Liberalismus im Deutschen Reich – zwischen autoritärer Versuchung und modernem Staat
Der Historiker Eckart Conze sprach mit Till Schmidt über die Nachwirkungen des Kaiserreichs auf die Deutsche Psyche, die aktuelle Kolonialismusdebatte und die komplexe Rolle des organisierten Liberalismus in der Zeit zwischen 1871 und 1918.
Schmidt: Anlässlich des Jahrestages der Reichgründung hat die Zeit 1871 bis 1918 wieder mehr öffentliche Aufmerksamkeit erfahren. Was ist Ihnen aufgefallen?
Conze: Es ist bemerkenswert, dass die Debatte über das Kaiserreich eine relativ hohe Aufmerksamkeit erhält. Durch den Jahrestag der Reichsgründung wurde das noch verstärkt. In einer Demokratie werden Geschichtsbilder immer wieder neu verhandelt, Geschichte braucht den Streit, und Historiker haben dabei eine wichtige, auch öffentliche Funktion und Verantwortung. Wenn ich mit meinem Buch zu dieser Debatte beitragen konnte, freut mich das.
Welche Rolle spielen diese Debatten für das Selbstverständnis der Deutschen?
Für die alte Bundesrepublik waren Auseinandersetzungen über das Kaiserreich und die kritische Distanz zum Nationalstaat von 1871 von zentraler Bedeutung und ein wichtiger Indikator der politischen und sozialkulturellen Liberalisierung. Mit der deutschen Einheit hat die Frage nach dem Verhältnis der Deutschen zu dem 1945 untergegangenen Nationalstaat neues Gewicht gewonnen. Nicht nur im Blick auf den Nationalsozialismus, sondern auch auf das Kaiserreich. Affirmative Bekenntnisse zur preußisch-deutschen Nationalgeschichte und zu einer nationalstaatlichen Kontinuität sind heute Elemente eines neuen Nationalismus und rechtspopulistischer Politik. Das trägt zur Schärfe der Auseinandersetzung über das Kaiserreich bei.
Was charakterisiert den fachwissenschaftlichen Diskurs?
Es gibt einen breiten Konsens über die Ambivalenzen des Kaiserreichs: politischer Autoritarismus und fehlende Parlamentarisierung einerseits, gesellschaftlicher Aufbruch und Modernisierung andererseits. Dazu kommt die Übereinstimmung darin, dass es einen deutschen Sonderweg in die Moderne nicht gegeben hat. Das ist nicht zuletzt das Ergebnis der jüngeren international, vor allem europäisch vergleichenden Forschung. Deutsche Spezifika bleiben dennoch: die Nationalstaatsbildung als Ergebnis einer Revolution von oben; ein Nationsverständnis, das von Anfang an stark auf Abgrenzung und Ausgrenzung beruhte und viel weniger auf staatsbürgerlicher Gleichheit und politischer Partizipation; der Aufstieg eines völkischen Nationalismus mit seiner Vorstellung der ethnisch homogenen Nation; oder der politische, in der Verfassung verankerte Militarismus zusammen mit dem durch die „Reichseinigungskriege“ befeuerten Bellizismus.
Was bedeutet das für die öffentliche Debatte?
Dass man diese „Schattenlinien“, wie sie Thomas Nipperdey genannt hat, nicht marginalisieren darf. Der ergebnisoffene historische Vergleich fördert Gemeinsamkeiten ebenso zutage wie Unterschiede. Wer aber nur darauf verweist, dass auch in England Matrosenanzüge getragen wurden, zeichnet ein oberflächliches und unvollständiges Bild, das Ergebnisse jahrzehntelanger Forschung ignoriert. Es ist aber auch ein gefährliches Spiel: Denn damit werden Stichworte geliefert für jene Nationalisten, die das Kaiserreich in ein rosiges Licht tauchen und es als freiheitlich verfassten Nationalstaat charakterisieren, es als „normale Nation“ bezeichnen, um die Bundesrepublik in seine Tradition stellen zu können; die behaupten, das Kaiserreich werde von Kritikern im Inland wie im Ausland als autoritär und aggressiv dargestellt, um das Deutschland des 21. Jahrhunderts an einer selbstbewussten nationalen Politik zu hindern. Sie merken: Wissenschaftlicher und öffentlicher Diskurs lassen sich nicht voneinander trennen.
Auch die Debatte um Entschädigungszahlungen an die Hohenzollern, zu der Sie sich immer wieder öffentlich geäußert haben, findet geschichtspolitisch nicht im luftleeren Raum statt.
