Nagel­probe für eine gespaltene Gesell­schaft – Italien nach der Wahl

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Der Sieg Melonis zeigt die Entfremdung der italie­ni­schen Politik von ihrer Wähler­schaft. Jenseits von Populismus und Techno­kratie muss die Politik den Diskursraum neu besetzen und langfristige Perspek­tiven bieten.

Wie konnte es dazu kommen? Wie sind Aufstieg und Fall von Silvio Berlusconi möglich gewesen, wie der von Matteo Salvini, von Mario Draghi oder der Fünf-Sterne-Bewegung? Diese Fragen begleiten die italie­nische Politik schon seit Jahrzehnten, stellen sich aber nach der letzten Parla­mentswahl noch einmal in neuer Form: Wie kam es zu dem Aufstieg Giorgia Melonis und was bedeutet dieser für Italien und für Europa?

Am 25. September 2022 konnten die italie­ni­schen Bürge­rinnen und Bürger ihre parla­men­ta­ri­schen Vertre­te­rinnen und Vertreter wählen. Die allge­meine Stimmung rund um diese Wahl war von den Ereig­nissen inter­na­tio­naler Tragweite geprägt, allen voran vom Krieg in der Ukraine und der Corona­pan­demie. Entscheidend ist aber auch, dass es seit der letzten Parla­mentswahl 2018 drei verschiedene Regie­rungen gab, zwei unter Conti und zuletzt die „technische“ Regierung der natio­nalen Einheit unter Draghi. Dies erklärt Melonis Aussage nach der Wahl, dass es wieder an der Zeit sei, dass die Italiener – wobei sie inter­es­san­ter­weise nur die maskuline Form nutzte („gli italiani“) – eine Regierung bekämen, die ihren direkten Wahlent­schei­dungen entspreche.

Die Rechts­ko­alition hat mit 44% der Stimmen die Wahl gewonnen, das Mitte-Links-Bündnis erreichte 26 %, die Fünf-Sterne-Bewegung 15% und der sogenannte „Terzo Polo“ unter Matteo Renzi und Carlo Calenda 8% der Stimmen. Hierbei verdienen zwei Aspekte besondere Aufmerk­samkeit: Einer­seits die kompli­zierte Struktur des Wahlsystems („Rosatellum“), das im Prinzip für stabi­li­täts­stif­tenden Anpas­sungen der Wahler­geb­nisse sorgen soll – unter der Prämisse, dass Insta­bi­lität eine der größten Schwächen der italie­ni­schen Politik ist. Aller­dings entspricht durch dieses System die Zusam­men­setzung des Parla­ments nicht unbedingt dem Verhältnis der abgege­benen Stimmen. Ander­seits verdient aber auch der Begriff „Wähler­schaft“ eine nähere Betrachtung: Nur 64% der Wahlbe­rech­tigten haben ihre Stimme abgegeben – die niedrigste Wahlbe­tei­ligung der italie­ni­schen republi­ka­ni­schen Geschichte. Die Wahler­geb­nisse müssen also auch im Lichte dieser Entfremdung der Bürge­rinnen und Bürger gelesen werden.

Gehen wir zu den anfäng­lichen Fragen zurück und zur Bedeutung der politi­schen Ereig­nisse in Italien für die europäi­schen Nachbar­länder. Italien hatte in nur vier Jahren drei Regie­rungen, die alle vom gleichen Parlament unter­stützt wurden. Noch bemer­kens­werter ist dabei die Diskrepanz zwischen der Politik der Regie­rungen Conte I und II – die unter der populis­ti­schen Schirm­herr­schaft der Fünf-Sterne-Bewegung begannen, welche eine „Wir-sind-das-Volk vs. Eliten“-Opposition propa­gierte – und der der techno­kra­ti­schen Regierung Draghi, bei der die Entschei­dungs­be­fugnis unver­rückbar in den Händen von Exper­tinnen und Experten lag, die aufge­rufen waren, alle Probleme als technische Probleme zu lösen. Die relative Unter­stützung, die – wiewohl aus unter­schied­lichen Gründen – beide Regie­rungen genossen haben, macht es unmöglich, Populismus und Techno­kratie als einander wider­strei­tende und ausschlie­ßende Phänomene anzusehen. Vielmehr ermög­licht sie eine Analyse der Faktoren, die zu dieser Unter­stützung geführt haben. Dazu zählt sicherlich die Rolle, die die Individuen in der Politik spielen oder spielen sollten.

