Zerfall oder Aufbruch – Blicke auf Europa

Autorinnen und Autoren wie Timothy Garton Ash, Anne Applebaum oder Geert Mak haben die letzten Jahrzehnte voller Umbrüche und Erschütterungen in Europa miterlebt. In ihren Werken verknüpfen sie die Erfahrungen ihrer eigenen Biografien und Reisen zu einer Gesamtgeschichte des Kontinents. Eine literarische Gesamtschau von Wolfgang Templin.
An Versuchen sich dem Kontinent Europa als Chronist, Historiker oder Schriftsteller anzunähern, fehlt es nicht. Oftmals entstehen dann dickleibige, gelehrte Kompendien. Leserinnen und Leser, die historisch interessiert sind und nicht nur mit Daten, Fakten und Statistiken überhäuft werden wollen, die keine reine Staaten- und Institutionengeschichte suchen, greifen gerne zu Biografien, Memoiren und Autobiographien.
Dabei können Autorinnen oder Autoren besonders interessant sein, die es verstehen, die Erfahrungen ihrer eigenen Biografie und lokalen Identität mit intensiver Reiselust zu verbinden. Reisen, die sie in alle Teile und Winkel Europas und der Welt insgesamt führen.
Timothy Garton Ash, Geert Mak, Hans Magnus Enzensberger, Ralf Dahrendorf, Anne Applebaum und Donald Tusk haben als Zeitgenossen der Gegenwart die Umbrüche, Krisen und Erschütterungen der letzten Jahrzehnte miterlebt – ihre Reflektionen und Bücher reichen bis in die dramatischen Krisen, mit denen wir aktuell konfrontiert sind.
Wenn die Verfasser dann noch das Talent besitzen, aus allen Teilen des eigenen, individuellen Puzzles eine farbige Gesamtgeschichte zu formen, entsteht etwas ganz Besonderes.
„In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert“
Ein solcher Autor, ein solches Talent ist der niederländische Journalist und Publizist Geert Mak. Er wurde 1946 in Amsterdam geboren und widmete sich in ersten Büchern der Geschichte seiner Heimatstadt, bis hin zu Porträts einzelner Stadtteile, Straßen und Gebäude. Die Passion zum Detail, verband er mit dem Blick für den Platz der Niederlande in der europäischen Geschichte. Um die Jahrtausendwende bereiste er für das Niederländische Handelsblatt den Kontinent von Finnland bis Sizilien, von Schottland bis zur Ukraine. Aus einem täglichen Beitrag für die Titelseite der Zeitschrift, aus Beobachtungen vor Ort, Gesprächen mit den letzten Zeitzeugen lange zurückliegender Jahrzehnte und Quellenstudien formte er ein großes Panorama.
Es folgte ein Buch über die Galata Brücke in Istanbul, in dem er der Synthese Europas und Asiens in der Türkei nachspürte. Dann unternahm er eine lange, literarisch verarbeitete Reise durch die Vereinigten Staaten.
Knapp zwanzig Jahre nach seinem ersten Europabuch – der Konfrontation mit zahlreichen neuen Krisen ausgesetzt, denen sich Europa stellen musste – durchstreifte Maak noch einmal den Kontinent. Kurz vor dem Ausbruch Coronaepidemie verarbeitete er die neuen Erfahrungen in dem Buch:
„Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums (1999–2019)“
Es wurde kein Abgesang auf einen optimistischen Traum, sondern der Versuch, an Hoffnungen festzuhalten, nach der Kraft zu suchen, sich neuen und gefährlichen Herausforderungen zu stellen.
Der britische Historiker und Publizist Timothy Garton Ash, knapp ein Jahrzehnt jünger als Geert Mak, wurde zu einem Europareisenden ganz eigener Art.
