Besat­zungs­terror: Das ver­ges­sene Mas­sa­ker von Korjukiwka

Es war die größte „Straf­ak­tion“ gegen die nicht-jüdi­sche Bevöl­ke­rung im Zweiten Welt­krieg, nicht nur auf dem Ter­ri­to­rium der Sowjet­union, sondern in ganz Europa – mit fast 7000 ermor­de­ten Zivi­lis­ten, durch­ge­führt von der SS, unga­ri­schen Armee­an­ge­hö­ri­gen und ein­hei­mi­scher „Hilfs­po­li­zei“. Und dieses Kriegs­ver­bre­chen ist bis heute nicht einmal voll­stän­dig erforscht.

In der Nacht zum 27. Februar 1943 griffen sowje­ti­sche Par­ti­sa­nen eine deutsch-unga­ri­sche Gar­ni­son am Bahnhof von Kor­jukiwka an. Der Kom­man­deur der Par­ti­sa­nen Theo­dosius Stupak hatte ein starkes per­sön­li­ches Motiv für den Kampf. In der Kaserne waren seine zwei Söhne im Alter von 12 und 13 Jahren inhaf­tiert, seine Frau wurde dort am Vortag erschossen. 

Portrait von Christoph Brumme

Christoph Brumme verfasst Romane und Repor­tagen. Er lebt in der ukrai­ni­schen Stadt Poltawa.

Kor­jukiwka ist eine Sied­lung im Nord­os­ten der Ukraine, im Gebiet Tscher­ni­hiw. Manche Ein­woh­ner unter­stüt­zen die Par­ti­sa­nen frei­wil­lig, obwohl „all­ge­mein bekannt war, dass die Deut­schen für jeden getö­te­ten deut­schen Sol­da­ten bis zu 100 Men­schen hin­rich­ten würden“, so der ukrai­ni­sche His­to­ri­ker Serhiy Butko, Mit­glied des Ukrai­ni­schen Insti­tuts für natio­nale Erin­ne­rung im Oblast Tschernihiw.

Die Par­ti­sa­nen greifen von der Apo­theke aus der Kaserne an und töten nach eigenen Angaben 78 Sol­da­ten und nehmen einige gefan­gen. Alle 97 Gefäng­nis­in­sas­sen können sie befreien, dar­un­ter die Söhne des Kom­man­deurs Stupak. Er selbst stirbt bei der Aktion. Die Par­ti­sa­nen zer­stö­ren, wie sie in einem Bericht nach Moskau melden, unter anderem eine Tele­fon­sta­tion, eine mecha­ni­sche Werk­statt, ein Kraft­stoff­la­ger mit Benzin, 18 Eisen­bahn­wag­gons und das Gebäude der Staats­bank, nachdem sie dort einen Safe gesprengt und 320.000 sowje­ti­sche Rubel ent­wen­det haben.

Als Rache für den Angriff der Par­ti­sa­nen planen die SS und die unga­ri­schen Feld­jä­ger eine „Straf­ak­tion“ gegen die Ein­woh­ner von Kor­jukiwka. Den Befehl dazu erteilt, soweit man weiß, der Stabs­chef der Kom­man­dan­tur der Wehr­macht im benach­bar­ten Kreis Konotop, Oberst­leut­nant Bruno Franz Bayer (in manchen Quellen auch Baier oder Beyer geschrie­ben, in anderen nur als Bruno Franz). Das SS-Son­der­­kom­­mando 4A leitete laut Doku­men­ten die „Straf­ak­tion“. Die SS-Männer hatten schon zahl­rei­che Kriegs­ver­bre­chen und Mas­sen­morde began­gen, unter anderem das Mas­sa­ker an den jüdi­schen Men­schen aus Kyjiw in Babyn Jar mit mehr als 33.000 Opfern und in Poltawa mit meh­re­ren tausend Opfern. Im März 1943 erschos­sen sie in Sumy 250 unga­ri­sche Juden, die zu einer Arbeits­kom­pa­nie der unga­ri­schen Armee gehörten.

Am Morgen des 1. März 1943 umstel­len die SS und die unga­ri­schen Ein­hei­ten, wahr­schein­lich unter­stützt von ein­hei­mi­scher sowje­ti­scher „Hilfs­po­li­zei“, die Sied­lung Kor­jukiwka. Die Todes­kom­man­dos durch­su­chen die Gebäude der Stadt, zünden Häuser an, treiben die Men­schen in große Gebäude wie das Theater oder ein Restau­rant und erschie­ßen sie dort oder werfen sie leben­dig ins Feuer. Im Restau­rant wurden etwa 500 Men­schen getötet, nur fünf über­le­ben. Ins­ge­samt werden am 1. und 2.März sage und schreibe 6700 Men­schen ermor­det. 1290 Häuser werden nie­der­ge­brannt, nur zehn Back­stein­ge­bäude bleiben erhal­ten. Zeugen sagten aus, dass Rauch und Feuer von den Bränden noch mehr als 20 Kilo­me­ter ent­fernt in anderen Sied­lun­gen zu sehen waren. Am 9. März kehrten die Mord­kom­man­dos zurück, um die über­le­ben­den Ein­woh­ner zu töten. Bloß 1893 Opfer können später iden­ti­fi­ziert werden, dar­un­ter 704 Kinder und Jugend­li­che und 1097 Frauen. Die meisten sind ukrai­ni­scher Natio­na­li­tät, 1715.