Italien ist ein politisch tief gespal­tenes Land. Die Gründe dafür liegen (auch) in seiner politi­schen Geschichte, in der eine außer­ge­wöhnlich starke republi­ka­nische und demokra­tische Zivil­ge­sell­schaft es ermög­licht hat, selbst die angespann­testen, gewalt­samsten und tragischsten Momente zu bewäl­tigen. Wesent­liche Säulen dieser Gesell­schaft waren Vermitt­lungs­in­stanzen, etwa Gewerk­schaften oder politische Parteien, die diese Vermitt­lungs­rolle zwischen Zivil­ge­sell­schaft und Politik jedoch heutzutage nicht mehr wahrnehmen. Ohne diese Vermittlung sind die Mitglieder der Zivil­ge­sell­schaft isoliert. Für viele bedeutete diese Isolierung aller­dings keineswegs politische Passi­vität: Soziales Engagement und Lokal­po­litik sind Erfah­rungen, an denen es den Bürge­rinnen und Bürgern Italiens nicht mangelt. Das bedeutet jedoch keines­falls, dass diese Menschen sich nicht schwertun würden, Parteien zu finden, von denen sie sich reprä­sen­tiert fühlen. Und während das schon im konser­va­tiven Feld durch das Fehlen einer ernst­zu­neh­menden liberal-konser­va­tiven Partei der Fall ist, gilt es umso mehr für die links-progressive Seite, die von jeher durch ständig wieder­keh­rende Spaltungen geprägt ist. Während also die konser­vative Wähler­schaft kein passendes politi­sches Programm findet, haben die Progres­siven eher zu viele Angebote. Seit Jahren kämpfen die progres­siven Kräfte Italiens mit dieser Situation, und trotzdem tauchen bei jeder Wahl neue politi­schen Parteien auf und versprechen, der Kataly­sator der Linken oder zumindest der Progres­siven zu sein – aller­dings ohne Erfolg. Ein Teil der Zivil­ge­sell­schaft entscheidet sich also besten­falls aus ehema­ligen Überzeu­gungen, im schlech­teren Fall aus Gewohnheit für die eine oder andere der tradi­tio­nellen Parteien. Ein anderer Teil zieht sich in die Wahlent­haltung zurück und wieder andere schließen sich populis­ti­schen und techno­kra­ti­schen Positionen an, die genau in dieser abgehängten, poten­ti­ellen Wähler­schaft Unter­stützung finden, deren politische Passi­vität sie zugleich mit ihrer Art, Politik zu betreiben, kreieren und fördern.

Die geringe Wahlbe­tei­ligung und die bislang wenig erfolg­reichen Versuche, die Reprä­sen­ta­ti­vität und Legiti­mität des demokra­ti­schen Systems wieder stärken, ohne dabei die Politik allein den populis­ti­schen und techno­kra­ti­schen, das demokra­tische System von innen aushöh­lenden Strömungen zu überlassen, sind Probleme, die dringend nach einer Lösung verlangen. Entscheidend ist auch die Frage, wieso die Wähle­rinnen und Wähler sich dafür entschieden haben, einer Partei wie der Fratelli d’Italia ihre Stimme zu geben, obwohl diese offen­kundig faschis­tische Wurzeln hat.

Hier drückt sich zweifellos eine immer unver­hoh­lener geäußerte Fremden­feind­lichkeit aus. Lega und Fratelli d’Italia setzten in der Flücht­lings­po­litik auf Grenz­schlie­ßungen, nach dem Motto „prima gli italiani“ („Italiener zuerst“), und auf eine tradi­tio­nelle bzw. konser­vative oder sogar regressive Vision der Gesell­schaft, die eine Gleich­be­rech­tigung von Minder­heiten und eine recht­liche Anerkennung aller Bürge­rinnen und Bürger, also auch derje­nigen, die aus unter­schied­lichen Gründen – etwa ihre Sexua­lität oder Herkunft – Diskri­mi­nierung ausge­setzt sind, ablehnt.