Seine faszinierenden Bücher über den geteilten und neu geeinten Kontinent leben von einer Zeitgenossenschaft, die seine persönlichen Berichte mit besonderer historischer Tiefenschärfe versehen. Anekdoten, Skizzen, Reportagen zeigen Garton Ash in der Gesellschaft der Mächtigen, lassen ihn gesellschaftlichen Widerstand und Opposition erkunden, mit Unbekannten und Außenseitern in Berührung kommen.
„Europa. Eine persönliche Geschichte“
Sein aktuelles Buch „Europa. Eine persönliche Geschichte“ beginnt mit einem Rückgriff auf die Familiengeschichte, in der Strände in der Normandie und Orte in der Norddeutschen Tiefebene eine Rolle spielen. Sein Vater erlebte diese Orte als britischer Soldat und Kriegsteilnehmer.
Für sich bestimmt Garton Ash das Jahr 1973 als biografischen Ausgangspunkt. Er ist als achtzehnjähriger Austauschschüler in Frankreich mit einem Europa konfrontiert, dass nicht nur durch den Eisernen Vorhang zerteilt wird. Eingeschlossen in den Staaten des Ostblocks leben etwa 389 Millionen Europäer in Diktaturen, nur etwa 289 Millionen in Demokratien. Die Türkei ist mit 37 Millionen dazwischen.
Erst der Fall der Diktaturen in Griechenland, Portugal und Spanien verschiebt hier die Gewichte. Ereignisse, die zum westlichen Teil der Erfahrungen des jungen Briten gehören. Im Jahre 1975 ist Garton Ash das erste Mal jenseits des Eisernen Vorhangs und gelangt unter anderem durch seine Faszination für Thomas Mann zu einem fünfjährigen Geschichtsstudium. Er pendelt zwischen Oxford und Westberlin, wird Gaststudent an der Ostberliner Humboldt-Universität und kann Jahrzehnte später in den umfangreichen Akten, welche das Ministerium für Staatssicherheit über ihn anlegte, Spuren seiner damaligen Abenteuer und Begegnungen finden. Ganz fremd war der Kontakt zu Geheimdiensten für den jungen Historiker nicht, denn auch die britische Seite hatte schon versucht, ihn für ihre Zwecke einzusetzen. Garton Ash lehnte ab, sich an die richtige Seite zu verkaufen und wurde stattdessen lieber „Spion für die Wahrheit“ – so seine launige Selbstbezeichnung.
Die Dossiers in seinen Akten reichen von der hochkultivierten weißhaarigen deutsch-jüdischen Dame in Ostberlin, die dem jungen britischen Studenten mit großer Offenheit begegnet und hemmungslos über ihn berichtet, über mannigfaltig andere Zeitgenossen. Nicht jede Frau und jeder Mann, die er in Ostberlin und der DDR traf, wurde zum Denunzianten. Ash war jedoch mit einer Realität konfrontiert, die er im Nachhinein als „anormale Normalität“ beschreibt. Die DDR der Honecker-Ära zeigte im trotzigen Aufbegehren Einzelner, in den Friedenskreisen und späteren Oppositionsgruppen nur wenig offenen Widerstand. An Begegnungen wie das Zusammentreffen mit Ulrike und Gerd Poppe in einer Hinterhauswohnung im Prenzlauer Berg knüpfte Garton Ash seine besten Erinnerungen, wurde aber vor allem mit viel Konformismus und unterdrücktem Frust konfrontiert.
Etwas anders sah es in anderen Ländern des Ostblocks aus und zur absoluten Ausnahme wurde Polen. Ein Erweckungserlebnis für den Historiker, der hier seine spätere Frau Danuta kennenlernt, die Anfänge der Solidarność im August 1980 hautnah erlebt und zum Freund und Vertrauten zahlreicher Akteure und Protagonisten der polnischen Opposition wird. Die Kette der Personen reicht von Adam Michnik und Jacek Kuroń, Tadeusz Mazowiecki und Bronisław Geremek bis hin zu Arbeitern der Leninwerft und dem Oberhaupt der Katholischen Kirche Karol Wojtyła. Sie alle eint die Überzeugung vom baldigen Ende der kommunistischen Zwangsherrschaft in Polen und dem letztlichen Zerfall des Ostblocks. Wojtyła fasst das gegenüber Garton Ash in die eigenwilligen Worte, dass das Reich des Satans fallen müsse.
