50 Jahre nach dem Prager Frühling – das Erbe der Charta 77
Prag und Bratislava heute – fünfzig Jahre nach dem sowjetischen Einmarsch 1968. Rechte und linke Populisten an der Regierung – doch ein Zeitzeuge wie Pavel Kohout lässt sich davon nicht bange machen.
Vor kurzem hätte der Schriftsteller Pavel Kohout, vor fünfzig Jahren einer der intellektuellen Stichwortgeber des „Prager Frühlings“ und später Mitbegründer der legendären Oppositionsbewegung „Charta 77“, beinahe einen Staatspreis erhalten. Überreicht hätte ihn Tschechiens vor einigen Monaten wiedergewählter Präsident Milos Zeman, der zwischen ostentativer Putin-Affinität und polternder Merkel-Phobie populistisch Balance hält – wenngleich eher in Richtung Moskau schwankend, wie Kritiker des vor allem wegen seiner Alkohol-Exzesse berüchtigten Politikers spotten.
„Dort oben hätte ich den Preis bekommen sollen“, sagt Pavel Kohout, der Ende Juli neunzig Jahre alt geworden ist, aber viel jünger wirkt, wie er mit vom Sommerwind zerzaustem weißen Haar auf der kleinen Dachterrasse seines Hauses am Prager Masaryk-Quai steht und über das Moldau-Ufer zur Prager Burg zeigt. Er erinnert sich, wie er als kleiner Junge im September 1937 zum ersten Mal erwachsene Männer hatte weinen sehen, als der Sarg des legendären Republikgründers Tomás Masaryk durch die Straßen der Stadt gefahren wurde. Dem Husserl-Schüler und überzeugten Sozialliberalen Masaryk war die Stabilität der demokratischen Zwischenkriegs-Tschechoslowakei maßgeblich mitzuverdanken; nach der friedlichen Revolution von 1989 sollte sich der Philosoph und Dramatiker Václav Havel explizit auf dieses proeuropäische Erbe beziehen. Pavel Kohout nennt seinen 2011 verstorbenen „Seelenbruder“ Havel noch heute zärtlich „Vásek“.
Ansonsten jedoch: Keine Nostalgie. Obwohl diese durchaus gerechtfertigt wäre: Nach Havels Präsidentschaft war der EU-Kritiker Václav Klaus in die Prager Burg gezogen; viele sehen in dessen rechtsstaats-skeptischer „Marktwirtschaft pur“-Ideologie das Fundament einer bis heute wuchernden Oligarchen-Wirtschaft, die sich bei Bedarf auch Politiker kauft. Nutznießer sind altkommunistische Seilschaften, nicht selten mit russischen Unternehmen verbandelt, sowie die Söhne und inzwischen sogar Enkel der ehemaligen KP-Funktionäre. Nach dem unnahbar wirkenden Václav Klaus gibt nun Burgherr Zeman sowohl den Paten wie gleichzeitig den Kritiker des „abgehobenen Establishments“- ebenso wie Ministerpräsident Andréj Babis, ein Multimillionär und Medientycoon, der zu kommunistischen Zeiten mit dem Geheimdienst liiert war und nun seine Minderheitsregierung auf eine Tolerierung durch die bis heute nicht reformierte Kommunistische Partei stützt.
Ist das nicht deprimierend, umso mehr, da nach dem altersbedingten Rückzug des charismatischen Karel Schwarzenberg kein führender Oppositionspolitiker mehr in Sicht ist? Und all das zum 50. Jahrestag der Niederschlagung des „Prager Frühlings“, als junge Tschechen auf dem Wenzelsplatz mit aufgerissenen Hemden den russischen Panzern entgegengetreten waren, mit Tränen in den Augen immer wieder „Dubcek! Dubcek!“ rufend?
