Italien vor der Wahl – „Ja, ihr dürft besorgt sein“

Foto: Imago Images

Muss sich Europa Sorgen machen über den Ausgang der kommenden Parla­ments­wahlen – oder sind sie nur eine vorüber­ge­hende Erschüt­terung eines chronisch insta­bilen Systems?

Das italie­nische Konsulat hat mir fürsorglich einen hübschen Umschlag mit all den notwen­digen Materialen für die anste­henden Parla­ments­wahlen geschickt – als in Frank­reich lebende italie­nische Staats­bür­gerin bin ich wahlbe­rechtigt für die Abgeord­neten der Italiener im Ausland. Und nun starre ich auf die Logos der verschie­denen Koali­tionen, unter denen ich mich entscheiden soll. Wie viele Europäer, die ich kenne/​höre/​lese, komme ich nicht umhin, mich zu fragen: wie konnte es eigentlich soweit kommen?

Chronische Insta­bi­lität

Ein kurzer Rückgriff auf die Beschaf­fenheit der italie­ni­schen Insti­tu­tionen ist hilfreich. Anders als Frank­reich mit seinem semi-präsi­den­ti­ellen Regime ist Italien eine parla­men­ta­rische Republik: Die Bürger wählen die Parla­ments­ab­ge­ord­neten, und der Präsident der Republik ernennt daraufhin den Premier­mi­nister und die von ihm/​ihr vorge­schla­genen Kabinetts­mit­glieder. Da die Regierung das Vertrauen des Parla­ments erhalten muss, ist der Ernen­nungs­prozess umständlich und erfordert Sondie­rungen aller Partien von Seiten des Präsi­denten. Es geht darum, eine Regierung zu bilden, die echte Chancen hat, das Vertrauen auf Dauer ausge­sprochen zu bekommen.

Dies wiederum scheint eine „Mission: Impos­sible“ zu sein. Die italie­nische Politik ist von chroni­scher Insta­bi­lität gekenn­zeichnet, was haupt­sächlich auf ein hochgradig fragmen­tiertes Spektrum politi­scher Akteure zurück­zu­führen ist. Deshalb spielen, wenn es die verschie­denen Gruppie­rungen nicht schaffen, eine solide Mehrheit im Parlament zu erlangen, Allianzen eine strate­gische Rolle. Und die häufigen Wechsel in diesen Allianzen führen unwei­gerlich zu Regie­rungs­krisen. Zwei oder mehr Regie­rungen während einer Legis­la­tur­pe­riode, oder gar verkürzte Perioden mit Neuwahlen, sind die Norm: seit 1948 hatten wir 28 Legis­la­tur­pe­rioden mit 60 Regierungen!

Die vergan­genen vier Jahre illus­trieren dies exempla­risch: Auf die Wahlen im März 2018 folgten drei Regie­rungen. Zunächst die Koali­ti­ons­re­gierung unter Giuseppe Conti von Juni 2018 bis September 2019, gefolgt von einer zweiten Regierung Conti bis Februar 2021, und schließlich Mario Draghis „Regierung der natio­nalen Einheit“ (“governo di unità nazionale”). Wenn die politi­schen Parteien sich unfähig zeigen, sich auf einen Premier­mi­nister zu einigen, übernimmt der Präsident die Aufgabe: Draghi wurde von Sergio Mattarella ins Amt berufen. Die Legiti­mität seiner Regierung beruhte auf seiner allseits anerkannten Fachkom­petenz und hatte – eine Zeitlang – einen starken Rückhalt im Parlament. Ihr Auftrag war, die von der COVID-19-Pandemie ausge­löste Gesundheits‑, Wirtschafts- und Sozial­krise zu meistern und die massive Hilfe des EU-Konjunk­tur­pakets (Wieder­auf­bau­fonds „NextGe­ne­ra­tionEU“) zu verwalten.

Welche Optionen gibt es nach Draghi?

In der politi­schen Landschaft nach Draghis Abgang finden wir heute zum einen die Fünf-Sterne-Bewegung, die nach ihrem Überra­schungs­erfolg mittler­weile deutlich geschrumpft ist, zum anderen eine zerstü­ckelte Reihe von Parteien auf der Linken und im Zentrum, und schließlich eine weit rechts angesie­delte, bizarre Koalition, der ein klarer Sieg voraus­gesagt wird. In anderen Worten: wir werden eine Regierung bekommen, in der ein 85-jähriger Silvio Berlusconi, mit seiner langen Serie von Skandalen und Justiz­af­fären, als „gemäßigter“ Vertreter der Vernunft durchgeht! Tatsächlich hebt er sich ab von den beiden anderen, in der extremen Rechten veran­kerten Koali­ti­ons­partnern: Der Lega per Salvini Premier (ehemals Lega Nord), die von Matteo Salvini angeführt wird, und den Fratelli d’Italia unter Giorgia Meloni. In den Wahlen von 2018 erreichte die Lega 17,4%, während die Fratelli bei lediglich 4,3% landeten. In der Zwischenzeit hat sich das Kräfte­ver­hältnis umgekehrt, und die Meinungs­um­fragen zeigen die Lega bei rund 12%, während die Fratelli mittler­weile bei 25% liegen.