Was dem Papst nach diesem Fall als Gefahr vor Augen stand, vertraute er dem Historiker 1987 an. In seiner Sommerresidenz in Castel Gandolfo versammelte Wojtyła in jedem Jahr einen auserwählten Kreis von Intellektuellen zu philosophischen Gesprächen über die Zukunft Europas und der Welt, eine Runde zu der Ash auch gehören durfte. Dort raunte ihm das Kirchenoberhaupt bei einem Abendessen zu, dass er den Kapitalismus fast ebenso verabscheue wie den Kommunismus. Prophetische Worte, an die sich Ash, eigener späterer Illusionen gedenk, immer wieder erinnern sollte.
Es waren die Erfahrungen der achtziger Jahre, gesammelt in allen Hauptstädten des Ostblocks, in den Küchen der Dissidenten, den Kellern und Katakomben der Oppositionellen, die den britischen Historiker immer stärker den Glauben an das bevorstehende Wunder teilen ließen: das Wunder einer friedlichen Revolution. In der freiwilligen Selbstbeschränkung der Revolutionäre, die zum Polnischen Runden Tisch und allen folgenden Kompromissen führte, steckte die Erfahrung der gescheiterten Aufstände, aber auch der misslungenen Reformversuche aus der Spitze der kommunistischen Parteien. Was aus den frühen Helden werden sollte, konnte man, wie so häufig, nur schwer vorausahnen. Im Spätsommer 1989 traf Garton Ash in Budapest mit dem jungen, feurigen Viktor Orbán als Anführer revoltierender Studenten zusammen, die den Abzug der russischen Truppen forderten. Ein absolutes Sakrileg in diesem Moment. Der Studentenführer wirkte, als wolle er alle Werte der liberalen Demokratie teilen und ließ sich noch im Herbst 1989 von seinem Förderer George Soros zu einem Stipendium in Oxford verhelfen.
Für die friedlichen Revolutionäre und alle, die ihnen auf den Straßen und Plätzen des Herbstes 1989 folgten, setzte das wirkliche Ende des Krieges erst jetzt ein. Während 1945 und die Folgen dem einen Teil Europas Freiheit und Wohlstand brachten, wurde der andere Teil jahrzehntelang in Beugehaft für die Verbrechen der Vergangenheit gehalten.
Garton Ash verstand und unterstützte diese Haltung, selbst wenn er immer wieder mit anderen Blicken auf die Geschichte konfrontiert wurde. Westliche Friedensaktivisten und Verteidiger der Entspannungspolitik verurteilten die Rüstungsanstrengungen des Westens, setzten auf Gorbatschow und die Reformfähigkeit von Politikern des Ostblocks. Für sie war Ronald Reagan ein zweitklassiger Schauspieler, den sie stärker ablehnten als wirkliche Autokraten und Diktatoren in anderen Teilen der Welt, Den freien Westen, den es zu verteidigen gälte, hielten sie für eine Chimäre. Die Realität sah anders aus.
Gorbatschow war ein Held des Rückzugs, der den friedlichen Charakter von 1989 sicherte, selbst wenn alle Hoffnungen auf Glasnost und Perestroika für die Sowjetunion selbst letztlich zerstoben.
Bei aller Nähe zu den Akteuren des Umbruchs, die in zahlreichen Ländern Ostmitteleuropas zu wichtigen Politikern wurden, versuchte sich Garton Ash von Illusionen freizuhalten. Die Geschichte Nachkriegseuropas konnte nicht in ein Märchen verwandelt werden, in dem weise tugendhafte Helden aus ihren Erfahrungen mit der Hölle lernten, um daraus dann den Himmel zu schaffen.