Als politi­sches Phänomen lässt sich diese Fremden­feind­lichkeit (auch) auf eine Unfähigkeit der Progres­siven zurück­führen, einen öffent­lichen Diskurs zu entwi­ckeln und zu führen, in der diese Themen debat­tiert werden, ohne die damit einher­ge­henden Heraus­for­de­rungen und Schwie­rig­keiten zu verschweigen. Darüber hinaus fehlt es auch an der Fähigkeit, glaubhaft zu vermitteln, dass soziale Gerech­tigkeit gegenüber dem Kampf um Bürger­rechte nicht in Verges­senheit gerät. Dieses Gefühl, das vor allem die wirtschaftlich schwächsten Bürge­rinnen und Bürger verspüren, wird verstärkt durch eine manich­äische Einstellung, die auf einer Freund-Feind-Dicho­tomie basiert und einen Sündenbock für die unbestreitbar vorhan­denen gegen­wär­tigen Probleme sucht. Was weder die Populisten mit ihrer Einstellung gegenüber den Eliten noch die Techno­kraten mit ihrem Verhältnis zu den „Laien“ erreicht haben – nämlich eine Lösung der gravie­renden Alltags­pro­bleme – wird jetzt durch eine Strategie der Fremden­feind­lichkeit versucht. Für Europa steht zu befürchten, dass damit eine Änderung der italie­ni­schen Europa­po­litik einher­gehen wird – eine Änderung, die vielleicht in Richtung Ungarn geht.

Meloni, die die nächste italie­nische Regierung aller Wahrschein­lichkeit nach führen wird und deren Amtsan­tritt im November – nach der Amtsein­setzung des Parla­ments am 13. Oktober – statt­finden dürfte, hat zwar die Nähe Italiens zur NATO und zur EU bekräftigt. Aller­dings entspricht die Haltung der Fratelli d’Italia zu Europa nicht der Europa­po­litik, die Italien bisher vertreten hat. Es steht auch zu befürchten, dass die bei dieser Wahl zutage getretene Dominanz der Parti­ku­lar­in­ter­essen auch auf natio­naler Ebene Fuß fassen könnte und so das bereits geschwächte – und sicherlich unter vielen Gesichts­punkten auch kriti­sierbare und verbes­se­rungs­fähige – europäische, gemeinsame Projekt weiter desta­bi­li­sieren könnte.

In den Wahler­geb­nissen zeigt sich die Schwäche des italie­ni­schen politi­schen Systems der letzten Jahre, die Gründe dafür liegen in der Banali­sierung und Kurzfris­tigkeit der Politik, ein Phänomen, das seit den achtziger Jahren die italie­nische Demokratie erodiert. Die Ergeb­nisse sind auch sympto­ma­tisch für eine Gesell­schaft, die sich abschotten will und den anderen als Feind sieht. Eine Gesell­schaft, in der einige Menschen wichtiger als andere sind und eine Gesell­schaft, die auf eine zumindest fragwürdige, wenn nicht gar verach­tens­werte Vergan­genheit mit Stolz zurück­blicken will.

Die zentrale Frage bleibt zum einen, ob die krisen­er­probte und histo­risch starke italie­nische Zivil­ge­sell­schaft auch die Nagel­probe dieser schwie­rigen Zeit übersteht und die regres­siven Strömungen zurück­drängt. Noch wichtiger ist aller­dings, dass die italie­ni­schen Politi­ke­rinnen und Politiker zukünftig ihrer kompli­zierten, aber notwen­digen Vermitt­ler­rolle gerecht werden und den Wähle­rinnen und Wählern eine gemeinsame langfristige Perspektive bieten, anstatt auf kurzfristige Macht­aus­übung zu setzen.

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