Bedroht der Kreml die Unabhängigkeit von Belarus?
Mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ukraine hat der Kreml seinen Anspruch auf den postsowjetischen Raum unterstrichen. In Belarus wird seitdem heiß diskutiert, ob ein ähnliches Szenario auch dort denkbar wäre. Entsprechende Berichte russischer Medien werden als Warnungen verstanden. Und dass der russische Regierungschef nun den totgeglaubten Unionsstaat zwischen beiden Ländern wieder ins Spiel bringt, lässt die Nervosität in Minsk steigen.
Vergangenes Wochenende feierten tausende Belarussen bei Festen und Konzerten in Hrodna und in Minsk den Dsjen Voli, den Tag der Freiheit. Der 25. März ist kein offizieller Feiertag in dem von Präsident Aljaksandr Lukaschenka seit 1994 autoritär regierten Land. An dem Tag erinnerte bisher vor allem die national gesinnte Opposition an den Gründungstag der Belarussischen Volksrepublik (BNR) nach dem Friedensschluss von Brest-Litwosk im Jahr 1918 zwischen dem Deutschen Reich und den Bolschewiken. Das mit kränklicher Brust gegründete Staatsgebilde überlebte nur kurz, bevor Belarus Teil der Sowjetunion wurde. Aber der Tag ist mittlerweile vielen Belarussen ein Symbol für ein souveränes Belarus – ein Kulturraum, der auf eine lange Geschichte zurückblickt, dem die Staatlichkeit aber erst mit dem Ende der Sowjetunion zugefallen ist.
Seit dem von Russland angezettelten Krieg in der Ostukraine hat der Dsjen Voli an Popularität gewonnen. Die Staatsmacht achtet auch weiterhin darauf, dass die Opposition den Tag nicht gegen das Lukaschenka-Regime nutzen kann. Dennoch gesteht sie den Feierlichkeiten neuerdings einen gewissen Raum zu, um damit indirekt den eigenen Souveränitätsanspruch und den der Belarussen zu betonen – auch gegenüber dem übermächtigen Nachbarn im Osten, der seit der Annexion der Krim für Nervosität in der Machtvertikale des Regimes, aber auch in der Bevölkerung sorgt.
Und zwar besonders seitdem der russische Ministerpräsident Dmitrij Medwedjew Ende 2018 den Unionsstaat ins Spiel brachte. Lukaschenka hatte sich zuvor gegen eine neue Steuerregelung der russischen Regierung gewandt, die am 1. Januar 2019 in Kraft trat. Belarus hat bisher zollfrei billiges Öl aus Russland bezogen, was weiterverarbeitet und profitabel weiterverkauft wurde – eine wichtige Stütze für die belarussische Wirtschaft und damit für das Lukaschenka-Regime. Ab sofort erhebt Russland eine Fördersteuer auf Rohöl. Damit ist die Weiterverarbeitung nicht mehr lukrativ. Man spricht von rund 260 Millionen Euro, die dem belarussischen Haushalt allein in diesem Jahr fehlen würden.
Streitereien um Gas- und Ölpreise gehören zu den schwierigen belarussisch-russischen Beziehungen seit Mitte der 2000er, wie auch Konflikte um Milchprodukte (2010), um die vorübergehende Einführung von Grenzkontrollen durch die russische Regierung Anfang 2017. Trotz der engen Zusammenarbeit zwischen den Militärstrukturen beider Länder verweigerte Lukaschenka Russland 2013 eine Luftwaffenbasis und auch die Anerkennung der Krim. Die belarussische Regierung führte schrittweise eine an bestimmten Bedingungen gekoppelte, visafreie Einreise für Ausländer ein – für Lukaschenka-Verhältnisse ein Zeichen der Öffnung gegenüber der EU. Der russischen Regierung dürfte das nicht gefallen haben. Die Liste der gegenseitigen Schmähungen, Provokationen und Abstrafungen ist lang. Der russische Präsident Putin schätzt zwar die Stabilität, für die Lukaschenka in der Pufferzone zwischen Russland und der EU sowie NATO-Ländern steht. Dennoch ist der belarussische Präsident alles andere als ein einfacher Partner. Es ist selbst ein ausgefuchster Machtmensch.
