Zerfall oder Aufbruch – Blicke auf Europa

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Autorinnen und Autoren wie Timothy Garton Ash, Anne Applebaum oder Geert Mak haben die letzten Jahrzehnte voller Umbrüche und Erschüt­te­rungen in Europa miterlebt. In ihren Werken verknüpfen sie die Erfah­rungen ihrer eigenen Biografien und Reisen zu einer Gesamt­ge­schichte des Konti­nents. Eine litera­rische Gesamt­schau von Wolfgang Templin.

 

An Versuchen sich dem Kontinent Europa als Chronist, Histo­riker oder Schrift­steller anzunähern, fehlt es nicht. Oftmals entstehen dann dickleibige, gelehrte Kompendien. Leserinnen und Leser, die histo­risch inter­es­siert sind und nicht nur mit Daten, Fakten und Statis­tiken überhäuft werden wollen, die keine reine Staaten- und Insti­tu­tio­nen­ge­schichte suchen, greifen gerne zu Biografien, Memoiren und Autobiographien.

Dabei können Autorinnen oder Autoren besonders inter­essant sein, die es verstehen, die Erfah­rungen ihrer eigenen Biografie und lokalen Identität mit inten­siver Reiselust zu verbinden. Reisen, die sie in alle Teile und Winkel Europas und der Welt insgesamt führen.

Timothy Garton Ash, Geert Mak, Hans Magnus Enzens­berger, Ralf Dahrendorf, Anne Applebaum und Donald Tusk haben als Zeitge­nossen der Gegenwart die Umbrüche, Krisen und Erschüt­te­rungen der letzten Jahrzehnte miterlebt – ihre Reflek­tionen und Bücher reichen bis in die drama­ti­schen Krisen, mit denen wir aktuell konfron­tiert sind.

Wenn die Verfasser dann noch das Talent besitzen, aus allen Teilen des eigenen, indivi­du­ellen Puzzles eine farbige Gesamt­ge­schichte zu formen, entsteht etwas ganz Besonderes.

„In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert“

Ein solcher Autor, ein solches Talent ist der nieder­län­dische Journalist und Publizist Geert Mak. Er wurde 1946 in Amsterdam geboren und widmete sich in ersten Büchern der Geschichte seiner Heimat­stadt, bis hin zu Porträts einzelner Stadt­teile, Straßen und Gebäude. Die Passion zum Detail, verband er mit dem Blick für den Platz der Nieder­lande in der europäi­schen Geschichte. Um die Jahrtau­send­wende bereiste er für das Nieder­län­dische Handels­blatt den Kontinent von Finnland bis Sizilien, von Schottland bis zur Ukraine. Aus einem täglichen Beitrag für die Titel­seite der Zeitschrift, aus Beobach­tungen vor Ort, Gesprächen mit den letzten Zeitzeugen lange zurück­lie­gender Jahrzehnte und Quellen­studien formte er ein großes Panorama.

Es folgte ein Buch über die Galata Brücke in Istanbul, in dem er der Synthese Europas und Asiens in der Türkei nachspürte. Dann unternahm er eine lange, litera­risch verar­beitete Reise durch die Verei­nigten Staaten.

Knapp zwanzig Jahre nach seinem ersten Europabuch – der Konfron­tation mit zahlreichen neuen Krisen ausge­setzt, denen sich Europa stellen musste – durch­streifte Maak noch einmal den Kontinent. Kurz vor dem Ausbruch Corona­epi­demie verar­beitete er die neuen Erfah­rungen in dem Buch:

„Große Erwar­tungen. Auf den Spuren des europäi­schen Traums (1999–2019)“

Es wurde kein Abgesang auf einen optimis­ti­schen Traum, sondern der Versuch, an Hoffnungen festzu­halten, nach der Kraft zu suchen, sich neuen und gefähr­lichen Heraus­for­de­rungen zu stellen.

Der britische Histo­riker und Publizist Timothy Garton Ash, knapp ein Jahrzehnt jünger als Geert Mak, wurde zu einem Europa­rei­senden ganz eigener Art.