„Vergessen wir die Ambivalenzen nicht“, entgegnet Pavel Kohout. „Es gibt, im Guten wie im Bösen, immer wieder Gegenläufiges – auch wenn das pathetische Historiker und vergessliche Zeitzeugen nicht wahrhaben wollen. Die Tatsache, dass ein zuvor eher blasser slowakischer Aparatschik wie jener Genosse Alexander Dubcek zum Hoffnungsträger einer Freiheitsbewegung hatte werden können und dabei viele Monate lang über sich selbst hinaus wuchs, beweist doch, dass immer wieder mit Unerwartetem gerechnet werden muss – gerade in Zeiten, die hoffnungslos erscheinen. Andererseits: Es war nach dem sowjetischen Einmarsch am 21. August ‚68 dann auch Dubcek, der auf Moskauer Druck die Reformen stückweise zurücknahm und repressive Gesetze verabschieden ließ – bis er schließlich seine Schuldigkeit getan hatte und von den neuen Machthabern in die historische Versenkung befördert wurde. Während das Volk ja ebenfalls – anders als die gängigen Dokumentaraufnahmen suggerieren – nicht permanent gegen die Besatzer demonstrierte, sondern sich schon bald mit den neuen Verhältnissen abfand. Und was die Künstler und Intellektuellen betrifft: Wir von der ‚Charta 77‘ waren eine winzige Minderheit, während über neuntausend mehr oder minder prominente Tschechen und Slowaken die regimekonforme ‚Anti-Charta‘ unterschrieben hatten.“
Wenn Kohout von ideologischer Verführbarkeit spricht, ist das auch ein Erinnern in eigener Sache: Ehe der Schriftsteller zum Reformkommunisten und schließlich Sozialdemokraten wurde, der für sein regimekritisches Engagement mit zehnjährigem Zwangs-Exil bezahlte, war er in den fünfziger Jahren noch ein gläubiger, fanatischer Jung-Stalinist gewesen. „Ich nehme mir also die Freiheit, die heutigen Neo-Populisten zu kritisieren, ohne der Illusion anheim zu fallen, deren lärmendes Reden und Tun wäre gänzlich präzedenzlos. Jede Generation hat ihre eigenen ‚Ausfälle‘.“
Und die von Präsident Zeman verfügte staatliche Auszeichnung? Kohout lächelt. „Die wäre bei einer kollektiven Veranstaltung überreicht worden – zum Glück hatte ich zuvor freundlich abgelehnt. Andernfalls hätte ich nämlich oben auf der Burg ausgerechnet mit dem Schlagersänger Karel Gott in einer Reihe gestanden, der unter dem KP-Regime einer der bekanntesten ‚Anti-Chartisten‘ gewesen war.“
Man mag bedauern, dass es zurzeit in Tschechien keine breite Debatte über eine solch amnesiegesättigte post-histoire gibt und die politische Klasse beinahe unwidersprochen in Anti-EU-Rhetorik verfallen ist. Und dennoch: Als dieses Jahr beim „slowakischen Frühling“ in Bratislava hunderttausende Demonstranten den Rücktritt des mafiotischen Innenministers Kalinak durchsetzten und Aufklärung forderten im Fall des Doppelmordes am Recherche-Journalisten Jan Kuciak und dessen Verlobter, wurde immer wieder ein ganz besonderes Lied angestimmt. „Das Gebet für Marta“ war einst einer der Protestsongs gegen die Okkupation der Tschechoslowakei, ein Lied der legendären Sängerin Marta Kubisova, die dann bis zum November ’89 nicht mehr öffentlich hatte auftreten dürfen – ganz im Gegensatz zu ihrem ehemaligen Bühnenpartner Karel Gott, der sich den neuen Herren in die Arme schmiss und heute mit Verschwörungstheorien gegen Migranten und Flüchtlinge hetzt. Die Protestierenden von Bratislava, alle Generationen gemischt, aber erinnerten und sangen das alte 68er-Lied, das nichts von seiner emotionalen Kraft eingebüßt hatte. Sangen das Lied und brachten ihrer arroganten Regierung eine empfindliche Niederlage bei.
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