Multikulturalismus: Wie Identitätspolitik den Kulturkampf befördert
Der Multikulturalismus habe die Essenzialisierung kultureller Unterschiede befördert und dadurch den Kulturkampf in den westlichen Gesellschaften angeheizt. Das ist die Kernthese der Streitschrift „Das Unbehagen in den Kulturen“ des britischen Intellektuellen Kenan Malik. Sie liefert eine konzise Analyse, wie eine vermeintlich progressive Identitätspolitik liberale Gesellschaften spaltet und soziale Probleme in Kulturkonflikte verwandelt.
Assimilation ist ein Standardmechanismus in Einwanderungsgesellschaften. Bereits die Soziologen der Chicagoer Schule beschrieben in den 1920er und 1930er Jahren Eingliederung von Einwanderer-Communities in US-amerikanischen Großstädten als soziale Aufwärtsmobilität und kulturellen Anpassungsprozess. In empirischen Studien zeigt sich heute regelmäßig, dass die zweite und dritte Zuwanderergeneration sich bei sozio-kulturellen Indikatoren wie Geburtenrate, Bildungsniveau und Wertvorstellungen der Mehrheitsbevölkerung angleicht. Politische Bemühungen, Teilhabelücken durch gezielte Maßnahmen schneller zu schließen, riefen teils heftig Kontroversen hervor. Zunächst um die Terminologie: Der Begriff Assimilation geriet in Verruf und wurde durch Integration ersetzt. Dann um die Strategien und Maßnahmen: Während die einen Integration – ganz im Sinne des Assimilationsparadigmas – vor allem als einseitige Angleichung an die Mehrheitsgesellschaft definierten und entsprechende Anforderungen an zuwandernde Minderheiten formulierten, entwickelten sich am anderen Ende des Spektrums Ansätze einer identitätserhaltenden – ja: Identität konstruierenden – Politik der Anerkennung. Deren konzeptionellen Fundamente wurden nicht zuletzt in Kanada gelegt. Ein Vorreiter war der liberal-kommunitaristische Quebec-Multikulturalismus. Demnach stehen allen Minderheitskulturen besondere Rechte zu; um ihr Überleben zu sichern, strebt die Identitätspolitik des Multikulturalismus danach, die ethnisch-kulturell-religiöse Identifikation der jeweiligen Gruppenmitglieder zu fördern.
Provokant gesagt: Die Multikulturalisten legten die Saat für das Gedeihen des Rassismus
Multikulturalismus als Tabu
In Europa praktizierten lediglich die Niederlande über viele Jahre eine Politik der Anerkennung und der Minderheitenförderung in Reinform. Doch auch die Integrationspolitik zahlreicher anderer Länder trug Züge des Multikulturalismus, nicht zuletzt im Vereinigten Königreich und in Deutschland. Es kamen 9/11, die sich ausbreitende Wahrnehmung gescheiterter Integration (vor allem „der“ Muslime) und ein zunehmend einwanderungsskeptischer Diskurs. Der cultural and religious turn in den westlichen Gesellschaften kehrte sich gegen eine aktive Politik der Anerkennung; im Konzept der civic integration wurde vor allem das Fordern großgeschrieben. Will Kymlicka, ein wichtiger Philosoph des Multikulturalismus kanadischer Provenienz, befand daher 2012 in einem Interview, für eine Rettung des Begriffs Multikulturalismus sei es in vielen Staaten Europas bereits zu spät – in Deutschland hatte zwei Jahre zuvor die Bundeskanzlerin höchstselbst (im Einklang mit dem politisch-medialen mainstream) deklamiert, Multikulti sei „absolut gescheitert“.
Der Wissenschaftsphilosoph und Publizist Kenan Malik, libertär-progressiver Intellektueller mit breitem Portfolio, stimmt dem Urteil Angela Merkels in seinem Buch „Das Unbehagen in den Kulturen. Eine Kritik des Multikulturalismus und seiner Gegner“ (Novo Argumente Verlag 2017) voll zu. Anders als die meisten Multikulturalismus-Skeptiker liefert Malik in seiner Streitschrift, mit der er gleichzeitig jene populistischen Nativisten attackiert, die Angst verbreiten und für eine Null-Zuwanderung plädieren, allerdings eine luzide Begründung für seine Kritik. Er sieht in dem Versuch, die aus Einwanderung und kultureller oder religiöser Vielfalt resultierenden Konflikte durch gruppendifferente Politiken zu domestizieren, die Wurzel allen Übels.