Seine faszi­nie­renden Bücher über den geteilten und neu geeinten Kontinent leben von einer Zeitge­nos­sen­schaft, die seine persön­lichen Berichte mit beson­derer histo­ri­scher Tiefen­schärfe versehen. Anekdoten, Skizzen, Repor­tagen zeigen Garton Ash in der Gesell­schaft der Mächtigen, lassen ihn gesell­schaft­lichen Wider­stand und Opposition erkunden, mit Unbekannten und Außen­seitern in Berührung kommen.

„Europa. Eine persön­liche Geschichte“

Sein aktuelles Buch „Europa. Eine persön­liche Geschichte“ beginnt mit einem Rückgriff auf die Famili­en­ge­schichte, in der Strände in der Normandie und Orte in der Norddeut­schen Tiefebene eine Rolle spielen. Sein Vater erlebte diese Orte als briti­scher Soldat und Kriegsteilnehmer.

Für sich bestimmt Garton Ash das Jahr 1973 als biogra­fi­schen Ausgangs­punkt. Er ist als achtzehn­jäh­riger Austausch­schüler in Frank­reich mit einem Europa konfron­tiert, dass nicht nur durch den Eisernen Vorhang zerteilt wird. Einge­schlossen in den Staaten des Ostblocks leben etwa 389 Millionen Europäer in Dikta­turen, nur etwa 289 Millionen in Demokratien. Die Türkei ist mit 37 Millionen dazwischen.

Erst der Fall der Dikta­turen in Griechenland, Portugal und Spanien verschiebt hier die Gewichte. Ereig­nisse, die zum westlichen Teil der Erfah­rungen des jungen Briten gehören. Im Jahre 1975 ist Garton Ash das erste Mal jenseits des Eisernen Vorhangs und gelangt unter anderem durch seine Faszi­nation für Thomas Mann zu einem fünfjäh­rigen Geschichts­studium. Er pendelt zwischen Oxford und Westberlin, wird Gaststudent an der Ostber­liner Humboldt-Univer­sität und kann Jahrzehnte später in den umfang­reichen Akten, welche das Minis­terium für Staats­si­cherheit über ihn anlegte, Spuren seiner damaligen Abenteuer und Begeg­nungen finden. Ganz fremd war der Kontakt zu Geheim­diensten für den jungen Histo­riker nicht, denn auch die britische Seite hatte schon versucht, ihn für ihre Zwecke einzu­setzen. Garton Ash lehnte ab, sich an die richtige Seite zu verkaufen und wurde statt­dessen lieber „Spion für die Wahrheit“ – so seine launige Selbstbezeichnung.

Die Dossiers in seinen Akten reichen von der hochkul­ti­vierten weißhaa­rigen deutsch-jüdischen Dame in Ostberlin, die dem jungen briti­schen Studenten mit großer Offenheit begegnet und hemmungslos über ihn berichtet, über mannig­faltig andere Zeitge­nossen. Nicht jede Frau und jeder Mann, die er in Ostberlin und der DDR traf, wurde zum Denun­zi­anten. Ash war jedoch mit einer Realität konfron­tiert, die er im Nachhinein als „anormale Norma­lität“ beschreibt. Die DDR der Honecker-Ära zeigte im trotzigen Aufbe­gehren Einzelner, in den Friedens­kreisen und späteren Opposi­ti­ons­gruppen nur wenig offenen Wider­stand. An Begeg­nungen wie das Zusam­men­treffen mit Ulrike und Gerd Poppe in einer Hinter­haus­wohnung im Prenz­lauer Berg knüpfte Garton Ash seine besten Erinne­rungen, wurde aber vor allem mit viel Konfor­mismus und unter­drücktem Frust konfrontiert.

Etwas anders sah es in anderen Ländern des Ostblocks aus und zur absoluten Ausnahme wurde Polen. Ein Erweckungs­er­lebnis für den Histo­riker, der hier seine spätere Frau Danuta kennen­lernt, die Anfänge der Solidarność im August 1980 hautnah erlebt und zum Freund und Vertrauten zahlreicher Akteure und Protago­nisten der polni­schen Opposition wird. Die Kette der Personen reicht von Adam Michnik und Jacek Kuroń, Tadeusz Mazowiecki und Bronisław Geremek bis hin zu Arbeitern der Lenin­werft und dem Oberhaupt der Katho­li­schen Kirche Karol Wojtyła. Sie alle eint die Überzeugung vom baldigen Ende der kommu­nis­ti­schen Zwangs­herr­schaft in Polen und dem letzt­lichen Zerfall des Ostblocks. Wojtyła fasst das gegenüber Garton Ash in die eigen­wil­ligen Worte, dass das Reich des Satans fallen müsse.