Medwedjew meinte also, Belarus könne eine weitere Unterstützung nur erhalten, wenn es sich zu einer Vertiefung des Unionsstaates bereit erklären würde. Seitdem wird in westlichen und belarussischen Medien, mitunter aufgeregt, diskutiert, ob der Kreml eine Annexion des Nachbarlandes im Sinn habe, um Putin als Präsident dieses Unionsstaates über 2024 hinaus an der Macht zu halten. Die Idee eines gemeinsamen Staates zwischen den beiden ehemaligen Sowjetrepubliken tauchte Mitte der Neunziger Jahre auf. Dem russischen Präsidenten Boris Jelzin und dem neosowjetisch geprägten Lukaschenka schien eine Reintegration nach dem betrauerten Ende der Sowjetunion eine sinnvolle und populäre Idee. Lukaschenka, der auch in Russland als durchgreifender Ordnungsmann großes Ansehen genoss, sah so auch die Möglichkeit, als Unionspräsident in Russland mitregieren zu können. Ende 1999 wurde tatsächlich der „Vertrag über die Bildung eines Unionsstaates“ geschlossen. Es sollte ein eigenes Staatswesen entstehen, mit Flagge und Hymne, mit Haushalt, Parlament und Präsident – Russland und Belarus sollten ihre Souveränität bewahren, aber Fragen der Außenpolitik, Verteidigung, der Energieversorgung, des Zolls oder des Haushalts sollten an den Unionsstaat übertragen werden.
Als Putin Präsident wurde und fortan die nationalen Interessen Russlands in den Vordergrund stellte, begann das Zerren um den Unionsstaat. Schon 2001 eskalierte dieses Ringen, als Putin Belarus vorschlug, der Russischen Föderation beizutreten. Lukaschenka reagierte brüskiert, da er unbedingt an der im Vertrag vorgesehenen „paritätischen Partnerschaft“ festhalten wollte. Damals analysierte der leider viel zu früh verstorbene Politologe Heinz Timmermann: „Im Hinblick auf die Disproportionen der Partner in Größe und Potential kann das Projekt eines Unionsstaates Russland-Belarus Moskau zufolge nur zu russischen Bedingungen verwirklicht werden. Völlig ausgeschlossen wird eine Lösung in Form der Union zweier gleichberechtigter Staaten mit paritätisch besetzten supranationalen Organen...“ Die Folge: Über Fragen des gemeinsamen Wirtschaftslebens, des Zollwesens oder der Formierung der Organe des Unionsstaates kam es nie zu einer Einigung. Die Verhandlungen stockten, wurden wieder aufgenommen, stockten. Eine Währungsunion wurde häufig angekündigt, aber nie umgesetzt. Im Bereich der Verteidigung gibt es eine ausgeprägte Zusammenarbeit. Belarussen und Russen können ihre jeweiligen Grenzen passieren und auch im jeweils anderen Land arbeiten. Eine Zollunion wurde erst mit dem Aufkommen der Eurasischen Wirtschaftsunion zwischen Belarus, Russland und Kasachstan geschaffen. Seit 2011 galt das Projekt des Unionsstaates eigentlich als tot.
Lukaschenka hat immer wieder betont, dass eine Aufgabe der eigenen Souveränität ausgeschlossen sei, wofür er selbst von der nationalen Opposition im eigenen Land gefeiert wurde. 2008 sagte er: „Souveränität und Unabhängigkeit werden nicht für Erdgas oder Öl verkauft… sie sind zu kostbar, um damit zu handeln.“ Mitte Februar 2019, bei einem Treffen mit Putin in Sotschi, betonte er: „Die Souveränität ist wie eine Ikone, sie ist heilig.“ Die zahlreichen Treffen zwischen dem russischen und belarussischen Präsidenten seit der zweiten Hälfte 2018 haben Ängste geschürt, Russland könnte mit Hilfe des Unionsstaates nun mit der Einverleibung des Nachbarn ernst machen.