Dafür waren die Aufgaben zu neu, zu gewaltig; waren viele Beteiligte zu anfällig für die Verlockungen von Prominenz, Macht und Reichtum. Mit der Freiheit, die tatsächlich kam, wuchsen die Möglichkeiten, die der ungebändigte, kaum sozialstaatlich gezügelte Kapitalismus eröffnete. Garton Ash, mit allen Reformländern Mittelosteuropas vertraut und weiter unermüdlich unterwegs, konnte die dortige Dynamik, das Chaos und die Kämpfe hautnah verfolgen.
In seinem Lieblingsland Polen entbrannte im Frühjahr 1990 der „Krieg an der Spitze“, in dem sich die Sieger von 1989, die noch am runden Tisch zusammenhielten, unversöhnlich zerstritten. Sie kämpften um die Zukunft ihres Landes und ihren eigenen Platz in der Arena. Ob sie nun Lech Wałęsa, Tadeusz Mazowiecki, Jacek Kuroń oder Lech und Jarosław Kaczyński hießen. Wirtschaftspolitisch drohte sich die marktliberale Schocktherapie des Ökonomen Leszek Balcerowicz durchzusetzen. So viele Rezepte und Strategien diverse Marxisten auch für den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus-Kommunismus auch ersonnen hatten und praktizierten – für das Gegenteil, den Rückbau des Kommunismus existierte keine Blaupause. Zunächst ging der politische Kampf mit einem Etappensieg für die Postkommunisten aus.
Lech und Jarosław, das rechtskonservative Zwillingspaar, welches lange Zeit in der zweiten Reihe agierte, musste noch lange Zeit auf seinen Erfolg warten. Der kam erst mehr als zwei Jahrzehnte später, gründlich und folgenreich.
In Tschechien stand der Held der Opposition Vacław Havel, neuer Staatspräsident, Freund und Vertrauter von Garton Ash dem opportunistischen, wirtschaftsliberalen Vaclav Klaus gegenüber und musste bittere Niederlagen einstecken. Die Bühne des Theaters war ihm vertrauter als manche Niederungen der Politik.
Rumänien und Bulgarien, künftige Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, in denen Garton Ash ebenfalls unterwegs war, erwiesen sich als dauerkorrupte Übergangsgebilde, die lange Zeit weithin unfähig waren, mit der Erblast ihrer kommunistischen Vergangenheit umzugehen.
Eine besondere Überraschung wurde unserem Historiker bereitet, als er 1994 an einer Konferenz in Petersburg teilnahm. Noch waren zahlreiche Hoffnungen auf Boris Jelzin gerichtet. Garton Ash beschreibt, wie dort ein kleiner Mann mit einem unangenehmen, etwas rattenhaften Gesicht auftauchte und sich über den Zerfall und Gebietsverlust des untergegangenen sowjetischen Imperiums ausließ. Man konnte es für postimperialen Trennungsschmerz halten. Noch fehlte Wladimir Putin die endgültige Portion an Willen, Mitteln und Gelegenheiten, um seine Wünsche und Sehnsüchte nach einem neuen, starken und unbezwingbaren Russland, Realität werden zu lassen. Er arbeitete jedoch hartnäckig daran. Garton Ash sollte jeden weiteren Schritt von ihm aufmerksam und illusionslos verfolgen.
Die entscheidende Gefahr, welche in den neunziger Jahren alle mit 1989 verbundenen Hoffnungen zu zerstören drohte, war der Krieg und Völkermord im ehemaligen Jugoslawien, gipfelnd im Massaker von Srebrenica, im Juli 1995.
Garton Ash war an allen Schauplätzen dieses blutigen Geschehens unterwegs und berichtete davon. In seinen Aufzeichnungen finden sich Einträge aus Sarajewo, Zagreb, Belgrad, Pristina und vielen anderen Orten.