Was dem Papst nach diesem Fall als Gefahr vor Augen stand, vertraute er dem Histo­riker 1987 an. In seiner Sommer­re­sidenz in Castel Gandolfo versam­melte Wojtyła in jedem Jahr einen auser­wählten Kreis von Intel­lek­tu­ellen zu philo­so­phi­schen Gesprächen über die Zukunft Europas und der Welt, eine Runde zu der Ash auch gehören durfte. Dort raunte ihm das Kirchen­ober­haupt bei einem Abend­essen zu, dass er den Kapita­lismus fast ebenso verab­scheue wie den Kommu­nismus. Prophe­tische Worte, an die sich Ash, eigener späterer Illusionen gedenk, immer wieder erinnern sollte.

Es waren die Erfah­rungen der achtziger Jahre, gesammelt in allen Haupt­städten des Ostblocks, in den Küchen der Dissi­denten, den Kellern und Katakomben der Opposi­tio­nellen, die den briti­schen Histo­riker immer stärker den Glauben an das bevor­ste­hende Wunder teilen ließen: das Wunder einer fried­lichen Revolution. In der freiwil­ligen Selbst­be­schränkung der Revolu­tionäre, die zum Polni­schen Runden Tisch und allen folgenden Kompro­missen führte, steckte die Erfahrung der geschei­terten Aufstände, aber auch der misslun­genen Reform­ver­suche aus der Spitze der kommu­nis­ti­schen Parteien. Was aus den frühen Helden werden sollte, konnte man, wie so häufig, nur schwer voraus­ahnen. Im Spätsommer 1989 traf Garton Ash in Budapest mit dem jungen, feurigen Viktor Orbán als Anführer revol­tie­render Studenten zusammen, die den Abzug der russi­schen Truppen forderten. Ein absolutes Sakrileg in diesem Moment. Der Studen­ten­führer wirkte, als wolle er alle Werte der liberalen Demokratie teilen und ließ sich noch im Herbst 1989 von seinem Förderer George Soros zu einem Stipendium in Oxford verhelfen.

Für die fried­lichen Revolu­tionäre und alle, die ihnen auf den Straßen und Plätzen des Herbstes 1989 folgten, setzte das wirkliche Ende des Krieges erst jetzt ein. Während 1945 und die Folgen dem einen Teil Europas Freiheit und Wohlstand brachten, wurde der andere Teil jahrzehn­telang in Beugehaft für die Verbrechen der Vergan­genheit gehalten.

Garton Ash verstand und unter­stützte diese Haltung, selbst wenn er immer wieder mit anderen Blicken auf die Geschichte konfron­tiert wurde. Westliche Friedens­ak­ti­visten und Vertei­diger der Entspan­nungs­po­litik verur­teilten die Rüstungs­an­stren­gungen des Westens, setzten auf Gorbat­schow und die Reform­fä­higkeit von Politikern des Ostblocks. Für sie war Ronald Reagan ein zweit­klas­siger Schau­spieler, den sie stärker ablehnten als wirkliche Autokraten und Dikta­toren in anderen Teilen der Welt, Den freien Westen, den es zu vertei­digen gälte, hielten sie für eine Chimäre. Die Realität sah anders aus.

Gorbat­schow war ein Held des Rückzugs, der den fried­lichen Charakter von 1989 sicherte, selbst wenn alle Hoffnungen auf Glasnost und Perestroika für die Sowjet­union selbst letztlich zerstoben.

Bei aller Nähe zu den Akteuren des Umbruchs, die in zahlreichen Ländern Ostmit­tel­eu­ropas zu wichtigen Politikern wurden, versuchte sich Garton Ash von Illusionen freizu­halten. Die Geschichte Nachkriegs­eu­ropas konnte nicht in ein Märchen verwandelt werden, in dem weise tugend­hafte Helden aus ihren Erfah­rungen mit der Hölle lernten, um daraus dann den Himmel zu schaffen.

