Multi­kul­tu­ra­lismus: Wie Identi­täts­po­litik den Kultur­kampf befördert

Aying Salupan [CC0 1.0 (https://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/)], via pxhere.com

Der Multi­kul­tu­ra­lismus habe die Essen­zia­li­sierung kultu­reller Unter­schiede befördert und dadurch den Kultur­kampf in den westlichen Gesell­schaften angeheizt. Das ist die Kernthese der Streit­schrift „Das Unbehagen in den Kulturen“ des briti­schen Intel­lek­tu­ellen Kenan Malik. Sie liefert eine konzise Analyse, wie eine vermeintlich progressive Identi­täts­po­litik liberale Gesell­schaften spaltet und soziale Probleme in Kultur­kon­flikte verwandelt.

Assimi­lation ist ein Standard­me­cha­nismus in Einwan­de­rungs­ge­sell­schaften. Bereits die Sozio­logen der Chicagoer Schule beschrieben in den 1920er und 1930er Jahren Einglie­derung von Einwan­derer-Commu­nities in US-ameri­ka­ni­schen Großstädten als soziale Aufwärts­mo­bi­lität und kultu­rellen Anpas­sungs­prozess. In empiri­schen Studien zeigt sich heute regel­mäßig, dass die zweite und dritte Zuwan­de­rer­ge­neration sich bei sozio-kultu­rellen Indika­toren wie Gebur­tenrate, Bildungs­niveau und Wertvor­stel­lungen der Mehrheits­be­völ­kerung angleicht. Politische Bemühungen, Teilha­be­lücken durch gezielte Maßnahmen schneller zu schließen, riefen teils heftig Kontro­versen hervor. Zunächst um die Termi­no­logie: Der Begriff Assimi­lation geriet in Verruf und wurde durch Integration ersetzt. Dann um die Strategien und Maßnahmen: Während die einen Integration – ganz im Sinne des Assimi­la­ti­ons­pa­ra­digmas – vor allem als einseitige Anglei­chung an die Mehrheits­ge­sell­schaft definierten und entspre­chende Anfor­de­rungen an zuwan­dernde Minder­heiten formu­lierten, entwi­ckelten sich am anderen Ende des Spektrums Ansätze einer identi­täts­er­hal­tenden – ja: Identität konstru­ie­renden – Politik der Anerkennung. Deren konzep­tio­nellen Funda­mente  wurden nicht zuletzt in Kanada gelegt. Ein Vorreiter war der liberal-kommu­ni­ta­ris­tische Quebec-Multi­kul­tu­ra­lismus. Demnach stehen allen Minder­heits­kul­turen besondere Rechte zu; um ihr Überleben zu sichern, strebt die Identi­täts­po­litik des Multi­kul­tu­ra­lismus danach, die ethnisch-kulturell-religiöse Identi­fi­kation der jewei­ligen Gruppen­mit­glieder zu fördern.

Provokant gesagt: Die Multi­kul­tu­ra­listen legten die Saat für das Gedeihen des Rassismus 

Multi­kul­tu­ra­lismus als Tabu

In Europa prakti­zierten lediglich die Nieder­lande über viele Jahre eine Politik der Anerkennung und der Minder­hei­ten­för­derung in Reinform. Doch auch die Integra­ti­ons­po­litik zahlreicher anderer Länder trug Züge des Multi­kul­tu­ra­lismus, nicht zuletzt im Verei­nigten König­reich und in Deutschland. Es kamen 9/​11, die sich ausbrei­tende Wahrnehmung geschei­terter Integration (vor allem „der“ Muslime) und ein zunehmend einwan­de­rungs­skep­ti­scher Diskurs. Der cultural and religious turn in den westlichen Gesell­schaften kehrte sich gegen eine aktive Politik der Anerkennung; im Konzept der civic integration wurde vor allem das Fordern großge­schrieben. Will Kymlicka, ein wichtiger Philosoph des Multi­kul­tu­ra­lismus kanadi­scher Prove­nienz, befand daher 2012 in einem Interview, für eine Rettung des Begriffs Multi­kul­tu­ra­lismus sei es in vielen Staaten Europas bereits zu spät – in Deutschland hatte zwei Jahre zuvor die Bundes­kanz­lerin höchst­selbst (im Einklang mit dem politisch-medialen mainstream) dekla­miert, Multi­kulti sei „absolut gescheitert“.