Aus gut gemeinter Politik der Anerkennung wird ein Spaltpilz
Folgt man Malik, so hat der Multikulturalismus mit seiner obsessiven Betonung von Differenz und deren Anerkennung eine Essenzialisierung befördert, aus der heraus religiöse oder ethnische Gruppen ihr Differenzbewusstsein erst recht entwickeln. Sein Kardinalfehler besteht darin, dass „Menschen in ethnische und kulturelle Schubladen gesteckt werden“, aus denen es kein Entrinnen gibt. Solche Schubladen der Differenz sind in seinen Augen in der Verwaltung bereits weithin etabliert. Eines von Maliks Beispielen ist der sozial benachteiligte laizistische Bangladeschi in einem heruntergekommenen Stadtteil Birminghams. Will er kommunalpolitisch etwas für seine Wohngegend erreichen, hat er kaum Aussichten auf Erfolg, wenn es sich dabei auf Armut oder Bildungsbenachteiligung beruft. Zieht er stattdessen die religiöse Karte, wird sich der städtische Geldsäckel leichter öffnen, weil das Attribut „Muslim“ im Gegensatz zu Attributen wie „arm“ oder „benachteiligt“ in der Bürokratie als „authentische Identität“ gilt. Solche Identitäten verleihen in organisierter Form einen Zugang zur Macht, und sie gewinnen durch permanente Bestätigung und Verstärkung an sozialer Realität. Die dramatische Konsequenz ist eine Art selbst erfüllende Prophezeiung: Der Bangladeschi wird sich stärker mit dem askriptiven Merkmal Religion identifizieren, sein soziales Handeln danach ausrichten und sich gegenüber anderen Gruppen oder gar dem Rest der Gesellschaft abgrenzen – das Risiko islamistischer Radikalisierung inbegriffen. Somit hält Malik die ethnisch-religiösen Frontstellungen innerhalb der Gesellschaften Europas überwiegend für hausgemacht – weil multikulturalistische Politiken, die mit besten Absichten Integrationsprozesse fördern wollten, de facto ethnisch-religiöse Fragmentierungen bewirkt haben, anstatt sich sozialer Klassenunterschiede anzunehmen. Und diese Spaltung wirkt.
Aufwind für Kulturkrieger
Provokant gesagt: Die Multikulturalisten legten erst die Saat für das Gedeihen des Rassismus; die populistischen Einwanderungsfeinde nutzen Religion und scheinbare Kulturkonflikte als Distinktionsgrößen ihrer fremdenfeindlichen Politik. Hier zeigt Malik, dass der Fanatismus einzelner – Anders Breivik rechtfertigte seine Taten als Selbstverteidigung gegen die in seinen Augen anti-europäische Hass-Ideologie des Multikulturalismus – nicht ohne Folgen für den politischen Diskurs geblieben ist: Vermischt mit den Einflüssen der bereits älteren Debatte um den Clash of Civilizations (Bernard Lewis, Samuel Huntington) fördert der Extremismus einen Prozess, bei dem bis weit in die Mitte der Eindruck entsteht, fremde Kulturen seien mit der „heimischen“ unvereinbar und die Herausforderungen der Vielfalt ließen sich meiden, in dem man die Reihen schließt und die Zuwanderung stoppt.
Ganz nebenbei verfolgt Malik die wissenschaftstheoretischen Spuren der heutigen Antipoden. Auf wenigen Seiten zeigt er – eine der Stärken des schmalen Bandes –, dass die Ursprünge sowohl der Politik des Multikulturalismus als auch der Politik einer rassistisch bzw. nativistisch geprägten Ablehnung von Einwanderung und Vielfalt in Johann Gottfried Herders romantischem Gegenentwurf zur universalistischen Aufklärung à la David Hume zu finden sind. Herders Volksgeist, der als Konzept im Grunde lediglich Ausdruck einer speziellen Form humanistisch-universalistischer Überzeugung war und die Partikularismen des Menschseins und seiner Kulturen im Wandel der Zeit berücksichtigt sehen wollte, beförderte im 19. Jahrhundert die Entwicklung der Rassenkunde, die über die rassistische Erblehre und die Definition einer überlegenen Herrenrasse ihr Fanal im deutschen Nationalsozialismus fand. Gleichzeitig war die von Herder propagierte Seele des Volkes ein Ankerpunkt für die Kulturanthropologie, aus der sich letztlich die pluralistischen und multikulturalistischen Theorien des späten 20. Jahrhunderts speisten.
Was nun, Herr Malik?
Schwachpunkt des insgesamt lesenswerten Buches ist die weitgehende Absenz von Lösungsansätzen für das Dilemma. Malik, der nachweist, dass die europäischen Gesellschaften in den letzten Jahrhunderten nie auch nur annähernd homogen waren, propagiert ethnisch-religiöse und sonstige Vielfalt als Wert an sich. Kulturelle und ideologische Auseinandersetzungen, Konflikte über Ideen und Werte sieht er als Voraussetzungen für sozialen Wandel. Eine offene und liberale Gesellschaft verlange eine „verbindliche Auseinandersetzung“ über konfligierende Positionen. Mit welchen Diversitätskonzepten solche friedlichen Aushandlungsprozesse im gegenwärtig populistisch aufgeheizten Einwanderungsdiskurs befördert werden könnten und mit welchen Schritten die Fehler des Multikulturalismus zu kitten wären, verrät Malik indes nicht. Es finden sich auch keine Verweise auf andere, die dies tun. Dabei gäbe es durchaus Ansatzpunkte: Etwa die von Claus Leggewie 1990 (ironischerweise mit dem Titel „Multikulti“) herausgegebenen und 2011 unter dem Eindruck der Sarrazin-Debatte neu aufgelegten „Spielregeln für die Vielvölkerrepublik“ oder das Ergebnis der Leitbildkommission für die Einwanderungsgesellschaft, um nur zwei zu nennen.
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.