Dafür waren die Aufgaben zu neu, zu gewaltig; waren viele Betei­ligte zu anfällig für die Verlo­ckungen von Prominenz, Macht und Reichtum. Mit der Freiheit, die tatsächlich kam, wuchsen die Möglich­keiten, die der ungebän­digte, kaum sozial­staatlich gezügelte Kapita­lismus eröffnete. Garton Ash, mit allen Reform­ländern Mittel­ost­eu­ropas vertraut und weiter unermüdlich unterwegs, konnte die dortige Dynamik, das Chaos und die Kämpfe hautnah verfolgen.

In seinem Lieblingsland Polen entbrannte im Frühjahr 1990 der „Krieg an der Spitze“, in dem sich die Sieger von 1989, die noch am runden Tisch zusam­men­hielten, unver­söhnlich zerstritten. Sie kämpften um die Zukunft ihres Landes und ihren eigenen Platz in der Arena. Ob sie nun Lech Wałęsa, Tadeusz Mazowiecki, Jacek Kuroń oder Lech und Jarosław Kaczyński hießen. Wirtschafts­po­li­tisch drohte sich die markt­li­berale Schock­the­rapie des Ökonomen Leszek Balce­rowicz durch­zu­setzen. So viele Rezepte und Strategien diverse Marxisten auch für den Übergang vom Kapita­lismus zum Sozia­lismus-Kommu­nismus auch ersonnen hatten und prakti­zierten – für das Gegenteil, den Rückbau des Kommu­nismus existierte keine Blaupause. Zunächst ging der politische Kampf mit einem Etappensieg für die Postkom­mu­nisten aus.

Lech und Jarosław, das rechts­kon­ser­vative Zwillingspaar, welches lange Zeit in der zweiten Reihe agierte, musste noch lange Zeit auf seinen Erfolg warten. Der kam erst mehr als zwei Jahrzehnte später, gründlich und folgenreich.

In Tsche­chien stand der Held der Opposition Vacław Havel, neuer Staats­prä­sident, Freund und Vertrauter von Garton Ash dem oppor­tu­nis­ti­schen, wirtschafts­li­be­ralen Vaclav Klaus gegenüber und musste bittere Nieder­lagen einstecken. Die Bühne des Theaters war ihm vertrauter als manche Niede­rungen der Politik.

Rumänien und Bulgarien, künftige Mitglied­staaten der Europäi­schen Gemein­schaft, in denen Garton Ash ebenfalls unterwegs war, erwiesen sich als dauer­kor­rupte Übergangs­ge­bilde, die lange Zeit weithin unfähig waren, mit der Erblast ihrer kommu­nis­ti­schen Vergan­genheit umzugehen.

Eine besondere Überra­schung wurde unserem Histo­riker bereitet, als er 1994 an einer Konferenz in Petersburg teilnahm. Noch waren zahlreiche Hoffnungen auf Boris Jelzin gerichtet. Garton Ash beschreibt, wie dort ein kleiner Mann mit einem unange­nehmen, etwas ratten­haften Gesicht auftauchte und sich über den Zerfall und Gebiets­verlust des unter­ge­gan­genen sowje­ti­schen Imperiums ausließ. Man konnte es für postim­pe­rialen Trennungs­schmerz halten. Noch fehlte Wladimir Putin die endgültige Portion an Willen, Mitteln und Gelegen­heiten, um seine Wünsche und Sehnsüchte nach einem neuen, starken und unbezwing­baren Russland, Realität werden zu lassen. Er arbeitete jedoch hartnäckig daran. Garton Ash sollte jeden weiteren Schritt von ihm aufmerksam und illusi­onslos verfolgen.

Die entschei­dende Gefahr, welche in den neunziger Jahren alle mit 1989 verbun­denen Hoffnungen zu zerstören drohte, war der Krieg und Völkermord im ehema­ligen Jugoslawien, gipfelnd im Massaker von Srebrenica, im Juli 1995.

Garton Ash war an allen Schau­plätzen dieses blutigen Geschehens unterwegs und berichtete davon. In seinen Aufzeich­nungen finden sich Einträge aus Sarajewo, Zagreb, Belgrad, Pristina und vielen anderen Orten.