In der Tat. Dass „Kronprinz“ Wilhelm dem Nationalsozialismus erheblichen Vorschub geleistet hat, so die Formulierung des Ausgleichsleistungsgesetz von 1994, wird von keinem ernstzunehmenden Historiker bestritten. Und doch gibt es Stimmen, die meinen, demgegenüber an die angeblichen Verdienste der Hohenzollern vor 1918 erinnern zu müssen. Die klandestinen Gespräche, die seit 2014 staatlicherseits mit Vertretern des „Hauses Hohenzollern“ geführt werden, seit 2019 aber unterbrochen sind, sind privilegiert. Dahinter steht das legitime, zumindest jedoch nachvollziehbare Interesse der öffentlichen Hand, Kulturgüter von enormem materiellen und immateriellen Wert vor dem Risiko einer gerichtlichen Auseinandersetzung zu schützen. Nur ist das kein Grund für Geheimverhandlungen.
Wie bewerten Sie, dass die Bundesregierung gleichzeitig aber Verhandlungen mit Vertretern der Nama und Herero ablehnt? Immerhin wurden diese beiden Gruppen in der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ Opfer eines von Deutschen verübten Völkermords.
Diese beiden Verhandlungskomplexe haben formal nichts miteinander zu tun, werden aber zunehmend in einen – geschichtspolitischen – Zusammenhang gebracht. Dahinter steht das wachsende gesellschaftliche Bewusstsein für die deutsche koloniale Vergangenheit, die alles andere als eine marginale Episode war. Sie holt uns heute ein, und das mit umso größerer Wucht, weil es lange Zeit keine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem deutschen Kolonialismus gegeben hat. Die Entschädigungsforderungen der Herero und Nama, die sich mit symbolischen Zahlungen an den Staat Namibia nicht abfinden wollen, sind nur eine Dimension der Thematik. Gewalt und Aggression gab es auch anderswo im deutschen Kolonialreich. Das erklärt auch die kontroverse Debatte über das Humboldt-Forum. In ihr überschneidet sich die Auseinandersetzung über Deutschlands koloniale Vergangenheit mit der Erinnerung an Preußen und die Hohenzollern-Monarchie.
Den für das Kaiserreichs grundlegenden Autoritarismus erwähnten Sie bereits. Auf dem Weg zur Reichsgründung setzen allerdings auch liberale Ideen Impulse. Welchen Stellenwert hatte der Liberalismus damals?
Immer wieder gab es den Vorwurf, die Liberalen seien der Versuchung der Macht erlegen, hätten ihre liberalen Ideale verraten und dadurch Obrigkeitsstaat und Autoritarismus gestärkt – mit Wirkungen weit ins 20. Jahrhundert hinein. Allerdings resultierte der liberale Schulterschluss mit Bismarck auch aus einer liberalen Fortschrittsgewissheit, aus der Überzeugung, dass die Nationalstaatsbildung enorme Liberalisierungschancen bereithalte. Das war ja nicht falsch. Denn die Reichsgründung überwand die als freiheitsfeindlich wahrgenommene „Kleinstaaterei“. Zudem entstanden auch ein nationaler Wirtschaftsraum sowie ein Rechtsstaat, in dem Regierung und Verwaltung an Recht und Gesetz gebunden waren. Im Kulturkampf unterstützten die Liberalen zudem den Durchbruch des modernen, des säkularen Staates.
Dem allgemeinen Wahlrecht jedoch standen die meisten Liberalen eher skeptisch gegenüber, sie waren keine Befürworter der Massendemokratie. Den Aufstieg der Sozialdemokratie beobachteten sie argwöhnisch. Vor einem politischen Zusammengehen mit der SPD, das vielleicht den Durchbruch zur parlamentarischen Demokratie hätte erreichen können, schreckte man bis in die Kriegsjahre zurück. Die Furcht vor der „roten Revolution“ wirkte lange nach. Stattdessen trug der politische Liberalismus an der Seite der Konservativen zur Stabilisierung des Autoritarismus bei, und auch der Nationalismus hatte im liberalen Bürgertum eine seiner wichtigsten Trägergruppen.
Vielerorts setzen Liberale dennoch bedeutende soziale Reformen durch. Wie bewerten Sie den kommunalen Liberalismus?
Er war eine bestimmende Kraft der gesellschaftlichen Modernisierung insbesondere in den urbanen Zentren. Bedeutende Liberale waren Oberbürgermeister großer Städte, unter ihnen Max Forckenbeck in Breslau und Berlin oder Johannes Miquel in Frankfurt. Den kommunalen Liberalismus kennzeichneten allerdings tiefe Widersprüche: sozialreformerische Verdienste um den Aufbau der modernen Daseinsvorsorge waren verbunden mit politischer Illiberalität. So stand dem allgemeinen Reichstagswahlrecht (der Männer) in vielen Städten, gerade in Preußen, ein zutiefst rückständiges, undemokratisches Zensuswahlrecht gegenüber. Insofern stützte der kommunale Liberalismus in seiner politischen Illiberalität und seiner Abwehrhaltung gegen die Sozialdemokratie den Autoritarismus des Kaiserreichs. Die Ambivalenz, die das Kaiserreich insgesamt charakterisiert, spiegelt sich auch im politischen Liberalismus jener Zeit
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