Erst 1999, als die von Milosevic verantworteten Angriffe zu einem Völkermord an den Kosovo-Albanern zu werden drohen, schreitet der Westen ein.
Garton Ash beschreibt wie „eine Koalition von Willigen“ aus hartnäckigen und prinzipientreuen Journalisten, Politikern, moralischen Autoritäten wie Vaclav Havel und dem Papst, die vor einem zweiten Bosnien warnen, US-Amerikanische und europäische Entscheidungsträger zum Handeln bewegen. Mit dem Sturz Miloševićs endet dieses schlimmste Kapitel, aber noch lange nicht alle Folgekonflikte.
Es gibt auch deutsche Autoren, die diese Konflikte beschreiben. Aber wenn es um die große europäische Erzählung geht, die damit verbunden ist und immer wieder tief in den Osten des Kontinents reicht, dominieren die Angelsachsen, ob Garton Ash, sein Schüler Timothy Snyder, seine Kollegin Anne Applebaum oder der in Polen fast als Nationalheld gefeierte Historiker Norman Davies. Auch er ein Wanderer zwischen den Welten, dessen Werke Regalmeter in polnischen Buchhandlungen füllen.
„Ach Europa“
Fast eine Ausnahme in Deutschland bildet hier die Reise und Abenteuerlust, das Erzähltalent von Hans Magnus Enzensberger.
In seinem großen Essay aus dem Jahre 1987 „Ach Europa“, der mit einem Epilog aus dem Jahre 2006 abschließt, unternimmt er eine Reise durch sieben europäische Länder, welche er auf unnachahmliche Weise erkundet. Mitten im dortigen Kriegszustand zieht es ihn 1986 ausgerechnet nach Polen. Um Unterstützung dafür suchend, wendet er sich an einen Freund in Wien, weil er der Meinung ist, dass man sich im Zentrum der ehemaligen Habsburger Monarchie im Osten am besten auskennen müsse. Sein Freund fällt vor Überraschung fast um, wie Enzensberger ohne Freunde, ohne Verbindungen, ohne eine Wort Polnisch dort klarkommen will. Gegenüber allen Ostexperten wie seinem Freund, die von Beruf aus allwissend seien, habe er allein seine Neugier und die Bereitschaft sich überraschen zu lassen aufzubieten, entgegnet Enzensberger. Sein Freund schüttelt immer noch mit dem Kopf, stellt ihm aber schließlich einen Guide in Gestalt einer charmanten jungen Polin an die Seite.
Ein wunderbares Reisepanorama von über fünfzig Seiten ist das Ergebnis. Es reicht von Warschau bis in die entfernteste Provinz, führt in die Tiefen und Untiefen der polnischen Seele und die Alltagsprobleme des zerbröckelnden kommunistischen Systems.
Garton Ash hat bereits das erste Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts durchmessen, als er mit dem Tod seines Freundes und Mentors Ralf Dahrendorf konfrontiert wird. Er kann dem deutsch-britischen liberalen Denker noch eine Feier zu dessen 80. Geburtstag ausrichten, als bereits feststeht, das Dahrendorf nur noch sehr kurze Zeit zu leben hat. In dessen Geschichte kreuzen sich die europäischen Totalitarismus-Erfahrungen des 20 Jahrhunderts. Als fünfzehnjähriger Junge erlebt Dahrendorf 1944 ein Gestapo-Gefängnis. Er hatte in der Schule Flugblätter gegen die Nazis verteilt. Sein Vater, Angehöriger des sozialdemokratischen Widerstands, muss nach 1945 mit der Familie aus Ostberlin fliehen, weil er sich als führender SPD-Funktionär der Zwangsvereinigung mit den Kommunisten widersetzt. Noch kurz vor der Flucht versuchte das NKWD, den jugendlichen Ralf zu rekrutieren.