Erst 1999, als die von Milosevic verant­wor­teten Angriffe zu einem Völkermord an den Kosovo-Albanern zu werden drohen, schreitet der Westen ein.

Garton Ash beschreibt wie „eine Koalition von Willigen“ aus hartnä­ckigen und prinzi­pi­en­treuen Journa­listen, Politikern, morali­schen Autori­täten wie Vaclav Havel und dem Papst, die vor einem zweiten Bosnien warnen, US-Ameri­ka­nische und europäische Entschei­dungs­träger zum Handeln bewegen. Mit dem Sturz Miloševićs endet dieses schlimmste Kapitel, aber noch lange nicht alle Folgekonflikte.

Es gibt auch deutsche Autoren, die diese Konflikte beschreiben. Aber wenn es um die große europäische Erzählung geht, die damit verbunden ist und immer wieder tief in den Osten des Konti­nents reicht, dominieren die Angel­sachsen, ob Garton Ash, sein Schüler Timothy Snyder, seine Kollegin Anne Applebaum oder der in Polen fast als Natio­nalheld gefeierte Histo­riker Norman Davies. Auch er ein Wanderer zwischen den Welten, dessen Werke Regal­meter in polni­schen Buchhand­lungen füllen.

„Ach Europa“

Fast eine Ausnahme in Deutschland bildet hier die Reise und Abenteu­erlust, das Erzähl­talent von Hans Magnus Enzensberger.

In seinem großen Essay aus dem Jahre 1987 „Ach Europa“, der mit einem Epilog aus dem Jahre 2006 abschließt, unter­nimmt er eine Reise durch sieben europäische Länder, welche er auf unnach­ahm­liche Weise erkundet. Mitten im dortigen Kriegs­zu­stand zieht es ihn 1986 ausge­rechnet nach Polen. Um Unter­stützung dafür suchend, wendet er sich an einen Freund in Wien, weil er der Meinung ist, dass man sich im Zentrum der ehema­ligen Habsburger Monarchie im Osten am besten auskennen müsse. Sein Freund fällt vor Überra­schung fast um, wie Enzens­berger ohne Freunde, ohne Verbin­dungen, ohne eine Wort Polnisch dort klarkommen will. Gegenüber allen Ostex­perten wie seinem Freund, die von Beruf aus allwissend seien, habe er allein seine Neugier und die Bereit­schaft sich überra­schen zu lassen aufzu­bieten, entgegnet Enzens­berger. Sein Freund schüttelt immer noch mit dem Kopf, stellt ihm aber schließlich einen Guide in Gestalt einer charmanten jungen Polin an die Seite.

Ein wunder­bares Reise­pan­orama von über fünfzig Seiten ist das Ergebnis. Es reicht von Warschau bis in die entfern­teste Provinz, führt in die Tiefen und Untiefen der polni­schen Seele und die Alltags­pro­bleme des zerbrö­ckelnden kommu­nis­ti­schen Systems.

Garton Ash hat bereits das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhun­derts durch­messen, als er mit dem Tod seines Freundes und Mentors Ralf Dahrendorf konfron­tiert wird. Er kann dem deutsch-briti­schen liberalen Denker noch eine Feier zu dessen 80. Geburtstag ausrichten, als bereits feststeht, das Dahrendorf nur noch sehr kurze Zeit zu leben hat. In dessen Geschichte kreuzen sich die europäi­schen Totali­ta­rismus-Erfah­rungen des 20 Jahrhun­derts. Als fünfzehn­jäh­riger Junge erlebt Dahrendorf 1944 ein Gestapo-Gefängnis. Er hatte in der Schule Flugblätter gegen die Nazis verteilt. Sein Vater, Angehö­riger des sozial­de­mo­kra­ti­schen Wider­stands, muss nach 1945 mit der Familie aus Ostberlin fliehen, weil er sich als führender SPD-Funktionär der Zwangs­ver­ei­nigung mit den Kommu­nisten wider­setzt. Noch kurz vor der Flucht versuchte das NKWD, den jugend­lichen Ralf zu rekrutieren.