Kor­jukiwka: Schlim­mer als Lidice und Oradur

Es ist die größte „Straf­ak­tion“ gegen Zivi­lis­ten im Zweiten Welt­krieg, nicht nur auf dem Ter­ri­to­rium der Sowjet­union, sondern in ganz Europa. Während die Mas­sa­ker der SS in dem tsche­chi­schen Dorf Lidice mit 173 Ermor­de­ten und im fran­zö­si­schen Oradour mit 642 Opfern inter­na­tio­nal bekannt gewor­den sind und in etli­chen Büchern und Filmen dar­ge­stellt wurden, ist das furcht­bare Ver­bre­chen in Kor­jukiwka mit so viel mehr Opfern selbst vielen Ukrai­nern bis heute unbe­kannt. Über das Blutbad von Lidice ver­öf­fent­lichte Hein­rich Mann schon im dar­auf­fol­gen­den Jahr einen gleich­na­mi­gen Roman. Über die Tra­gö­die von Kor­jukiwka sind bis heute offen­bar nur einige Bro­schü­ren und ein ein­zi­ges Buch mit einer Auflage von 500 Exem­pla­ren erschie­nen, die his­to­risch-wis­sen­­schaf­t­­li­che Studie „Jeder hat seine eigene Wahr­heit. Wahr­heit Eins: Kor­jukiwka: Ein lebens­lan­ger Schmerz“ von Wassili Usti­menko. Usti­menko finan­zierte sie mit seiner Rente, wie er in seiner Rede im Jahre 2013 während der Buch­prä­sen­ta­tion erzählte. Er hatte keinen Sponsor gefun­den. In seiner Studie ver­sucht er die Frage zu beant­wor­ten, warum die Tra­gö­die statt­ge­fun­den hat und ob es möglich gewesen wäre, sie zu verhindern.

Zumin­dest hätten die sowje­ti­schen Par­ti­sa­nen die Mord­or­gien der Deut­schen und der Ungarn wohl sehr stark behin­dern können. Denn es waren nur 300 bis 500 Täter, die dieses Kriegs­ver­bre­chen an der Zivil­be­völ­ke­rung durch­führ­ten, während die Par­ti­sa­nen über 5.500 Kämpfer in den umlie­gen­den Dörfern und Wäldern verfügten.

„Es gab keinen Befehl vom Haupt­quar­tier. Also saßen wir einfach da und sahen zu“, resü­mierte ein sowje­ti­scher Par­ti­san nach dem Krieg. Der oberste Kom­man­deur der Par­ti­sa­nen, Oleksiy Fedorov, zwei­fa­cher Held der Sowjet­union, war während des Mas­sa­kers von Kor­jukiwka nicht anwe­send, sondern holte sich neue Direk­ti­ven aus Moskau ab. In seinen Memoi­ren bezieht er sich kurz auf die Ereig­nisse: „Die Genos­sen infor­mier­ten uns über die wich­tigs­ten mili­tä­ri­schen Ope­ra­tio­nen, die in unserer Abwe­sen­heit durch­ge­führt wurden. Am inter­es­san­tes­ten und erfolg­reichs­ten war der Über­fall auf die Kor­jukiwka-Gar­ni­son. Unsere Jungs haben diese kleine Stadt nicht vergessen.“

Über die furcht­bare Ermor­dung von fast 7.000 Dorf­be­woh­nern verlor Fedorow kein ein­zi­ges Wort. Als ob sie gar nicht exis­tiert hätten!

Die grau­sa­men Ver­bre­chen der Nazis passten durch­aus ins Konzept der sowje­ti­schen Pro­pa­ganda, so makaber das heute klingt. Die Befehle des sowje­ti­schen Mili­tär­haupt­quar­tiers an Par­ti­sa­nen­be­we­gun­gen in der Ukraine han­del­ten aus­schließ­lich von der Sabo­tage und Zer­stö­rung feind­li­cher Streit­kräfte. Es gibt jedoch nach Ein­schät­zung ukrai­ni­scher His­to­ri­ker keine offi­zi­el­len Doku­mente, die die sowje­ti­schen Par­ti­sa­nen anwei­sen, die Zivil­be­völ­ke­rung zu schützen.