Portrait von Jan Schneider

Jan Schneider ist Leiter des Forschungs­be­reichs beim Sachver­stän­di­genrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration

Der Wissen­schafts­phi­losoph und Publizist Kenan Malik, libertär-progres­siver Intel­lek­tu­eller mit breitem Portfolio, stimmt dem Urteil Angela Merkels in seinem Buch „Das Unbehagen in den Kulturen. Eine Kritik des Multi­kul­tu­ra­lismus und seiner Gegner“ (Novo Argumente Verlag 2017) voll zu. Anders als die meisten Multi­kul­tu­ra­lismus-Skeptiker liefert Malik in seiner Streit­schrift, mit der er gleich­zeitig jene populis­ti­schen Nativisten attackiert, die Angst verbreiten und für eine Null-Zuwan­derung plädieren, aller­dings eine luzide Begründung für seine Kritik. Er sieht in dem Versuch, die aus Einwan­derung und kultu­reller oder religiöser Vielfalt resul­tie­renden Konflikte durch gruppen­dif­fe­rente Politiken zu domes­ti­zieren, die Wurzel allen Übels.

Aus gut gemeinter Politik der Anerkennung wird ein Spaltpilz

Folgt man Malik, so hat der Multi­kul­tu­ra­lismus mit seiner obses­siven Betonung von Differenz und deren Anerkennung eine Essen­zia­li­sierung befördert, aus der heraus religiöse oder ethnische Gruppen ihr Diffe­renz­be­wusstsein erst recht entwi­ckeln. Sein Kardi­nal­fehler besteht darin, dass „Menschen in ethnische und kultu­relle Schub­laden gesteckt werden“, aus denen es kein Entrinnen gibt. Solche Schub­laden der Differenz sind in seinen Augen in der Verwaltung bereits weithin etabliert. Eines von Maliks Beispielen ist der sozial benach­tei­ligte laizis­tische Bangla­deschi in einem herun­ter­ge­kom­menen Stadtteil Birminghams. Will er kommu­nal­po­li­tisch etwas für seine Wohngegend erreichen, hat er kaum Aussichten auf Erfolg, wenn es sich dabei auf Armut oder Bildungs­be­nach­tei­ligung beruft. Zieht er statt­dessen die religiöse Karte, wird sich der städtische Geldsäckel leichter öffnen, weil das Attribut „Muslim“ im Gegensatz zu Attri­buten wie „arm“ oder „benach­teiligt“ in der Bürokratie als „authen­tische Identität“ gilt. Solche Identi­täten verleihen in organi­sierter Form einen Zugang zur Macht, und sie gewinnen durch perma­nente Bestä­tigung und Verstärkung an sozialer Realität. Die drama­tische Konse­quenz ist eine Art selbst erfül­lende Prophe­zeiung: Der Bangla­deschi wird sich stärker mit dem askrip­tiven Merkmal Religion identi­fi­zieren, sein soziales Handeln danach ausrichten und sich gegenüber anderen Gruppen oder gar dem Rest der Gesell­schaft abgrenzen – das Risiko islamis­ti­scher Radika­li­sierung inbegriffen. Somit hält Malik die ethnisch-religiösen Front­stel­lungen innerhalb der Gesell­schaften Europas überwiegend für hausge­macht – weil multi­kul­tu­ra­lis­tische Politiken, die mit besten Absichten Integra­ti­ons­pro­zesse fördern wollten, de facto ethnisch-religiöse Fragmen­tie­rungen bewirkt haben, anstatt sich sozialer Klassen­un­ter­schiede anzunehmen. Und diese Spaltung wirkt.

