Shanghai – vom Lockdown in die Revolte?

Foto: Jin Liwang /​ Imago Images

Nach Shanghai befindet sich nun auch Peking im Lockdown. Die Folgen für die Menschen, die ihre Häuser nicht mehr verlassen dürfen, sind katastrophal, der Wider­stand scheint zu wachsen.

Jetzt werden in Shanghai Türen versiegelt und ganze Häuser einge­zäunt, sodass die Einwohner sie nicht mehr verlassen können. Die „No Covid“-Strategie Pekings ist vor den Augen der Welt zu einem Fiasko geraten, für das die Menschen mit dem Entzug ihrer ohnehin schon sehr einge­schränkten Rechte bitter zahlen müssen. Dieses Einsperren der Shang­haier Bevöl­kerung ist eine weitere Entgleisung einer Diktatur, die jedes Maß verloren hat: Klein­kinder wurden von ihren Eltern getrennt und in Betten zusammen gepfercht ihrem Schicksal überlassen. Fotos, die diese Scham dokumen­tieren, gingen um die Welt. Haustiere, die die Menschen auf die Straße ließen, sodass sie sich selbst etwas er jagen könnten, wurden von der Stadt­ver­waltung getötet. Menschen, die es zu Hause vor Hunger nicht mehr aushielten und auf die Straße gingen, um nach Essen zu suchen, wurden von Schlä­ger­trupps, die die Regierung losge­schickt hatte, verprügelt und misshandelt.

Nun ist auch Peking im Lockdown, im Stadtteil Chaoyang dürfen 3,5 Millionen Menschen, das sind ungefähr so viele, wie in Berlin leben, ihre Häuser nicht mehr verlassen. Es wird nicht bei diesen beiden Metro­polen bleiben. In China haben Klein­städte, deren Namen im Rest der Welt so gut wie niemand kennt, nicht weniger als zehn Millionen Einwohner. Auch hier zum Vergleich: Im Großraum London, dem größten Ballungs­gebiet Europas, leben 14 Millionen Menschen. Derzeit sind neben Shanghai und Peking die Städte Changchun, Jilin, Shenyang, Tianjin, Shenzhen und Guangzhou teilweise oder ganz im Lockdown.

Die Partei­pro­pa­ganda läuft derweil auf Hochtouren, denn es gilt, jetzt einen landes­weiten Protest zu vermeiden. Die von der Partei kontrol­lierten Medien zeigen Fotos mit reichlich gefüllten Auslagen: Gemüse und Obst satt, die Bildun­ter­zeilen versprühen Optimismus. Doch die Realität sieht anders aus: Nach Hamster­käufen sind die Regale in Pekings Super­märkten leer gekahlt. Ein zweites Shanghai, in dem die Bewohner nicht genug zu essen haben, wollen die Pekinger nicht.

Am Tag infizieren sich 20.000 Menschen in Shanghai neu mit dem Corona-Virus. Wer krank wird, der muss in eine staat­liche Isola­ti­ons­an­stalt. Von den Zuständen dort berichten (Überle­bende – das hört sich eher nach KZ an, wirklich so schlimm?) entsetz­liches. Und wird in einem Wohnblock eine infizierte Person identi­fi­ziert, verlängert sich der Lockdown dort für alle Bewohner des Komplexes um 14 Tage. Die Menschen posten Videos im Internet und lassen dort ihrem Unmut freien Lauf. Aller­dings löscht die staat­liche Zensur alles relativ zeitnah wieder. Deshalb wissen die Menschen im Rest der Volks­re­publik nicht wirklich, was in Shanghai vor sich geht.

Neu an den aktuellen Entwick­lungen ist aber, dass die Leute keine Techno­logie brauchen, um zu verstehen, was vor sich geht. Der Hunger hat von jeher Revolu­tionen ausgelöst. Und in Shanghai, Peking, Changchun, Jilin, Shenyang, Tianjin, Shenzhen und Guangzhou leben die darbende Tür an Tür. Die Diktatur in Peking hat in den vergan­genen Jahren Vorkeh­rungen getroffen, sodass die Menschen sich online nicht mehr organi­sieren und zu Protesten treffen können. Wer sich entspre­chend im Internet äußert, kann keine Zugti­ckets mehr kaufen oder ein Flugzeug besteigen.

Die Eskalation kommt für Macht­haber Xi Jinping zur Unzeit. Im Herbst möchte er sich vom Natio­nalen Volks­kon­gress ein drittes Mal zum Präsi­denten ausrufen lassen. Eigentlich erlaubt die Verfassung nur zwei Amtszeiten, insgesamt zehn Jahre. Damit sollte nach den Grauen, für die Mao Zedong verant­wortlich war (dem Hunger sollen damals Millionen Menschen zum Opfer gefallen sein), eine weitere Einmann-Diktatur verun­mög­licht werden. Xi, der Mao sein Vorbild nennt, hat die Uhren zurück­ge­stellt und das Land Schritt für Schritt in eine Diktatur verwandelt. Das gefällt längst nicht jedem. Gleichwohl hat Xi Jinping seine Gegner in der vergan­genen Dekade kaltge­stellt, sodass es im Moment keinen Heraus­for­derer gibt, der an die Stelle des Präsi­denten treten könnte. Die Partei hat alles auf die Karte Xi gesetzt.

Deshalb wird sich Peking nicht von Shang­haiern oder Pekingern, die auf die Straße gehen und ihre Freiheit zurück­wollen, heraus­fordern lassen. Zu viel steht auf dem Spiel für Xi Jinping, der seine Zeit im Amt dazu genutzt hat, China nach seinen Vorstel­lungen in eine Diktatur umzubauen. Über das Massaker auf dem Platz des Himmli­schen Friedens, bei dem 1989 tausende Menschen von der kommu­nis­ti­schen Führung getötet wurden, darf in Xis Reich nicht gesprochen werden. Schwei­gende Chinesen sind Xi Jinping am liebsten. Doch jetzt schreien sie ihren Hunger und ihren Abscheu heraus und alle Welt hört sie. Revolte liegt in der Luft.

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