Warum eine solche Annexion allerdings mit zahlreichen unkalkulierbaren Risiken für den Kreml verbunden wäre oder ein belarussisches Krim-Szenario eher unwahrscheinlich ist, hat bereits der belarussische Journalist Artjom Schraibman dargelegt. Zwar sei Belarus ein russlandfreundliches Land. Aber es fehle an starken prorussischen Organisationen, die der Kreml mobilisieren könnte, sowie auch an einem glaubwürdigen Bedrohungsszenario gegen „eine russlandnahe Identität“ durch belarussische Nationalisten. Die belarussische Bevölkerung würde eher einen neutralen Kurs gegenüber Russland unterstützen. Für Sowjet-Nostalgiker sei Russland aufgrund des Oligarchentums, der Ungleichheit und Korruption kaum ein Sehnsuchtsort. Die politisch sehr heterogene Führungsriege von Belarus würde bei einer Anbindung an Russland alle ihre Privilegien verlieren. Russlandnahe Abweichler habe man durch das ausgeprägte Sicherheitssystem gut im Griff. Zudem würde die russische Bevölkerung die Kosten neuerlicher Sanktionen und der Angliederung kaum mittragen. Schrajbmans Schlussfolgerung: „Die Frage von 2024 durch die Vereinigung mit Belarus zu lösen, käme der Provokation eines scharfen Konflikts mit einem bislang verbündeten Land gleich. Es wäre ein Szenario voller unkalkulierbarer Risiken und Ausgaben, die nicht einmal steigende Umfragewerte garantieren. Wenn Putin an der Macht bleiben möchte, könnte er dieses Problem wesentlich leichter lösen: durch eine Verfassungsänderung.“
Eine ausgeprägte Angst ist dennoch nicht von der Hand zu weisen. Russland hat sich in den vergangenen Jahren schließlich nicht unbedingt mit vertrauensbildenden Maßnahmen hervorgetan. Zurzeit beraten belarussische und russische Ausschüsse unabhängig voneinander daran, wie die von Russland geforderte Vertiefung des Unionsstaates aussehen könnte. Erst dann könnten gemeinsame Gespräche beginnen. Wann dies soweit sein wird und was bei den jetzigen Gesprächen herauskommt, ist schwer vorherzusagen. Vielleicht wird es eine engere Zusammenarbeit in unverfänglichen Bereichen geben. Der Unionsstaat an sich ist bis dato an den teils fundamental unterschiedlichen Interessen beider Länder gescheitert. Das wird auch künftig so sein. Und in einem Referendum würden Belarussen einen Anschluss mit Russland mehrheitlich ablehnen, wenn auch vielleicht nicht mit 98 Prozent, wie Lukaschenka behauptete.
Allerdings hängt sein Regime zweifelsohne aufgrund der bis dato billigen Kredite und günstiger Gas- und Öllieferungen am Tropf des Kreml. Bei besagtem Treffen im Dezember meldete sich auch der russische Finanzminister Anton Siluanow zu Wort. Er bezifferte die jährlichen Unterstützungen der belarussischen Regierung laut NZZ auf zwei Milliarden Euro. Darin enthalten seien Kredite, Verbilligungen für Rohstoffe und Zölle. Lukaschenko sitzt also in einer Art Abhängigkeits-Falle. Dennoch hat er sich in seinem politischen Raum eine starke Unabhängigkeit bewahrt, auf die selbst der Kreml kaum nennenswerten Einfluss hat. Auch in der Vergangenheit hat Lukaschenka immer wieder Optionen hervor gezaubert, wenn er unter Druck gesetzt wurde und ohne sichtbaren Handlungsspielraum war. Der Druck ist diesmal groß – und er könnte Lukaschenka beispielsweise dazu drängen, eine rentabel arbeitende Wirtschaft in Gang zu setzen, natürlich ohne demokratische Verbesserungen zu ermöglichen.
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.