste schicken oder „in den Arsch ficken“. Es waren höchst angesehene linke Intel­lek­tuelle wie Pierre Bourdieu, Alain Touraine und Félix Guattari, die Coluches Kampagne unter­stützten: rabiater Populismus mit linkem Segen. Umfragen zufolge hätten 16 Prozent der Franzosen für Coluche gestimmt. Doch anders als die Senkrecht­starter Coluche und später Berlusconi ging Grillo betont langsam vor und bewies damit strate­gi­sches Geschick. Zwar war er der unumschränkte Herrscher seiner Bewegung – er ließ sie aber, lange vor der Betei­ligung an kommu­nalen, regio­nalen und Parla­ments­wahlen – gewis­ser­maßen langsam von unten wachsen. Und dafür bediente er sich des Netzes und seines Blogs, der zeitweise zu den zehn erfolg­reichsten Blogs der Welt gehörte. Ursprünglich war Grillo zwar ein furioser Gegner der Digita­li­sierung gewesen, bei jedem Auftritt zertrüm­merte er anfangs einen Computer. Doch dann brachte ihn Gianro­berto Casaleggio (1954–2016), der vom früheren Schreib­ma­schinen- und jetzigen Compu­ter­her­steller Olivetti kam, zu der Einsicht, dass ihm das Netz, inter­aktiv genutzt, ungeahnte Möglich­keiten bot. Casaleggio hatte eine halb schwülstige, halb militante Netzphi­lo­sophie entwi­ckelt und sollte der strate­gische Guru von M5S werden. Grillo machte seinen Blog zur natio­nalen Plattform, zu einer riesigen Öffent­lichkeit, die völlig unabhängig von Radio, TV und Zeitungen war: eine Anti-Insti­tu­tionen-Insti­tution. Jeder durfte, jeder sollte mitreden. Mehr noch: Das Programm der Bewegung sollte im Wortsinne von unten, aus dem Volk kommen. Grillo, der in Wahrheit sehr wohl steuerte, gab sich als bloßer Vermittler, nannte sich immer wieder schein­be­scheiden das „Megafon der Bewegung“. In gewisser Weise nahm er es mit der Basis­de­mo­kratie ernster, als es die deutschen Grünen im Laufe der Zeit taten. Er weckte die Hoffnung, per Netz sei direkte Demokratie ohne jede Vermittlung möglich. „Wenn wir irgendwann regieren“, ruft er seinen Anhängern gerne zu, „dann regiert ihr.“

Wenig Realismus, aber sehr viel guter Wille

Das Programm, das M5S im Laufe der Zeit entwi­ckelte, kam in der Tat von unten. Und es fiel daher so buntscheckig aus, wie das Volk nun einmal ist. Die fünf Sterne im Namen der Bewegung symbo­li­sieren: Wasser (immer an erster Stelle), Umwelt, Transport (E‑Mobilität, Radwege und öffent­liche Verkehrs­mittel), Entwicklung und Internet. Mit Ausnahme des Internets haben diese Sterne durchweg eine eindeutig grüne, ökolo­gische Konno­tation. Das ist kein Zufall. Denn in der Bewegung sind ungeheuer viele vor allem junge Menschen aktiv geworden, die die herkömm­lichen Parteien ablehnen, die eine bessere, gesündere, gerechtere Welt wollen und sich als Teil einer Graswur­zel­be­wegung verstehen. Wenig Realismus, aber sehr viel guter Wille: eine inbrünstige Naivität. Grillo hat sich diese Ziele ins Programm schreiben lassen und sie auch deswegen akzep­tiert, weil er weiß, dass diese zum größten Teil wegen ihrer „unpoli­ti­schen“ Anmutung auch von Wählern akzep­tiert werden, die von rechts oder sogar von ganz rechts kommen. Auch Grillo gibt sich als Advokat der „italiani normali“, der normalen Italiener. Er macht unpoli­tische Politik. Er bindet Linke und Rechte zusammen, ohne dass beide das Gefühl haben, mit der jeweils anderen Seite etwas zu tun haben. M5S ist ein Raum der Kohabi­tation, den eine Trennwand durchzieht.

Traum von kleinen Kreis­läufen und wenig Komplexität

Doch wie passen ökolo­gische Ziele, Grund­ein­kommen, kostenlose medizi­nische Versorgung einer­seits und EU-Feind­schaft und das Nein zur Einwan­derung anderer­seits zusammen? Die Anhänger von M5S träumen von einer schönen neuen Welt, in der alles einfach und direkt sein soll: kleine Kreis­läufe, möglichst wenig Komple­xität. Da stören zu viele PKW und LKW ebenso wie zu viel Brüssel, zu viel Globa­li­sierung, zu viele Einwan­derer. Und dann ist es vor allem die Person Beppe Grillos, die die inneren Wider­sprüche der Bewegung weg-schreit. Obwohl er sich mit einigen autori­tären Allein­gängen bei vielen Anhängern unbeliebt gemacht hat, wissen diese doch, dass er allein der große Zampano ist, dessen Charisma das Ganze zusam­menhält. Ohne dieses Charisma würden die program­ma­ti­schen Ungereimt­heiten sofort sichtbar und bedrohlich werden. Unter dem Mantel seines Charismas aber schrumpfen sie zu Kleinigkeiten.

Europa vor einem Härtetest

Ihr Grund­problem hat die Bewegung bisher erfolg­reich verdrängt: Direkte Demokratie funktio­niert in einem Terri­to­ri­al­staat nicht. Außerdem zeigen die Erfah­rungen, die man inzwi­schen mit M5S-Bürger­meis­te­rinnen und Bürger­meistern etwa in Parma, Turin und Rom gemacht hat, vorsichtig ausge­drückt, dass auch die Fünf-Sterne-Bewegung nicht übers Wasser gehen kann. Doch das ficht die Wähler der Bewegung bislang nicht an. Das aber heißt: Die Verachtung des herkömm­lichen Partei­en­wesens ist in Italien derart ins Unermess­liche gestiegen, dass sehr viele ansonsten durchaus pragma­tische Italiener bereit sind, auf eine windige Utopie zu setzen, die wie ein Kinder­glaube daher­kommt und das Blaue vom Himmel verspricht. Die Probe auf den Zusam­menhalt und die Handlungs­fä­higkeit dieser Formation kommt mit der Regie­rungs­bildung. Jetzt werden die program­ma­ti­schen Wider­sprüche wie der Konflikt zwischen Basis­de­mo­kratie, infor­mellem Führer­prinzip und parla­men­ta­ri­scher Willens­bildung nicht mehr mit radikaler Rabulistik zu verkleistern sein. Dass M5S mit der rechts­po­pu­lis­ti­schen bis rechts­extremen Lega ins Regie­rungsboot geht, wird die anti-europäi­schen, fremden­feind­lichen und national-sozialen Tendenzen der „Fünf Sterne“ verstärken. Was bisher über das Regie­rungs­pro­gramm verlautet, gibt Grund zur Besorgnis. Es könnte sein, dass die Europäische Union vor einen Härtetest gestellt wird, der alles bisher Dagewesene übertrifft.

Dossier: Sie rollen über die Par­tei­enlandschaft erd­rutsch­ar­tig hinweg und wecken Begeis­te­rungs­stürme bei ihren Anhän­gern: neue digi­tale Bewe­gungs­par­teien. Sie sind wand­lungs­fä­hig und medial schlag­kräf­tig, ihren cha­ris­ma­ti­schen Anfüh­rer stellen sie radikal in den Mit­tel­punkt. Sieht so die Zukunft der Politik aus?

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