„Betrachtungen über die Revolution in Europa“
Mit allen Erfahrungen ihres eigenen Lebens und der langen Zwischenjahrzehnte sitzen die beiden Intellektuellen im Sommer 2009 zusammen und stellen sich der Frage europäischer Krisen und der eigenen Verantwortung dabei. Sie kommen letztendlich auf den Begriff Hybris. Es war grenzenlose Anmaßung, Hybris, zu glauben, dass die mit 1989 gewonnene individuelle und gesellschaftliche Freiheit allein im Vertrauen auf die Kraft des Marktes zu sichern sei. Soziale Verantwortung und die richtige Verbindung von Freiheit und Gerechtigkeit hintanzustellen, rächte sich bitter. Die Finanzmarktkrise von 2008 zeigte die Hybris eines globalisierten Finanzmarktkapitalismus in Reinform. Liberale wie Garton Ash oder Dahrendorf wurden, ob sie es wollten oder nicht, als Ideologen der Reichen und Mächtigen angesehen.
Im zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts sieht Garton Ash Europa angesichts der neuen Herausforderungen taumeln, aber nicht fallen. Das Vordringen eines militanten Islamismus, der Umgang oder eher Nichtumgang mit der Flüchtlingskrise, der Kampf der Ukrainer um ihren Platz in der Europäischen Union und die mörderische Antwort Russlands – ein Krisenpotential nach dem andern.
Von einer festen Hoffnung, die ihm besonders nahe war, muss der britische Europafreund schmerzhaft Abschied nehmen. Der Hoffnung, dass es den Kräften, die für den Brexit, den Ausstieg seines Vaterlandes aus der Europäischen Union waren und darauf mit Tricks, Methoden von Falschmünzern und billigstem Populismus hinarbeiteten, nicht gelingen würde, sich durchzusetzen. Sie schafften es jedoch und Ende Januar 2022 leitete Großbritannien den Ausstieg ein.
An dieser Stelle wird Garton Ash zum Philosophen und wendet sich mit Henri Bergson gegen die „Illusionen des retrospektiven Determinismus“. Die ebenso verbreitete wie verführerische Versuchung zu glauben, dass das, was tatsächlich passiert ist, irgendwie passieren musste. Er argumentiert dagegen und führt Fakten an.
Das mehr als knappe Ergebnis, das verweigerte Wahlrecht für britische Staatsbürger, die mehr als fünfzehn Jahre im Ausland gelebt haben, die fehlende Möglichkeit für junge Briten zu votieren, wie beim Referendum über die schottische Unabhängigkeit, ein politisches Personal, das sich wirklich dem Kampf für den Verbleib gestellt hätte.
Für Garton Ash musste es nicht zum Brexit kommen und er gibt die Hoffnung auf eine Rückkehr seiner Heimat nicht auf.
Eine andere Hoffnung, an der er mit aller Überzeugungskraft festhält, erfüllt sich kurz nach dem Erscheinen seines Buches. Auf eine andere Weise als Viktor Orbán, aber mit teilweise ähnlichen Methoden versuchten in Polen die rechtskonservative PIS und ihre rechtsradikalen und populistischen Verbündeten die im Herbst 2015 gewonnene Regierungsmacht auf Dauer zu stellen. Sie konnten der polnischen Demokratie schweren Schaden zufügen, den Rechtsstaat einschränken und beschädigen, die Staatsmedien in ihre Propagandainstrumente verwandeln, die Schwäche und Zerstrittenheit der liberalen und linken Opposition nutzen und ihr Zerstörungswerk über acht Jahre fortsetzen. An den Dauererfolg von Viktor Orbán konnten sie nicht anknüpfen und erlitten bei den Wahlen im Oktober 2023 eine entscheidende Niederlage.
Mannigfache Skeptiker in anderen Teilen Europas wollten Polen längst abschreiben. Sie sahen die dauerhafte Allianz von starken Autokraten in Mittelosteuropa, trauten der polnischen Zivilgesellschaft, deren Vertreterinnen und Vertreter immer wieder aufbegehrten, keine wirkliche Kraft und den Vertretern der Oppositionsparteien kein Profil zu.