Aufwind für Kulturkrieger

Provokant gesagt: Die Multi­kul­tu­ra­listen legten erst die Saat für das Gedeihen des Rassismus; die populis­ti­schen Einwan­de­rungs­feinde nutzen Religion und scheinbare Kultur­kon­flikte als Distink­ti­ons­größen ihrer fremden­feind­lichen Politik. Hier zeigt Malik, dass der Fanatismus einzelner – Anders Breivik recht­fer­tigte seine Taten als Selbst­ver­tei­digung gegen die in seinen Augen anti-europäische Hass-Ideologie des Multi­kul­tu­ra­lismus – nicht ohne Folgen für den politi­schen Diskurs geblieben ist: Vermischt mit den Einflüssen der bereits älteren Debatte um den Clash of Civilizations (Bernard Lewis, Samuel Huntington) fördert der Extre­mismus einen Prozess, bei dem bis weit in die Mitte der Eindruck entsteht, fremde Kulturen seien mit der „heimi­schen“ unver­einbar und die Heraus­for­de­rungen der Vielfalt ließen sich meiden, in dem man die Reihen schließt und die Zuwan­derung stoppt.

Ganz nebenbei verfolgt Malik die wissen­schafts­theo­re­ti­schen Spuren der heutigen Antipoden. Auf wenigen Seiten zeigt er – eine der Stärken des schmalen Bandes –, dass die Ursprünge sowohl der Politik des Multi­kul­tu­ra­lismus als auch der Politik einer rassis­tisch bzw. nativis­tisch geprägten Ablehnung von Einwan­derung und Vielfalt in Johann Gottfried Herders roman­ti­schem Gegen­entwurf zur univer­sa­lis­ti­schen Aufklärung à la David Hume zu finden sind. Herders Volks­geist, der als Konzept im Grunde lediglich Ausdruck einer spezi­ellen Form humanis­tisch-univer­sa­lis­ti­scher Überzeugung war und die Parti­ku­la­rismen des Mensch­seins und seiner Kulturen im Wandel der Zeit berück­sichtigt sehen wollte, beför­derte im 19. Jahrhundert die Entwicklung der Rassen­kunde, die über die rassis­tische Erblehre und die Definition einer überle­genen Herren­rasse ihr Fanal im deutschen Natio­nal­so­zia­lismus fand. Gleich­zeitig war die von Herder propa­gierte Seele des Volkes ein Anker­punkt für die Kultur­anthro­po­logie, aus der sich letztlich die plura­lis­ti­schen und multi­kul­tu­ra­lis­ti­schen Theorien des späten 20. Jahrhun­derts speisten.

Was nun, Herr Malik?

Schwach­punkt des insgesamt lesens­werten Buches ist die weitge­hende Absenz von Lösungs­an­sätzen für das Dilemma. Malik, der nachweist, dass die europäi­schen Gesell­schaften in den letzten Jahrhun­derten nie auch nur annähernd homogen waren, propa­giert ethnisch-religiöse und sonstige Vielfalt als Wert an sich. Kultu­relle und ideolo­gische Ausein­an­der­set­zungen, Konflikte über Ideen und Werte sieht er als Voraus­set­zungen für sozialen Wandel. Eine offene und liberale Gesell­schaft verlange eine „verbind­liche Ausein­an­der­setzung“ über konfli­gie­rende Positionen. Mit welchen Diver­si­täts­kon­zepten solche fried­lichen Aushand­lungs­pro­zesse im gegen­wärtig populis­tisch aufge­heizten Einwan­de­rungs­diskurs befördert werden könnten und mit welchen Schritten die Fehler des Multi­kul­tu­ra­lismus zu kitten wären, verrät Malik indes nicht. Es finden sich auch keine Verweise auf andere, die dies tun. Dabei gäbe es durchaus Ansatz­punkte: Etwa die von Claus Leggewie 1990 (ironi­scher­weise mit dem Titel „Multi­kulti“) heraus­ge­ge­benen und 2011 unter dem Eindruck der Sarrazin-Debatte neu aufge­legten „Spiel­regeln für die Vielvöl­ker­re­publik“ oder das Ergebnis der Leitbild­kom­mission für die Einwan­de­rungs­ge­sell­schaft, um nur zwei zu nennen.

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