„Globalisierung und demokratische Regression“
[youtube https://youtu.be/-9vXLSFv4Nk]
Die Ursache für die demokratische Regression liegt in der Demokratie selbst, die es nicht geschafft hat, sich an die Globalisierung anzupassen, schreibt Michael Zürn im Sammelband „Liberalismus neu denken“.
Wir haben Michael Zürn gebeten, eine Kernaussage seines Beitrages zum Sammelband „Liberalismus neu denken“ im Videointerview zu erläutern: „Der gegenwärtige Rückzug der Demokratie scheint mehr als nur eine vorübergehende Erscheinung.“
„Globalisierung und demokratische Regression“
Michael Zürn
Die Globalisierung hat zum vorübergehenden Triumph der Demokratie geführt. Sie brachte die Abschottungsstrategie der sozialistischen Welt von der Dynamik kapitalistischer und demokratischer Gesellschaften zum Scheitern. Sie erhöhte den Erneuerungsdruck in diesen Gesellschaften und brachte sie letztlich zum Einstürzen. Ohne Globalisierung hätte es kein 1989 gegeben.
Die Globalisierung hat aber gleichzeitig erst die neuen Gegner der liberalen Demokratie hervorgebracht und gestärkt. Sie hat zum einen durch den Export von Kapital und Wissen zur ökonomischen Dynamisierung von Regionen geführt, die angesichts der Herausforderungen der nachholenden Entwicklung lange Zeit scheiterten. Vor allem Ostasien hat von der Globalisierung profitiert und einen eigenen Weg in die wohlhabende Moderne gefunden. Zunächst konnte dieser Prozess in Gesellschaften beobachtet werden, die sich im Zuge ihrer ökonomischen Dynamik auch demokratisierten. Nach 1989 bewies aber insbesondere China, dass es keinen engen Zusammenhang zwischen erfolgreicher kapitalistischer Entwicklung und Demokratie zu geben braucht. Die Globalisierung ermöglichte also auch die Erfolgsgeschichte eines autokratischen politischen Systems wie China. Spätestens seit der Finanzkrise erwächst der liberalen Demokratie westlicher Provenienz eine ordnungspolitische Konkurrenz, die im Gegensatz zum real existierenden Sozialismus beides ist: anders und erfolgreich.
Globalisierung hat auch die neuen Gegner der liberalen Demokratie hervorgebracht
Sie ist anders, weil sie die Entfaltung ökonomischer Marktdynamiken explizit nicht an die Institutionen der liberalen Demokratie koppelt und damit die scheinbar unauflösbare Verbindung von Markt und Demokratie infrage stellt. Sie ist erfolgreich, weil sich die autoritär regierenden Eliten in Ländern wie China und Singapur nicht ohne Weiteres als eigensüchtige Despoten abtun lassen. Ihre Politik hat eine erkennbare Gemeinwohlkomponente und kann dabei auf erhebliche Fortschritte insbesondere bei der Armutsbekämpfung verweisen. Aber auch bei der Pandemiebekämpfung haben sie sich als erfolgreicher erwiesen als die westeuropäischen und nordamerikanischen Länder. Diese Staaten zeigen, dass gesellschaftlicher Fortschritt möglich ist ─ und dies ohne die demokratische Kontrolle der Machthabenden und der Garantie von Individualrechten, verbunden mit weitreichenden Überwachungs- und Belohnungssystemen. Damit wird die insbesondere nach 1989 vertretene Vorstellung von der Alternativlosigkeit der liberalen Demokratie untergraben. Wenn China heute in Teilen des Globalen Südens als ordnungspolitische Alternative gesehen wird, dann ist die Frage nach der richtigen politischen Ordnung wieder auf der globalen Tagesordnung.
Rasanter Wandel hat die Gegner der liberalen Demokratie gestärkt
Die Globalisierung hat zudem auch die inneren Gegner der liberalen Demokratie gestärkt. Sie führte innerhalb der westlichen Welt zu einer dramatischen Zunahme an kultureller Diversität, zu wachsender ökonomischer Ungleichheit und zur Entfremdung von Teilen der Bevölkerung von einer als abgehoben wahrgenommen politischen Klasse. Das sind die Entwicklungen, die den Aufstieg der Populisten möglich gemacht haben. Damit sind die Parteien und politischen Bewegungen gemeint, die für sich reklamieren der einfachen Bevölkerung im Namen der Demokratie wieder eine Stimme zu verleihen, aber gleichzeitig eine grundlegende Gefahr für die liberale Demokratie darstellen. Der gegenwärtige Populismus ist nämlich vorrangig ein autoritärer Populismus. Es handelt sich um eine politische Ideologie, die auf eine entprozeduralisierte Form der Mehrheitsrepräsentation baut und sich nationalistisch gegen »liberale kosmopolitische Eliten« wendet. Der Topos our nation first bringt den Nationalismus zum Ausdruck. Die Entprozeduralisierung verweist auf die Ablehnung des demokratischen Streites über das, was richtig ist. Es muss nicht ausgehandelt werden, was das Richtige ist. Es steht fest. »Er weiß, was wir wollen« stand auf einem Wahlplakat der Freiheitlichen Partei Österreichs mit Blick auf H.C. Strache.