„Betrach­tungen über die Revolution in Europa“

Mit allen Erfah­rungen ihres eigenen Lebens und der langen Zwischen­jahr­zehnte sitzen die beiden Intel­lek­tu­ellen im Sommer 2009 zusammen und stellen sich der Frage europäi­scher Krisen und der eigenen Verant­wortung dabei. Sie kommen letzt­endlich auf den Begriff Hybris. Es war grenzenlose Anmaßung, Hybris, zu glauben, dass die mit 1989 gewonnene indivi­duelle und gesell­schaft­liche Freiheit allein im Vertrauen auf die Kraft des Marktes zu sichern sei. Soziale Verant­wortung und die richtige Verbindung von Freiheit und Gerech­tigkeit hintan­zu­stellen, rächte sich bitter. Die Finanz­markt­krise von 2008 zeigte die Hybris eines globa­li­sierten Finanz­markt­ka­pi­ta­lismus in Reinform. Liberale wie Garton Ash oder Dahrendorf wurden, ob sie es wollten oder nicht, als Ideologen der Reichen und Mächtigen angesehen.

Im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhun­derts sieht Garton Ash Europa angesichts der neuen Heraus­for­de­rungen taumeln, aber nicht fallen. Das Vordringen eines militanten Islamismus, der Umgang oder eher Nicht­umgang mit der Flücht­lings­krise, der Kampf der Ukrainer um ihren Platz in der Europäi­schen Union und die mörde­rische Antwort Russlands – ein Krisen­po­tential nach dem andern.

Von einer festen Hoffnung, die ihm besonders nahe war, muss der britische Europa­freund schmerzhaft Abschied nehmen. Der Hoffnung, dass es den Kräften, die für den Brexit, den Ausstieg seines Vater­landes aus der Europäi­schen Union waren und darauf mit Tricks, Methoden von Falsch­münzern und billigstem Populismus hinar­bei­teten, nicht gelingen würde, sich durch­zu­setzen. Sie schafften es jedoch und Ende Januar 2022 leitete Großbri­tannien den Ausstieg ein.

An dieser Stelle wird Garton Ash zum Philo­sophen und wendet sich mit Henri Bergson gegen die „Illusionen des retro­spek­tiven Deter­mi­nismus“. Die ebenso verbreitete wie verfüh­re­rische Versu­chung zu glauben, dass das, was tatsächlich passiert ist, irgendwie passieren musste. Er argumen­tiert dagegen und führt Fakten an.

Das mehr als knappe Ergebnis, das verwei­gerte Wahlrecht für britische Staats­bürger, die mehr als fünfzehn Jahre im Ausland gelebt haben, die fehlende Möglichkeit für junge Briten zu votieren, wie beim Referendum über die schot­tische Unabhän­gigkeit, ein politi­sches Personal, das sich wirklich dem Kampf für den Verbleib gestellt hätte.

Für Garton Ash musste es nicht zum Brexit kommen und er gibt die Hoffnung auf eine Rückkehr seiner Heimat nicht auf.

Eine andere Hoffnung, an der er mit aller Überzeu­gungs­kraft festhält, erfüllt sich kurz nach dem Erscheinen seines Buches. Auf eine andere Weise als Viktor Orbán, aber mit teilweise ähnlichen Methoden versuchten in Polen die rechts­kon­ser­vative PIS und ihre rechts­ra­di­kalen und populis­ti­schen Verbün­deten die im Herbst 2015 gewonnene Regie­rungs­macht auf Dauer zu stellen. Sie konnten der polni­schen Demokratie schweren Schaden zufügen, den Rechts­staat einschränken und beschä­digen, die Staats­medien in ihre Propa­gan­da­in­stru­mente verwandeln, die Schwäche und Zerstrit­tenheit der liberalen und linken Opposition nutzen und ihr Zerstö­rungswerk über acht Jahre fortsetzen. An den Dauer­erfolg von Viktor Orbán konnten sie nicht anknüpfen und erlitten bei den Wahlen im Oktober 2023 eine entschei­dende Niederlage.

Mannig­fache Skeptiker in anderen Teilen Europas wollten Polen längst abschreiben. Sie sahen die dauer­hafte Allianz von starken Autokraten in Mittel­ost­europa, trauten der polni­schen Zivil­ge­sell­schaft, deren Vertre­te­rinnen und Vertreter immer wieder aufbe­gehrten, keine wirkliche Kraft und den Vertretern der Opposi­ti­ons­par­teien kein Profil zu.