Anne Applebaum, eine Kollegin Garton Ashs, wie wenige andere mit den polnisch-osteuropäischen Verhältnissen vertraut und Autorin zahlreicher Bücher über diesen Teil des Kontinents, teilte wie er diese Skepsis nicht. Sie sah die Chance, dass Donald Tusk, der langjährige Gegenspieler des rechtskonservativen Lagers und polnischer Ministerpräsident bis 2014 zum Führer einer geeinten Opposition werden könne. Tusk hatte sich bereits vor der Niederlage seiner liberalkonservativen Bürgerplattform im Herbst 2014 zum Präsidenten des Europäischen Rates wählen lassen und betrat damit die europäische Bühne in Brüssel. Viele deuteten das als endgültigen Abschied aus der polnischen Politik, andere sprachen von Absetzen. Keine Schmähung, keine Verleumdung blieb ihm von Seiten seiner polnischen politischen Gegner und Feinde erspart. Was sollte ihn, der auch nach dem Auslaufen seiner Ratspräsidentschaft eine sichere und auskömmliche Zukunft in Brüssel vor sich hatte, in die unsichere Heimat und das Joch einer extremen Herausforderung führen.
Anne Applebaum und Donald Tusk: „Die Wahl“
In einem langen Gesprächsband mit dem schönen Titel „Die Wahl“ sprechen Anne Applebaum und Donald Tusk über alle europäischen Krisen der Gegenwart und den Politikbetrieb in Brüssel. Sie kennt ihn so gut, dass sie nach den privaten Gründen seiner eigenen Wahl für die Zukunft fragen kann. Einer Entscheidung, die im Herbst 2022 fällt. Tusk weiß um seinen eigenen Anteil an der Niederlage der Bürgerplattform, ihre Blindheit für die Arroganz großer Teile der polnischen Eliten und der Oberschicht, für die Abgehängten der Unterklasse und der Hinterwäldler aus der Provinz. Er hat in Brüssel dazu gelernt, ist zu Korrekturen bereit und will nicht der „Reiter auf dem weißen Pferd“ sein, der die Erlösung bringt. Mit den richtigen Partnern kann er es schaffen und der Erfolg gab ihm recht. Polen kann wieder zu einem vollgültigen Rechtsstaat und anerkannten, starken Partner all seiner europäischen Nachbarn werden, selbst wenn es bis dahin noch ein mühsamer Weg ist.
Am Beginn der Europa-Abenteuer von Garton Ash steht ein Zitat aus den Tagebüchern von Leo N. Tolstoi:
Eine wirkliche, wahre Geschichte über das Europa unseres Jahrhunderts zu schreiben. Das wäre ein Ziel fürs ganze Leben.
Eine andere Zeit und ein anderes Europa, das unser britischer Historiker vor sich hat. Seinen Teil an einer solchen Aufgabe versieht er mit Bravour.
Literatur
Anne Applebaum, Donald Tusk: „Wybór”, Wydawnictwo Agora 2022
Timothy Garton Ash: „Ein Jahrhundert wird abgewählt“, Carl Hanser Verlag 1990
Timothy Garton Ash: „Die Akte „Romeo“. Eine persönliche Geschichte“, Carl Hanser Verlag 1997
Timothy Garton Ash: „Europa. Eine persönliche Geschichte“, Carl Hanser Verlag 2023
Ralf Dahrendorf: „Betrachtungen über die Revolution in Europa“, Deutsche Verlags-Anstalt 1990
Hans Magnus Enzensberger: „Ach Europa. Wahrnehmungen aus sieben Ländern“, Suhrkamp Verlag 1987
Geert Mak: „In Europa. Eine Reise durch das 20.Jahrhundert“, Siedler Verlag 2004
Geert Mak: „Große Erwartungen. Auf den Spuren des europäischen Traums (1999–2022)“, Siedler Verlag 2022
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