Autoritär-populistische Parteien haben in fast allen liberalen Demokratien in Westeuropa ein Wählerpotential von circa 20 Prozent der Stimmen. Viel wichtiger noch: Ein erheblicher Anteil der Weltbevölkerung wird von autoritären Populisten regiert. Die bekanntesten Namen sind: Jair Bolsonaro, Recep Tayyip Erdoğan, Lech Kaczyński, Nicolás Maduro, Narendra Modi, Viktor Orbán, Wladimir Putin und bis vor kurzem allen voran Donald J. Trump. Das sind fast alles große Länder, was den autoritären Populismus so wirkmächtig für die internationale Ordnung macht. Der autoritäre Populismus hat sich in relativ kurzer Zeit global ausgebreitet.
Der autoritäre Populismus ist global verbreitet
Dort wo die autoritären Populisten an die Macht gekommen sind, erleben wir ein democratic backsliding. In all den acht angesprochenen Ländern (Brasilien, Türkei, Polen, Venezuela, Indien, Ungarn, Russland und den USA) zeigt das Göteborger Demokratiebarometer V‑Dem deutliche Verschlechterungen in der Demokratiequalität. Dabei hat sich die Qualität der demokratischen Regierungsform auch in vermeintlich konsolidierten Demokratien verschlechtert. War der Verfall der Demokratie lange Zeit etwas, das aus der Perspektive von Westeuropäerinnen nur in fernen Ländern stattfand, kommen die Einschläge nun näher. Nicht nur in Venezuela oder Brasilien, sondern auch in den USA und Polen hat sich die Demokratie in den letzten zehn Jahren deutlich verschlechtert. In manchen dieser Länder besteht die Hoffnung, dass ein Regierungswechsel eine Trendumkehr bringen wird; wo aber die liberale Demokratie bereits durch eine elektorale Autokratie ersetzt worden ist, wird auch die Abwahl der Regierung immer unwahrscheinlicher.
Entscheidend für die weitverbreitete Entfremdung von der Demokratie sind Veränderungen in der Funktionsweise der Demokratie. Die bisherige Diskussion hat stark auf die ökonomischen und kulturellen Ursachen des autoritären Populismus abgehoben. Zwar spielt sicherlich die wachsende Ungleichheit in den reichen Ländern eine Rolle und zum Teil lässt sich auch ein kultureller backlash beobachten, zentral ist jedoch die politische Frage. Ökonomische und auch kulturelle Erklärungen gehen davon aus, dass die Menschen mit spezifischen Politiken unzufrieden sind und sich deshalb den autoritär-populistischen Parteien zuwenden. Umfragen zeigen aber, dass der Unzufriedenheit zumeist eine Systemkritik an der politischen Klasse und den etablierten Volksparteien zugrunde liegt. Die ökonomische Zufriedenheit ist hingegen relativ hoch und die Gleichstellungspolitiken finden eine breite Unterstützung.
Menschen fühlen sich in der Demokratie nicht mehr wahrgenommen
Die politische Erklärung besagt, dass es die Unzufriedenheit mit dem politischen System ist, die von den autoritären Populisten für ihre Zwecke instrumentalisiert wird. Zum einen fühlen sich viele Menschen durch ihre Parlamente nicht angemessen repräsentiert. Die Abgeordneten werden als professionalisierte politische Klasse wahrgenommen, die in einer Blase, abgehoben von den Interessen der Wählerinnen und Wähler agiert. Zum anderen wurden in den letzten drei Jahrzehnten in beachtlichem Ausmaß Entscheidungskompetenzen von Mehrheitsinstitutionen (MIs), wie Parteien und Parlamenten, hin zu nichtmajoritären Institutionen (NMIs) wie Zentralbanken, Verfassungsgerichten und internationalen Institutionen verlagert. Entscheidungen werden zunehmend von Institutionen getroffen, die weder dem Mehrheitsprinzip noch den Rechenschaftspflichten repräsentativer Gremien unterliegen. Der Zweck vieler NMIs besteht darin, den dreifachen Liberalismus aus individuellen Rechten, internationalen Regeln und offenen Märkten durchzusetzen.