Matteo Salvini führt eine Partei an, die sich wenig um ihre eigenen Inkohä­renzen schert. Nachdem sie in Norditalien über Jahrzehnte hinweg rassis­tische Sprache und Einstel­lungen gegenüber den Menschen aus dem Süden, die der Arbeit wegen in den Norden gezogen waren, hoffähig gemacht hatte, versuchte sie in den vergan­genen Jahren, ihren Wähler­stamm zu erweitern, indem sie ihr Hass-Narrativ auf Ausländer im Allge­meinen ausweitete. Salvini selbst ist in mehrere Justiz­af­fären verwi­ckelt, darunter der noch anste­hende Prozess über seine Weigerung als damaliger Innen­mi­nister, ein neutrales Rettungsboot mit 147 schiff­brü­chigen Geflüch­teten an Bord in einem italie­ni­schen Hafen anlegen zu lassen. Und während sich die Lega und ihre Anhänger als neue, glaub­würdige Kraft gegen die korrupten tradi­tio­nellen Volks­par­teien positio­nieren, sind sie selbst in zahllose Korrup­tions-Affären verwi­ckelt, unter anderem in eine Unter­schlagung von 49 Millionen Euro, die der Staat zurückverlangt.

Die Fratelli d’Italia haben ohne Zweifel von Salvinis relativem Niedergang profi­tiert und die Gelegenheit genutzt, sich vom Diskurs der Lega abzuheben. Und die Wähler scheinen sich nicht zu stören an der intrin­si­schen Inkohärenz einer Allianz zwischen der Lega, die jahrelang separa­tis­tische Ziele verfolgte oder zumindest die Stärkung des Födera­lismus forderte, und den Fratelli, die tradi­tionell nach einem starken Zentral­staat rufen. Vielleicht wurde das Konzept eines ”Fiskal-Födera­lismus” nur deshalb ins gemeinsame Programm aufge­nommen, um diesen Wider­spruch zu entschärfen.

In ihrem offizi­ellen Wahlpro­gramm vermieden die Fratelli d’Italia, zu einigen heiklen Themen klar Stellung zu beziehen, was auf das Ziel einer „Norma­li­sierung“ hinweist, ähnlich derer, die in Frank­reich von Marine Le Pens Rassem­blement National mit Erfolg betrieben wurde. In der Hitze des Wahlkampfs unter­liefen Giorgia Meloni und ihrer Gefolg­schaft jedoch einige öffent­liche Äußerungen in den Medien, die zu Besorgnis über ihre rechts­extreme Gesinnung Anlass gaben, wie zum Beispiel zum Thema Abtrei­bungs­recht. Das Programm betont die zentrale Rolle der Familie – aller­dings ausdrücklich tradi­tio­neller Familien. Angekündigt wurde zwar eine Beibe­haltung ziviler Partner­schaften, aber deutlich wurde auch eine klare Ablehnung von Adoption durch gleich­ge­schlecht­liche Paare.

Ganz oben auf der Agenda stehen Sicherheit und Immigration. Die Außen­po­litik der Fratelli d’Italia fundiert auf dem Schutz des natio­nalen Inter­esses, und sie bekennen sich zur „Vertei­digung der klassi­schen und jüdisch-christ­lichen Wurzeln Europas“. Ihr Slogan „Italien vertei­digen“ erweckt die Vorstellung einer gegen das Land gerich­teten Aggression – was sich vollkommen in den „Wir-gegen-die-Anderen“-Antagonismus einfügt, der für das Narrativ der extremen Rechten kennzeichnend ist. Schließlich sei noch auf ihre Symbolik hinge­wiesen: Die umstrittene grün-weiß-rote Flamme, die histo­risch mit dem neo-faschis­ti­schen Movimento Sociale Italiano assoziiert ist.

Ja, ihr dürft besorgt sein!

Meinen europäi­schen Freunden und Mitbürgern, die sich fragen, ob sie sich nun sorgen sollen oder doch nur mit der Achsel zucken, möchte ich antworten mit einem klaren „Ja, definitiv, wir sollten uns alle ernsthaft Sorgen machen“. Was in Italien passiert, ist keine gute Nachricht für Europa. In der Vergan­genheit hatte Giorgia Meloni bereits vorge­schlagen, jegliche Referenz zur Europäi­schen Union aus der italie­ni­schen Verfassung zu tilgen. Und heute stehen die Fratelli d’Italia den Positionen von Viktor Orbán in weiten Teilen sehr nahe. Ihr Wahlsieg könnte schwer­wie­gende Folgen für Italien und Europa haben. Und ihre Koalition mit Salvinis Bewegung wird sie noch stärker machen. Zumindest bis zur nächsten Regierungskrise.

Diese könnte früher als erwartet eintreten. Insbe­sondere, wenn die neue Regierung sich daran macht, eine Verfas­sungs­reform aus ihrem Wahlpro­gramm umzusetzen, mit dem Ziel die parla­men­ta­rische Republik in ein Präsidial-Regime mit starker Exekutiv-Gewalt umzuwandeln. Gut möglich, dass wir einen Punkt erreicht haben, an dem unsere chronische Insta­bi­lität uns tatsächlich retten könnte.

Textende

Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unter­stützen damit die publi­zis­tische Arbeit von LibMod.

Spenden mit Bankeinzug

Spenden mit PayPal


Wir sind als gemein­nützig anerkannt, entspre­chend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spenden­be­schei­nigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adress­daten bitte an finanzen@libmod.de

Verwandte Themen

Newsletter bestellen

Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regel­mäßig Neuig­keiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.

Mit unseren Daten­schutz­be­stim­mungen
erklären Sie sich einverstanden.