Anne Applebaum, eine Kollegin Garton Ashs, wie wenige andere mit den polnisch-osteu­ro­päi­schen Verhält­nissen vertraut und Autorin zahlreicher Bücher über diesen Teil des Konti­nents, teilte wie er diese Skepsis nicht. Sie sah die Chance, dass Donald Tusk, der langjährige Gegen­spieler des rechts­kon­ser­va­tiven Lagers und polni­scher Minis­ter­prä­sident bis 2014 zum Führer einer geeinten Opposition werden könne. Tusk hatte sich bereits vor der Niederlage seiner liberal­kon­ser­va­tiven Bürger­plattform im Herbst 2014 zum Präsi­denten des Europäi­schen Rates wählen lassen und betrat damit die europäische Bühne in Brüssel. Viele deuteten das als endgül­tigen Abschied aus der polni­schen Politik, andere sprachen von Absetzen. Keine Schmähung, keine Verleumdung blieb ihm von Seiten seiner polni­schen politi­schen Gegner und Feinde erspart. Was sollte ihn, der auch nach dem Auslaufen seiner Ratsprä­si­dent­schaft eine sichere und auskömm­liche Zukunft in Brüssel vor sich hatte, in die unsichere Heimat und das Joch einer extremen Heraus­for­derung führen.

Anne Applebaum und Donald Tusk: „Die Wahl“

In einem langen Gesprächsband mit dem schönen Titel „Die Wahl“ sprechen Anne Applebaum und Donald Tusk über alle europäi­schen Krisen der Gegenwart und den Politik­be­trieb in Brüssel. Sie kennt ihn so gut, dass sie nach den privaten Gründen seiner eigenen Wahl für die Zukunft fragen kann. Einer Entscheidung, die im Herbst 2022 fällt. Tusk weiß um seinen eigenen Anteil an der Niederlage der Bürger­plattform, ihre Blindheit für die Arroganz großer Teile der polni­schen Eliten und der Oberschicht, für die Abgehängten der Unter­klasse und der Hinter­wäldler aus der Provinz. Er hat in Brüssel dazu gelernt, ist zu Korrek­turen bereit und will nicht der „Reiter auf dem weißen Pferd“ sein, der die Erlösung bringt. Mit den richtigen Partnern kann er es schaffen und der Erfolg gab ihm recht. Polen kann wieder zu einem vollgül­tigen Rechts­staat und anerkannten, starken Partner all seiner europäi­schen Nachbarn werden, selbst wenn es bis dahin noch ein mühsamer Weg ist.

Am Beginn der Europa-Abenteuer von Garton Ash steht ein Zitat aus den Tagebü­chern von Leo N. Tolstoi:

Eine wirkliche, wahre Geschichte über das Europa unseres Jahrhun­derts zu schreiben. Das wäre ein Ziel fürs ganze Leben. 

Eine andere Zeit und ein anderes Europa, das unser briti­scher Histo­riker vor sich hat. Seinen Teil an einer solchen Aufgabe versieht er mit Bravour.


 

Literatur

Anne Applebaum, Donald Tusk: „Wybór”, Wydaw­nictwo Agora 2022

Timothy Garton Ash: „Ein Jahrhundert wird abgewählt“, Carl Hanser Verlag 1990

Timothy Garton Ash: „Die Akte „Romeo“. Eine persön­liche Geschichte“, Carl Hanser Verlag 1997

Timothy Garton Ash: „Europa. Eine persön­liche Geschichte“, Carl Hanser Verlag 2023

Ralf Dahrendorf: „Betrach­tungen über die Revolution in Europa“, Deutsche Verlags-Anstalt 1990

Hans Magnus Enzens­berger: „Ach Europa. Wahrneh­mungen aus sieben Ländern“, Suhrkamp Verlag 1987

Geert Mak: „In Europa. Eine Reise durch das 20.Jahrhundert“, Siedler Verlag 2004

Geert Mak: „Große Erwar­tungen. Auf den Spuren des europäi­schen Traums (1999–2022)“, Siedler Verlag 2022

Textende

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