Vor dem Hintergrund dieser beiden Mechanismen entsteht offensichtlich bei vielen Menschen der Eindruck, sie wären aus dem Blick der Politik geraten – und diese Wahrnehmung hat eine reale Grundlage. Nicht alle Gruppen haben die gleiche Chance, dass ihre Anliegen gehört und politisch umgesetzt werden. Dabei konnte sich die Vorstellung ausbreiten, es gebe eine homogene politische Klasse, die abgehoben von der Bevölkerung ihr Ding macht und dabei den Interessen einer verwöhnten und tendenziell korrupten kosmopolitischen Schicht dient. Dementsprechend scheinen die meisten autoritär-populistischen Kampagnen auch nicht konkrete ökonomische oder kulturelle Politiken zu kritisieren, sondern das System, das sie hervorbringt, also die »Systemparteien«, das »links-rot-grün versiffte System« und die gesamte politische Klasse, allen voran das erklärte Feindbild Angela Merkel.
Der gegenwärtige Rückzug der Demokratie scheint mehr als nur eine vorübergehende Erscheinung. Die optimistische Erzählung, wonach sich die Demokratie in Wellen ausbreitet, zwischen denen lediglich kurze Perioden partieller Rückschritte liegen, deckt sich kaum mit der tatsächlichen Entwicklung. Vielmehr hat sich im Nachhinein vor allem die Zeit von 1945 bis zum Ende des 20. Jahrhundert als eine Phase der weltweiten Demokratisierung erwiesen. Dieses halbe Jahrhundert war allerdings durch positive Rahmenbedingungen gekennzeichnet, die heute nicht in derselben Weise bestehen. Die demokratische Progression war weniger das Resultat einer unausweichlichen Fortschrittslogik, sondern vielmehr einer spezifischen historischen Konstellation geschuldet. Die Veränderung dieser besonderen Umstände ermöglicht nun die demokratische Regression. Gesellschaften gleiten nicht auf einer vorgezeichneten Trasse auf die liberale Demokratie zu, sondern entwickeln sich durch politische Konflikte und Kämpfe um die Ausweitung sozialer und demokratischer Rechte – und diese Konflikte können die Fahrt nicht nur verlangsamen, sondern auch zu einem Wechsel des Zielbahnhofs führen.
Ein neuer Liberalismus muss vor allem versöhnen
Ein neuer Liberalismus muss Kosmopolitismus und Demokratie institutionell miteinander versöhnen, um wieder auf die richtige Spur zu kommen. Es bedarf realer Veränderungen in unserer Demokratie, um dem Erfolg der autoritären Populistinnen etwas entgegenzusetzen. Der exklusive Blick auf die Merkmale und Strategien der Gegner führt nur zur Reproduktion des Freund-Feind-Denkens. Er nimmt uns die Einsicht in die zentralen Fragen, die wir uns stellen müssen, um dem autoritären Populismus die Grundlage zu entziehen: Wie können wir das Repräsentationsproblem lösen? Wie können wir nichtmajoritäre Institutionen so reformieren, dass sie responsiver werden und weiterhin gute Ergebnisse in einer komplexen, globalisierten und pluralisierten Welt erzielen? Vereinfachte Lösungen, die darauf abzielen die institutionellen Grundlagen der Demokratie zu re-nationalisieren und homogenisieren, wie dies die autoritären Populisten fordern, greifen in einer globalisierten Welt zu kurz. Was also tun? Die Antwort eines neuen Liberalismus muss sein: Mehr Demokratie wagen und für die Komplexitätstoleranz in unserer Gesellschaft werben.
Der Beitrag beruht auf einer breit angelegten Untersuchung, die unter dem Titel »Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus« erschienen ist (Schäfer, A., Zürn, M.: Die demokratische Regression. Die politischen Ursachen des autoritären Populismus, Berlin: Suhrkamp 2021).
Hat Ihnen unser Beitrag gefallen? Dann spenden Sie doch einfach und bequem über unser Spendentool. Sie unterstützen damit die publizistische Arbeit von LibMod.
Spenden mit Bankeinzug
Spenden mit PayPal
Wir sind als gemeinnützig anerkannt, entsprechend sind Spenden steuerlich absetzbar. Für eine Spendenbescheinigung (nötig bei einem Betrag über 200 EUR), senden Sie Ihre Adressdaten bitte an finanzen@libmod.de
Verwandte Themen
Newsletter bestellen
Mit dem LibMod-Newsletter erhalten Sie regelmäßig Neuigkeiten zu unseren Themen in Ihr Postfach.