Serhiy Butko macht dazu fol­gende Bemerkung:

„Keine von den Nazis ange­stif­te­ten Straf­ope­ra­tio­nen gegen die lokale Bevöl­ke­rung wurden von den sowje­ti­schen Par­ti­sa­nen unter­bro­chen, da dies der bol­sche­wis­ti­schen Sache perfekt diente, die Deut­schen so viele Gräu­el­ta­ten wie möglich begehen zu lassen. Die bol­sche­wis­ti­sche Politik bestand darin, der Zivil­be­völ­ke­rung zu bewei­sen, dass die vom NS-Régime began­ge­nen Gräu­el­ta­ten mit dem Holo­do­mor von 1932–1933 und den sta­li­nis­ti­schen Hin­rich­tun­gen und Repres­sio­nen der 1930er Jahre unver­gleich­lich waren. Ja, die bar­ba­ri­schen Aktio­nen der Nazis waren unbe­schreib­lich schreck­lich, aber nicht besser oder schlech­ter als die vom bol­sche­wis­ti­schen Régime began­ge­nen.“ (Euro­mai­dan Press)

Spätes Geden­ken an das Massaker

Erst im Jahr 1977 wurde in Kor­jukiwka ein Gra­nit­denk­mal mit dem offi­zi­el­len Namen „Zu Ehren des hel­den­haf­ten Wider­stands der Bevöl­ke­rung gegen deut­sche faschis­ti­sche Inva­so­ren“ errich­tet. Die Schöp­fe­rin des Denk­mals ist die berühmte ukrai­ni­sche Bild­haue­rin Inna Kolomijez.

In den sowje­ti­schen Kanon der Hel­den­ge­schich­ten und der ver­ab­scheu­ungs­wür­di­gen Ver­bre­chen schaffte es das Mas­sa­ker aber nicht. Serhiy Butko nennt als Grund: „Natür­lich fragt man sich, wo die Par­ti­sa­nen geblie­ben sind, als die Bevöl­ke­rung von Kor­jukiwka mas­sa­kriert wurde.“ Min­des­tens in diesem grus­li­gen Fall waren sie eben nicht die „Rächer des Volkes“ gewesen.

Erst als sich die Tra­gö­die am 2. März 2013 zum 70. Mal jährte, wurden vom ukrai­ni­schen Staat beson­dere Maß­nah­men zum Geden­ken an die Opfer dieses Kriegs­ver­bre­chens beschlos­sen, per Dekret unter dem Prä­si­den­ten Wiktor Janu­ko­wytsch. Zum Jubi­läum 2018 wurde in vielen Fern­seh­pro­gramm mit dau­er­haft zuge­schal­te­ten Gedenk­ker­zen an die schreck­li­chen Ereig­nisse erinnert.

Aber noch nie hat ein hoch­ran­gi­ger ukrai­ni­scher Poli­ti­ker die Gedenk­fei­ern in Kor­jukiwka besucht. So muss man sich auch nicht wundern, dass offen­bar erst ein deut­scher Poli­ti­ker es besser gemacht hat. Im März 2005 wür­digte der deut­sche Bot­schaf­ter Dietmar Stü­de­mann die Erin­ne­rung an die toten Ein­woh­ner von Kor­jukiwka mit einem Besuch vor Ort. Der Bot­schaf­ter sagte vor Hun­der­ten von Teil­neh­mern an der Trauerkundgebung:

„Wir Deut­schen wissen genau, was die Nazis in Ihrem Land getan haben. Nach dem Tod von Kor­jukiwka starb auch Nazi-Deutsch­land. Jahre ver­gin­gen. Sowohl Deutsch­land als auch Kor­jukiwka lebten wieder auf. Die Ukraine ist unab­hän­gig gewor­den. Die Völker beider Länder geben sich über den Gräbern der Toten die Hand, obwohl unsere Schuld groß ist. Aber die mensch­li­che Freund­schaft kann viel, sehr viel bewir­ken, und dies gibt Hoff­nung, dass der Krieg nicht wieder statt­fin­den wird, der Faschis­mus nicht wie­der­be­lebt wird.“ (Euro­mai­dan Press, Chris­tine Chraibi)

Die Men­schen von Kor­jukiwka haben lange ver­sucht, eine Part­ner­stadt in Deutsch­land zu finden, berich­tete im Mai 2015 der taz-Repor­ter Bern­hard Clasen, der offen­bar bisher als ein­zi­ger deut­scher Jour­na­list den Ort des Ver­bre­chens besucht und darüber berich­tet hat. Gelun­gen war den Ukrai­nern das nicht. Ob sie es wei­ter­hin ver­sucht haben oder ver­su­chen wollen kann nur eine Reise zum Ort des Mas­sa­kers klären. Neben Bern­hard Clasen hat auch Jens Piske vor zwei Jahren über das Ver­bre­chen auf seinem Blog berich­tet.

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